Читать книгу Einführung in die Tierethik - Philipp Bode - Страница 10

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3.Ethische Grundbegriffe

3.1Deontologische und utilitaristische Ethik

Stellen Sie sich vor, Sie stünden bei einem Spaziergang plötzlich vor einer Weiche. Schnell wird Ihnen klar, dass Sie unvermittelt in eine dramatische Situation geraten sind: Von rechts fährt ein (leerer) Zug mit hoher Geschwindigkeit auf fünf Ihnen völlig unbekannte Gleisarbeiter zu, die sich weiter links von Ihnen befinden. Sofern nichts geschieht, wird der Zug diese fünf Personen erfassen und töten, sie stehen viel zu weit weg, um von Ihnen noch rechtzeitig gewarnt zu werden. Die Weiche aber, vor der Sie stehen, versetzt Sie durch einfaches Umlegen eines Hebels in die Lage, den Zug auf ein Nebengleis umzulenken und die fünf Personen zu verschonen. Unglücklicherweise befindet sich auf diesem Nebengleich ebenfalls eine Ihnen völlig unbekannte Person, die Gleisarbeiten nachgeht. Sie haben nun die Wahl: Entweder legen Sie die Weiche nicht um, dann wird der Zug die fünf Personen erfassen und töten. Oder Sie legen die Weiche um, dann wird der Zug die eine Person auf dem Nebengleis erfassen und töten. Die Frage nun lautet: Was werden Sie tun?

Dieses Gedankenexperiment stammt in seiner Grundidee von der britischen Philosophin PHILIPPA FOOT (vgl. Foot 1967) und nennt sich Trolley-Problem (von engl. trolley, ‚Straßenbahn‘). Dieses Dilemma (ein Dilemma bezeichnet eine Situation, in der zwei Entscheidungswege offen stehen, die beide ein unerwünschtes Resultat zur Folge haben) eröffnet im Kern zwei Handlungsalternativen:

(1) Eine erste Option wäre, ein Eingreifen dadurch zu rechtfertigen, dass diese Handlung mehr Menschen nützt, als würde man die Weiche unberührt lassen. In einem Fall profitieren fünf Menschen von der Handlung, im anderen Fall ‚bloß‘ einer. Der Gesamtnutzen für die fünf Gleisarbeiter – die Rettung ihrer Leben – würde nach dieser Argumentation den Nutzen für den Einzelnen – die Rettung seines Lebens – übersteigen und die Tat moralisch rechtfertigen.

(2) Eine zweite Option wäre, zu behaupten, es sei tatsächlich irrelevant was man tue. Und zwar deshalb, weil jeder ‚gleich zähle‘ und einen unverletzlichen Eigenwert besitze, ein unveräußerliches Recht auf Leben. Und das wiederum bedeutet, dass kein Menschenleben zugunsten anderer Interessen, egal um wie viele andere Menschen es geht, geopfert werden darf. Und ein moralisches Recht legt uns die Pflicht auf, dieses Recht zu respektieren. Doch wenn es nicht möglich ist, Menschenleben zu ‚zählen‘, wie Option (1) es tut, dann ist es egal, was wir tun. Dann gibt es keine bessere und keine schlechtere Handlungsoption, egal wie viele Menschen sich in dem Szenario auf den Gleisen befinden.

Diese Unterscheidung wird noch einmal deutlicher, wenn wir das Szenario erweitern. Dies hat die US-amerikanische Philosophin JUDITH JARVIS THOMSON getan (vgl. Thomson 1976). Es ist als das ‚Dicke-Mann-Problem‘ bekannt und geht in etwa so: Angenommen, Sie stehen auf einer Brücke, die über Gleise führt, eigentlich nur, um den Ausblick zu genießen, und sehen von dort oben das Ihnen bekannte Dilemma mit dem Zug und den fünf Gleisarbeitern, die, sofern kein Wunder geschieht, von dem Zug erfasst und getötet werden. Nun stehen Sie aber nicht allein dort oben, neben Ihnen bemerken Sie einen sehr dicken Mann, der ebenfalls die Überführung zur Aussicht nutzen möchte. Ihnen wird sofort klar: Der Mann wäre dick genug, den Zug zum Entgleisen zu bringen. Sie müssten ihn allerdings von der Brücke stoßen und er würde dabei sterben. Auch hier stellt sich die Frage: Was werden Sie tun?

