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2.Grundpositionen der Tierethik

2.1Positionen theoretischer Tierethiken

Mit den theoretischen Elementen der Tierethik sind jene gemeint, die für unseren tatsächlichen Umgang mit Tieren den systematischen theoretischen Unterbau ausformulieren. Sie befassen sich in der Hauptsache mit vier Fragen: Welche Dinge auf dieser Welt sind überhaupt moralisch von Belang? (→ Kap. 2.1.2, S. 20) Welche Eigenschaften muss ein Lebewesen aufweisen, um moralische Berücksichtigung zu verdienen? (→ Kap. 2.1.3, S. 22) In welcher Form kann die Aufnahme in die moralische Gemeinschaft vorgenommen werden? (→ Kap. 2.1.4, S. 23) Und schließlich: Wie lassen sich menschliche und tierliche Belange moralisch gewichten? (→ Kap. 2.1.5, S. 25)

Dies sind die Fragen, die diese Einführung prägen, an ihnen orientiere ich mich in der Folge. Die in Kap. 2.2, S. 27 vorgestellten Positionen praktischer Tierethiken befassen sich mit den konkreten gesetzlichen Handlungsanleitungen oder Handlungsforderungen, die aus einer Theorie folgen. Sie dienen in dieser Einführung aber zuvorderst der Vollständigkeit und werden nur vereinzelt wieder aufgegriffen. Praktische Aspekte werden insbesondere dann bedeutsam, wenn sich die Tierethik im Detail den Anwendungsfragen zuwendet (Massentierhaltung, Tierversuche, Tiere zu Forschungs- oder Unterhaltungszwecken etc.). Nicht jede Tierethik bietet allerdings ausgearbeitete Konsequenzen der eigenen Theorie an. Folglich kann und will diese Einführung in die Details der Praxis aber nur bei Bedarf eintauchen. Ihr Ziel ist vielmehr die systematische Entfaltung tierethischer Positionen und diese organisiert sich entlang der im Folgenden skizzierten vier Fragestellungen. Dort, wo sich theoretische Tierethiken indes deutlich zu praktischen Konsequenzen positionieren, lassen sie sich in aller Regel einer der vier praktischen Tierethiken zuordnen.

2.1.1Anthropologische Differenz

Aus tierethischer Sicht gab es einmal eine Zeit, in der die Mensch-Tier-Beziehung relativ einfach organisiert war. Dort herrschte, zumindest in westlichen Traditionen, lange die Überzeugung vor, es gäbe eine klare Grenze zwischen den Menschen (also uns) und den Tieren (den anderen). Begründet wurde diese Grenze mit dem Verweis auf bestimmte Eigenschaften bzw. Fähigkeiten, die der Mensch dem Tier voraushabe, und die eine asymmetrische moralische Hierarchie rechtfertigten, sprich: die den Menschen wertvoller machten als das Tier und damit die Nutzung von Tieren zu menschlichen Zwecken moralisch zulasse.

Die traditionellen Kandidaten für derart ausschlaggebende Eigenschaften bzw. Fähigkeiten waren für gewöhnlich Werkzeuggebrauch, Sprachvermögen, Selbstbewusstsein, die Fähigkeit zu moralischem Handeln und immer wieder die Rationalität. Insbesondere die Rationalität hatte (und hat womöglich immer noch) die größte Anhängerschaft.

Man spricht in diesem Zusammenhang von der sog. anthropologischen Differenz. Dieser Begriff bringt eben jene Annahme zum Ausdruck, dass es zum Wesen des Menschen gehöre, aufgrund des Besitzes spezieller Fähigkeiten oder Eigenschaften in einer grundsätzlichen Weise wertvoller zu sein als ein Tier. Die moralische Grenze zwischen Mensch und Tier ist in dieser Annahme absolut und Tiere seien, wenn überhaupt, nur indirekt zu schützen, etwa damit ihr Nutzen für den Menschen nicht Schaden nehme. Viele große Namen westlicher Philosophie haben in der einen oder anderen Weise eine solche anthropologische Differenz angenommen, etwa RENÉ DESCARTES (1596–1650), DAVID HUME (1711–1776) oder Immanuel Kant (1724–1804).