Diese beiden Szenarien unterscheiden sich in einem sehr bedeutungsschweren Punkt. Sollten wir die Weiche umstellen, dann deswegen, weil wir die fünf Gleisarbeiter retten möchten. Dass der einzelne Gleisarbeiter in der Folge sterben wird, ist weder unsere Absicht noch unser Ziel. Es ist wirklich bedauerlich und unerwünscht, aber unausweichlich, einfach weil es diesen einen Gleisarbeiter auf dem Nebengleis gibt. Kurz gesagt: Wir wären gezwungen, den Tod des einen Gleisarbeiters in Kauf zu nehmen.

Doch der Tod des dicken Mannes ist kein unausweichliches In-Kauf-Nehmen. Sein Tod wird vielmehr gebraucht zur Rettung der fünf Gleisarbeiter. Wenn er den Zug zum Entgleisen bringen soll und dafür mit seinem Leben zu bezahlen hat, dann ist sein Tod kausal notwendig für die Rettung. Oder anders: Der dicke Mann muss erst sterben, damit die fünf Gleisarbeiter gerettet werden können. Der Tod des dicken Mannes wird also nicht lediglich in Kauf genommen, sondern herbeigeführt. Und an einer aktiven Herbeiführung ist nichts Unausweichliches mehr.

Das ‚Trolley‘- und das ‚Fetter-Mann-Problem‘ eignen sich gut, um auf einen fundamentalen Unterschied in der moralischen Begründung von Handlungen aufmerksam zu machen. Der Unterschied besteht in der Frage, ob man den Folgen einer Tat – Option (1) – oder der Tat selbst – Option (2) – mehr Gewicht beimisst.

Eine Ethik, welche sich auf die Bewertung der Tat selbst stützt, nennt man eine deontologische Ethik. Im Begriff Deontologie steckt das griechische Wort δέον(deon), ‚die Pflicht‘, und wird daher auch Pflichtethik genannt. Die Deontologie bezeichnet eine Klasse von ethischen Theorien, die Handlungen unabhängig von ihren Folgen bewerten, weil sie aus sich selbst heraus oder um ihrer selbst willen gut oder schlecht sind.

Entscheidend für die Bewertung dieser Handlungen ist, ob sie einer verpflichtenden Regel entsprechen und ob sie aufgrund dieser Verpflichtung begangen werden. Deontologische Ethiken arbeiten daher für gewöhnlich mit moralischen Ge- und Verboten („Du sollst …“, „Du sollst nicht …“). Wenn Option (2) also das Stoßen des dicken Mannes mit dem Hinweis darauf ablehnt, dies verstoße klar gegen eine moralische Pflicht, nämlich die Pflicht, das Recht auf Leben eines anderen Menschen zu achten, dann steht dahinter ein Verbot, welches das Töten von Menschen grundsätzlich untersagt. Insofern ist es für den Deontologen unerheblich, ob fünf, fünfhundert oder fünf Millionen Menschen auf den Gleisen sterben, der dicke Mann darf nicht getötet werden.

In diesem Zusammenhang wird gern der Kategorische Imperativ des deutschen Philosophen IMMANUEL KANT (1724–1804) herangezogen: Gebrauchet einen anderen Menschen nie nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich (vgl. Kant 1968). Das bedeutet, dass ich bei allen zwischenmenschlichen Handlungen darauf Acht zu geben habe, dass ich einen anderen Menschen nicht nur instrumentalisiere. Ich sage ‚nicht nur‘, weil ich etwa einen Arzt natürlich ‚gebrauche‘, er soll mir ja beispielsweise Schmerzen nehmen. Ich habe ihn aber zugleich um seiner selbst Willen und damit seinen Eigenwert zu achten und darf ihn nicht bloß als Mittel zum Zweck verstehen.

Neben der Pflichtethik gibt es ein zweites großes ethisches Theoriegebäude, jenes des Konsequentialismus. Dieser richtet sich nicht nach einem der Tat innewohnenden Wert aus, sondern nach ihren Konsequenzen. Und wenn mit Blick auf Konsequenzen insbesondere der Nutzen im Fokus steht, spricht man vom Utilitarismus (von lat. utilitas, ‚Nutzen‘). Dieser ist eine Form der Ethik, wonach eine Tat dann moralisch geboten ist, wenn ihre Folgen das größtmögliche Glück (Nutzen, Wohlbefinden) für alle an der Tat Beteiligten herbeiführt. Der Utilitarismus denkt additiv, es ist quasi ein Summenspiel.

Ein Utilitarist müsste, nach unserer bisherigen groben Definition, das Umstellen der Weiche befürworten, da mit dieser Handlung die Zahl der vor dem Tod bewahrten Menschen größer wird. Er müsste mit derselben Begründung allerdings auch das Stoßen des fetten Mannes befürworten, da die Summe der damit vor dem Tod bewahrten Menschen identisch wäre. Der Tod weniger Menschen dürfte also zugunsten der Rettung vieler Menschen in Kauf genommen, unter Umständen (wenn auch nicht immer) sogar herbeigeführt werden.

3.2Positive und negative Pflichten

Ein Deontologe indes kann zumindest nicht ohne weiteres aus dem ‚Weichen-Dilemma‘ ausbrechen. Er sieht sich mit zwei konkurrierenden Pflichten konfrontiert: Auf der einen Seite gibt es positive Pflichten, auch Hilfspflichten genannt. Sie benennen Handlungen, die wir auszuführen haben. Manche Philosophen benennen positive Hilfspflichten als solche, die wir anderen Menschen in Not schuldig sind – wohlbemerkt nur in Not, nicht als pure Wohltätigkeit (vgl. Höffe 2001, 18; Mieth 2012, 120–122). Wenn wir etwa vor uns jemanden in einem See sehen, der zu ertrinken droht, und wir ohne weiteres zur Hilfe fähig sind, dann besagt die positive Pflicht, dass wir diesem Menschen zu helfen haben. Auf der anderen Seite stehen die negativen Pflichten, auch Unterlassungspflichten genannt. Sie benennen Dinge, die wir nicht tun dürfen, also zu unterlassen haben. Das trifft insbesondere auf Schadensvermeidung zu. Ein moralisches Recht auf Unversehrtheit etwa impliziert die negative Pflicht, keinem Leben zu schaden.

Nun sehen wir, dass im ‚Fetter-Mann-Dilemma‘ diese zwei Pflichten kollidieren: Auf der einen Seite steht die positive Pflicht, die Gleisarbeiter zu retten. Auf der anderen Seite steht die negative Pflicht, niemandem zu schaden, folglich auch nicht dem Gleisarbeiter auf dem Nebengleis.

Was also soll jemand tun, der in solcher Art zwischen zwei Pflichten gestellt wird? Hierzu hat die deontologische Ethik einen Lösungsvorschlag entwickelt. Er besteht in dem Versuch, Pflichten zu hierarchisieren. Tatsächlich entspricht es einem gewissen Konsens in weiten Teilen der Ethik, negativen Pflichten vor positiven ein stärkeres Gewicht einzuräumen. Eine mögliche Begründung könnte darin bestehen, dass Handlungen auch von ihrer Zumutbarkeit abhängen. Positive Pflichten sind solche, die uns nicht unter allen Umständen zur Handlung verpflichten – die Pflicht zu helfen etwa kann nur dann von uns eingefordert werden, wenn wir dieser Pflicht auch tatsächlich nachkommen können. Von einem Rollstuhlfahrer zu verlangen, er möge einen Ertrinkenden retten, wäre zu viel verlangt, unabhängig davon, ob er gern helfen möchte.

Wenn wir Pflichten aber nach den zugrunde liegenden zumutbaren Bedingungen hierarchisieren, ist es durchaus sinnvoll, von allen Anwesenden zu verlangen, einen Ertrinkenden zu retten. Sollte indes ein Rettungsschwimmer unter den Anwesenden sein, hätte dieser einen Vorrang – genau genommen sogar einen doppelten: Er selbst brächte sich weniger in Gefahr als alle anderen und die Erfolgsaussichten wären um ein Vielfaches höher, als würde jemand anderes zur Rettung ins Wasser springen. Sofern wir also selbst nicht der Rettungsschwimmer sind, wäre unsere negative Pflicht, etwas nicht zu tun (und somit nicht die Rettung zu versuchen), der positiven Pflicht, etwas zu tun (die Rettung selbst zu versuchen), vorgeordnet.

Eine solche Hierarchisierung könnte dem Deontologen im Weichen-Dilemma helfen: Die stärkere negative Pflicht, die Weiche nicht umzustellen und damit niemandem zu schaden, überwiegt die schwächere positive Pflicht, die Weiche umzustellen und damit die fünf Personen zu retten.

Mit diesen Skizzen können wir die Einführung in die zentralen ethischen Grundbegriffe abschließen. Alle weiteren für unseren Zusammenhang wichtigen Begriffe werde ich an entsprechender Stelle vorstellen.

Einführung in die Tierethik

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