Der Kerngedanke der anthropologischen Differenz besagt also, dass es eine moralisch relevante Eigenschaft (oder Eigenschaftsgruppe) gibt, die allen, und zwar ausschließlich Menschen zukommt. Die US-amerikanische Philosophin Lori Gruen, eine der wichtigsten tierethischen Stimmen im englischsprachigen Raum, hat daraus zwei Implikationen destilliert. (1) Zum einen impliziert diese Annahme, dass auch tatsächlich kein nichtmenschliches Tier (also kein Lebewesen, das nicht zur Spezies Homo sapiens gehört) diese Eigenschaften ebenfalls aufweist. (2) Zum anderen impliziert diese Annahme, dass keinem Mitglied der Spezies Homo sapiens selbst diese Eigenschaften fehlt (vgl. Gruen 2011).

Es ist unschwer zu erkennen, wie attraktiv eine solche Position ist, will man die Mensch-Tier-Beziehung möglichst überschaubar gestalten. Im ‚besten‘ Fall wird damit jede tiefere Tierethik überflüssig. Doch spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts war es um diese Überschaubarkeit geschehen. Seitdem ist es kompliziert geworden, sehr kompliziert (vgl. Petrus 2013).

Plötzlich wurde eine moralisch relevante Vergleichbarkeit der eigentlich doch dem Menschen vorbehaltenen Eigenschaften mit denen der Tiere propagiert. Und damit standen auch die von Gruen skizzierten zwei Implikationen der Annahme einer anthropologischen Differenz in der Kritik, denn es wurde immer offensichtlicher, dass auch etliche Tiere über jene Eigenschaften bzw. Fähigkeiten verfügen, die man lange nur dem Menschen eigen wähnte. Die Verhaltensforschung konnte Verhaltensformen bei etlichen Tieren nachweisen, die denen der Menschen erstaunlich nahe kamen (manche sogar übertrafen), sei es der Werkzeugbau, die Kommunikation, das soziale Netz oder die Fähigkeit zu strategischen Verhaltensweisen.

Und auch die zweite Implikation wurde durch die Zulassung eines Vergleichens (und damit eines moralischen Abwägens) zwischen menschlichen und tierlichen Eigenschaften bzw. Fähigkeiten im Fundament erschüttert, denn gibt es nicht auch Menschen, denen die entsprechenden exklusiven Eigenschaften (etwa Selbstbewusstsein oder Vernunft) fehlen? Denken wir nur an Embryonen, Komapatienten, stark geistig behinderte oder schwer demente Menschen (die Ethik spricht mit Blick auf diese Gruppe von Menschen von den sogenannten nicht-paradigmatischen Fällen oder auch Grenzfällen). Müssten wir diese Menschen dann nicht ebenso moralisch ein-, also herabstufen, wie wir es mit den Tieren tun?

Es stand nun also eine sehr gewichtige ethische Frage in neuem Facettenreichtum im Raum: Gibt es nicht vielleicht doch gute Gründe für die moralische Berücksichtigung von Tieren, und wenn ja, welche sind das und auf welche Tiere treffen sie zu?

2.1.2Reichweite moralischer Relevanz

An dieser Stelle ist es sinnvoll, das Bild etwas weiter aufzuziehen und das bisher Gesagte in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Ich möchte die Leser*innen an dieser Stelle mit ein paar Begriffen vertraut machen, die ich in der Folge immer wieder gebrauchen werde und deren Klärung daher früh vorgenommen werden muss.

Der Tierethik, wie auch der Bio-, Umwelt- oder Naturethik (wie auch immer sie im ethischen Theoriespektrum untereinander eingeordnet werden) liegt die Frage zugrunde, ob und in welchem Umfang wir Dingen ‚der Natur‘ einen Wert zusprechen. Ich habe ‚die Natur‘ in einfache Anführungszeichen gesetzt, weil eigentlich nicht wirklich klar ist, was wir damit meinen. Zumeist wird der Begriff der Natur eher intuitiv gebraucht und sich darauf verlassen, dass jeder in etwa weiß, was gemeint ist.

Gemeinhin werden die Positionen in der Natur- oder Umwelt- und Tierethik nach ihrer Reichweite unterschieden, also nach der Frage, wie viel oder welche Objektgruppen der Natur wir moralisch berücksichtigen müssen.

Die radikalste Form wäre hier der Anthropozentrismus (gr. άνθρωπος, ánthropos, Mensch), der allein Menschen um ihrer selbst willen als moralisch wertvoll erachtet und die Gemeinschaft moralisch schützenswerter Wesen auf den Menschen beschränkt. Der deutsche Philosoph KLAUS PETER RIPPE hat den Vorschlag eingebracht, besser von Ratiozentrismus zu sprechen, was etwas präziser die alleinige moralische Relevanz vernünftiger Lebewesen zum Ausdruck bringen soll (vgl. Rippe 2008).

Eine etwas weiter gefasste und vermutlich die am häufigsten anzutreffende Form der Tierethik ist der Pathozentrismus (gr. πάθος, páthos, das Leid). Gelegentlich wird diese Position auch Sententismus (lat. sentire, empfinden, fühlen) genannt. Ihr zufolge besitzen nicht nur Menschen, sondern alle empfindungsfähigen Lebewesen, also Wesen, die leiden können – worunter auch viele Tiere fallen –, einen moralischen Wert, den es zu berücksichtigen gilt. Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft moralisch zu berücksichtigender Entitäten hängt also von der Fähigkeit ab, leiden zu können.

Der Biozentrismus von (gr. βίος, bíos, Leben) geht noch einen Schritt weiter und spricht nicht nur empfindungsfähigen Lebewesen, sondern allem Lebendigen einen moralischen Eigenwert zu, was insbesondere die gesamte Pflanzenwelt miteinschließt. Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft moralisch zu berücksichtigender Entitäten hängt in diesem Fall also von dem Umstand ab, lebendig zu sein.

Dem Anthropozentrismus bzw. Ratiozentrismus am anderen Ende des Spektrums gegenüber steht schließlich der Physiozentrismus. Dieser kann als individueller Physiozentrismus tatsächlich jedem einzelnen Gegenstand einen moralischen Eigenwert zusprechen, also belebter wie unbelebter Materie, womit alles Existierende ein Recht auf Fortbestand hätte. Oder er kann als Holismus (gr. ὅλος, holos, ganz) die umfassendste Position einnehmen und die Natur als Ganzes für moralisch wertvoll erachten.

Soweit so gut. Es muss an dieser Stelle nun allerdings eine wichtige Unterscheidung getroffen werden. Bisher habe ich die vier möglichen Objektgruppen benannt, denen wir moralische Berücksichtigung zukommen lassen können. Diese Objektgruppen zeichnen sich, erinnern wir uns an das im vorherigen Teilkapitel Gesagte, durch bestimmte Eigenschaften aus, als da wären: ein menschliches Lebewesen zu sein (Anthropozentrismus), ein leidensfähiges Lebewesen zu sein (Pathozentrismus), überhaupt ein Lebewesen zu sein (Biozentrismus) und allgemein existent zu sein (Physiozentrismus).

Solche natürlichen Eigenschaften sagen allerdings noch nichts über irgendeine moralische Relevanz aus. Oder genauer gesagt: Die alleinige Benennung der moralisch relevanten Objektgruppen sagt noch nichts darüber aus, warum wir diese Objektgruppen moralisch berücksichtigen sollten. Wenn ein Anthropozentrist also sagt, dass nur menschliche Lebewesen moralisch zu berücksichtigende Objekte darstellen, muss er sich die Frage gefallen lassen, warum dies so sei. Gleiches gilt auch für den Pathozentristen, den Biozentristen und den Physiozentristen.

Ethiker müssen an dieser Stelle Argumente vorlegen, die ihre moralisch schützenswerte Objektgruppe begründen. Was zeichnet den Menschen für den Anthropozentristen als moralisch relevant vor allen anderen Lebewesen aus? Was zeichnet leidensfähige Wesen für den Pathozentristen als moralisch relevant vor allen anderen Lebewesen aus, usw.?

2.1.3Moralisch relevante Eigenschaften

Jede Tierethik muss zunächst die eine Grundfrage klären, die verschieden gestellt werden kann: Gibt es überhaupt Gründe, Tiere in die Gesellschaft moralisch relevanter Wesen aufzunehmen? Haben wir Tieren gegenüber überhaupt moralische Verpflichtungen? Müssen wir ihre Belange, sofern sie denn welche haben, überhaupt moralisch berücksichtigen? Diese Frage kann mit Ja oder Nein beantwortet werden.

Wird sie mit Nein beantwortet, dann werden tierliche Belange als moralisch irrelevant eingestuft. In diesem Fall hätten wir lediglich indirekte Pflichten gegenüber Tieren, was bedeutet, dass wir Tiere als Sachen ansehen, die irgendjemandem gehören. Indirekt sind die Pflichten deswegen, weil etwa Tierquälerei dann kein moralisches Vergehen an den Tieren selbst wäre, sondern entweder am Besitzer des Tieres oder an uns selbst, weil unsere Grausamkeit gegen das Tier etwas über unseren eigenen Charakter verriete.

Beantworten wir die Frage indes mit Ja, erkennen wir tierliche Belange zunächst einmal grundsätzlich als moralisch relevant an. Doch welchen Grund könnten wir haben, diese Frage mit Ja zu beantworten? Wie kommen wir darauf, dass Tiere moralisch zu berücksichtigende Wesen sind?

Tierethiken beantworten diese Frage in der Hauptsache mit dem Verweis auf bestimmte moralisch relevante Eigenschaften, welche Tiere in einer dem Menschen hinreichend ähnlichen Ausprägung besitzen. Die Frage ist dann nur, welche Eigenschaften hier die ausschlaggebenden sind.

Die wohl auf häufigsten genannte Eigenschaft ist dabei die Empfindungs- bzw. Leidensfähigkeit. Fühlende Wesen, so die Annahme, verdienen grundsätzlich moralische Rücksichtnahme. Dabei darf allerdings nicht der Fehler begangen werden, die Fähigkeit, etwas empfinden zu können nur auf Schmerzempfinden zu reduzieren. Lebewesen können in vielfältiger Weise empfinden und leiden, auch ohne körperlichen Schmerz (vgl. Rollin 2008, 45). In diesem umfassenden Sinn gelte es folglich, alle Lebewesen, denen es besser oder schlechter gehen kann, moralische Rücksicht zukommen zu lassen.

Viele dieser Tierethiken begründen dies mit dem Hinweis darauf, dass empfindungsfähige Lebewesen ein Interesse am eigenen Überleben haben. Dieses Interesse muss keinesfalls ein bewusstes sein, aber, so die Überlegung, wir haben Grund zu der Annahme, dass empfindungsfähige Lebewesen sich selbst, wenn auch nur rudimentär, als existent ansehen.

Der Bereich moralisch relevanter Eigenschaften kann allerdings auch enger gefasst werden, indem zur reinen Empfindungsfähigkeit weitere hinzutreten. Konkret geht es um die Fähigkeiten des Selbstbewusstseins (Bewusstsein des eigenen Wohls) und Zeitbewusstseins (Erinnerungen und Wünsche). Die Idee dahinter ist, dass nur solche Lebewesen, die diese beiden Fähigkeiten zumindest in rudimentärer Form aufweisen, ein Interesse am eigenen Wohlbefinden ausprägen können. Lebewesen, die diese beiden Fähigkeiten nicht aufweisen, sind zwar immer noch empfindungsfähig, können aber kein Interesse am eigenen wohlbefindlichen Überleben haben, weil sie sich selbst nicht als existent erfahren. Dieser Bereich von Wesen wird in aller Regel mit dem Begriff der Person markiert. Eine derartige Tierethik würde allein Personen einen moralischen Status zuerkennen, eben weil sie über bestimmte (moralisch relevante) Eigenschaften verfügen, die andere Lebewesen nicht aufweisen. Ob es sich bei Personen ausschließlich um Menschen handelt, ist dabei noch völlig offen.

Tierethiken, die Tieren aufgrund bestimmter Eigenschaften oder Fähigkeiten einen moralischen Status zuerkennen, erkennen damit zeitgleich an, dass es notwendigerweise zu Konflikten zwischen tierlichen und menschlichen Belangen oder Interessen kommen kann, und müssen somit stabile Argumente für eine Lösung dieser Konflikte entwickeln. Moralkonzeptionen, die solche Konflikte nicht zulassen, werden entweder immer zugunsten der Menschen also anthropozentristisch argumentieren (was eigentlich immer der Fall ist) oder sie argumentieren immer zugunsten der Tiere (was eigentlich nie der Fall ist). Die große Mehrheit tierethischer Moralkonzeptionen aber lässt solche Konflikte zu und ist um entsprechende, unterschiedlich verbindliche Lösungen bemüht.

2.1.4Aufnahme in die moralische Gemeinschaft

Wenn Moraltheorien Konflikte zwischen menschlichen und tierlichen Belangen zulassen, dann deshalb, weil sie die prinzipielle Aufnahme bestimmter Tiere in die moralische Gemeinschaft befürworten. Im Wesentlichen nutzen diese Moraltheorien eine von zwei Begründungs-strategien, um diese Aufnahme zu begründen.

(1) Die eine Begründungsstrategie haben wir bereits kennengelernt. Sie versucht die zu Beginn erwähnte anthropologische Differenz durch das Zugeständnis zu überwinden, dass viele Tiere mit Blick auf die zur Debatte stehenden Fähigkeiten bzw. Eigenschaften (Empfindungsfähigkeit, Rationalität, Personalität usw.) dem Menschen hinreichend ähnlich genug sind, um in die Gruppe moralisch zu berücksichtigender Wesen mit aufgenommen zu werden. Statt trennender Merkmale werden nun Gemeinsamkeiten herausgestellt, und zwar in der Absicht, die Speziesgrenze als moralische Trennlinie zwischen Mensch und Tier zu überwinden. Die moralische Gemeinschaft soll folglich, so die Forderung, erweitert werden. Man spricht daher vom Extensionsmodell (vgl. McReynolds 2004).

Es ist also nicht mehr eine Gruppenzugehörigkeit ausschlaggebend für moralische Berücksichtigung (zum Beispiel die biologische Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens), sondern die jeweiligen individuellen Eigenschaften bzw. Fähigkeiten. Und das bedeutet umgekehrt: Sobald zwei Wesen ungleiche moralische Berücksichtigung erfahren, muss dies auch mit Bezug auf die individuellen Eigenschaften dieser Wesen gerechtfertigt werden (vgl. Rachels 1990, 173). Das Extensionsmodell sagt allerdings noch nichts über die Bedeutung und die Konsequenzen einer solchen Erweiterung aus. Wie wir sehen werden, kann die Erweiterung der moralischen Gemeinschaft durchaus unterschiedlich aussehen, will sagen: unterschiedlich radikal sein. Das ist allein schon deswegen der Fall, weil das Extensionsmodell in jedem Fall eine moralische Begrenzung menschlichen Handelns impliziert.

Die Begründungsstrategie, wonach Wesen nicht mehr aufgrund bestimmter Gruppenzugehörigkeit, sondern aufgrund ihrer individuellen, für eine moralische Berücksichtigung relevanten Eigenschaften zusammengefasst werden, heißt moralischer Individualismus. Wie wir noch sehen werden, ist der moralische Individualismus die mit Abstand am häufigsten anzutreffende tierethische Moraltheorie. Das ist auch nicht überraschend, gestattet sie doch „einen leicht nachzuvollziehenden und übersichtlichen Zugang zu der Frage […], wie Tiere begründet in die moralische Gemeinschaft aufgenommen werden können“ (Grimm/Wild 2016, 52–53).

Tierethiker haben mit Blick auf den moralischen Individualismus also einiges zu tun: Sie müssen nicht nur klären, welche Eigenschaften warum moralisch relevant sein sollen – das sind ethische Fragen. Sie müssen auch angeben können, auf welche Tiere das eigentlich zutrifft – und das sind in erster Linie empirische Fragen. Hier ist also nicht nur philosophisches, sondern auch biologisches, psychologisches und wohl auch kognitionswissenschaftliches Wissen gefragt.

(2) Es hat sich allerdings früh Skepsis bemerkbar gemacht hinsichtlich der Abhängigkeit einer moralischen Berücksichtigung allein von Eigenschaften bzw. Fähigkeiten. Insbesondere aus dieser Skepsis speist sich die zweite Begründungsstrategie für eine moralische Berücksichtigung von Tieren. Diese Strategie legt ihr Gewicht nun nicht auf faktische Eigenschaften (wie etwa den Umstand, ein empfindungsfähiges Lebewesen zu sein), sondern auf die tatsächlichen, in der Praxis gelebten Beziehungen zwischen Menschen und Tieren. In diesen realen Beziehungen würden ebenfalls normative Regeln zum Vorschein kommen, die sich nicht auf Eigenschaften eines Individuums reduzieren ließen.

Eine solche Position, die ihren Fokus auf die praktischen Beziehungen zwischen Mensch und Tier legt, nennt man Relationismus. Ein solcher Relationismus kann unterschiedlich stark ausfallen. Manche Relationisten konzentrieren sich allein auf die normativ geregelte Praxis, andere kombinieren ihren Relativismus mit dem moralischen Individualismus. Auch diese Positionen werden wir kennenlernen.

2.1.5Gewichtung moralisch relevanter Belange

Erinnern wir uns: Zunächst hatten wir die typischen Eigenschaften kennengelernt, mit denen die Erweiterung der moralischen Gemeinschaft (das Extensionsmodell) gängigerweise operiert. Im Anschluss haben wir gesehen, dass es neben dem moralischen Individualismus, auf dem das Extensionsmodell beruht, noch eine zweite Argumentationsstrategie für die Aufnahme von Tieren in die moralische Gemeinschaft gibt, den Relationismus.

Wenn wir es also mit einer Argumentationsstrategie zu tun haben, die Tiere in die moralische Gemeinschaft mit aufnimmt, und wenn eine diese Strategien nutzende Moraltheorie Konflikte zwischen menschlichen und tierlichen Belangen zulässt (und das tun beide), dann bleibt für den Moment noch eine letzte Frage zu klären, nämlich die jeder auf Gleichheit ausgerichteten Moraltheorie zugrunde liegende Frage, ob alle Mitglieder der moralischen Gemeinschaft auch tatsächlich als Gleiche anerkannt und respektiert werden, oder ob womöglich begründbare Hierarchien dieser Lebewesen existieren, was bedeutet, dass zwar die moralische Gemeinschaft durchaus Tiere mit einschließt, innerhalb dieser Gemeinschaft allerdings Abstufungen des moralischen Status begründbar wären. Also wieder eine Frage mit zwei Antwortmöglichkeiten.

(1) Die erste Möglichkeit besagt, dass moralische Ungleichbehandlungen von Mensch und Tier nicht begründet werden können. Es gibt keinerlei moralisch relevante Abstufungen zwischen Mensch und Tier – zumindest mit Blick auf eine bestimmte Gruppe von Tieren. Welche Gruppe das genau ist (alle Säugetiere, alle Wirbeltiere usw.), kann sich je nach Moraltheorie durchaus unterscheiden. Eine solche Moraltheorie nennt man egalitaristisch (franz. Égalité, von lat. aequalitas, Gleichheit).

Insbesondere aus egalitaristischen Positionen ist ein Vorwurf gegen all jene erhoben worden, die sich der grundsätzlichen moralischen Gleichstellung von Mensch und Tier verweigern. Es handelt sich hierbei um den sog. Speziesismus-Vorwurf, den der australische Philosoph Peter SINGER populär gemacht hat. Damit ist eine Form der Diskriminierung gemeint, die immer dann vorgenommen wird, wenn das moralische Gewicht des Tieres lediglich aufgrund einer Spezieszugehörigkeit zugunsten des Menschen abgewertet wird. Für SINGER stellt die Spezieszugehörigkeit für eine moralische Berücksichtigung einen ebenso zufälligen wie trivialen Umstand dar wie die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht oder einer bestimmten Ethnie. Zwischen Sexismus, Rassismus und eben Speziesismus sehen viele Tierethiker keinen Unterschied.

(2) Die zweite Möglichkeit besagt, dass innerhalb der Gruppe moralisch zu berücksichtigender Lebewesen eine begründbare Hierarchie existiert, was bedeutet: Es gibt durchaus die Möglichkeit, menschliches Wohlergehen stärker zu gewichten als tierliches Wohlergehen und es lässt sich trotz Miteinschlusses vieler Tiere in die Gemeinschaft moralisch zu berücksichtigender Lebewesen die Nutzung von Tieren zu menschlichen Zwecken rechtfertigen. Eine solche Position nennt man Hierarchismus.

Was hierarchische Moraltheorien nun zu leisten haben, ist die Angabe von Gründen für eine solche moralische Hierarchie, also für eine „Abstufung in Bezug auf die moralische Bedeutung“ (Rippe 2003, 410). Wie sich diese Begründungsversuche sortieren lassen, und ob auch die hier vorgestellten, die gegenwärtig Konsens sind, ausreichend differenzieren, darüber besteht durchaus Uneinigkeit.

Damit können wir den Überblick über die Positionen theoretischer Tierethiken für den Moment abschließen.

Systematik der Positionen theoretischer Tierethiken


2.2Positionen praktischer Tierethiken

Mit den praktischen Elementen der Tierethik sind jene gemeint, die unseren tatsächlichen Umgang mit Tieren im gesellschaftlichen Kontext verorten und konkrete gesetzliche Handlungsvorschläge unterbreiten. Dabei sind die Intentionen durchaus unterschiedlich: Geht es den einen um einen möglichst umfassenden gesetzlichen Schutz der Tiere vor Leid (Tierschutzethik), zielen andere auf die völlige Abschaffung jeglichen Tiergebrauchs ab, sei es sofort (Abolitionismus), schrittweise (Reformismus) oder auch ohne notwendigen Verweis auf Recht und Gesetz (Tierbefreiung).

Es gibt allerdings bei den Positionen praktischer Tierethiken ein ziemliches Durcheinander an Begriffen, was vor allem daran liegt, dass die Bezeichnungen Tierbefreiung, Tierschutz oder Tierrechte häufig synonym gebraucht werden. Das hat viele Gründe. Manche dieser Gründe liegen sicher in der Geschichte der jeweiligen tierethischen Bewegungen, also in einer Zeit, die noch keine uns heute bekannte Ausdifferenzierung an Positionen vorzuweisen hatte. Vor diesem Hintergrund ist eine klare begriffliche Unterscheidung unverzichtbar. Die folgende Gliederung soll daher ein Systematisierungsvorschlag für die vier grundsätzlichen Positionen praktischer Tierethiken darstellen.

2.2.1Die traditionelle Tierschutzethik

Das erklärte Ziel der traditionellen Tierschutzethik, die in den 1970er Jahren auch in Deutschland schnell an Gewicht gewann, war und ist, die rechtlichen Bedingungen, nach denen Tiere gehalten werden – sei es zu Nahrungs-, Forschungs- oder Unterhaltungszwecken – möglichst zu optimieren, um so etwas wie eine ‚artgerechte Haltung‘ zu erreichen. Der Grundgedanke ist dabei klar pathozentristisch, was bedeutet, dass die Leidensfähigkeit der Tiere als primäres bindendes moralisches Kriterium anerkannt wird: Im Vordergrund steht das Wohlbefinden der Tiere. Der traditionellen Tierschutzethik ist es um eine möglichst große Leidensfreiheit der Tiere zu tun.

Exemplarisch für diese Position sei der deutsche Philosoph MANUEL SCHNEIDER angeführt, der in seinem Aufsatz Über die Würde des Tieres (2001) zunächst dem Tier einen kreatürlichen Eigenwert zuspricht, es sogar mit einer Würde versieht und die Forderung stark macht, Tiere „um ihrer selbst willen als schützenswert“ (Schneider 2001, 233) zu achten, dennoch aber mit den Worten schließt: „Das Anerkennen eines Eigenwertes des Tieres verbietet uns keineswegs kategorisch jede Form der Instrumentalisierung und Nutzung von Tieren“ (Schneider 2001, 234). Als Begründung führt Schneider an, dass dann nicht nur „jede Form der Domestikation ein Frevel“ sei, sondern auch „höhere Maßstäbe als im zwischenmenschlichen Umgang“ angelegt würden, immerhin lebe auch die menschliche Gesellschaft von „wechselseitigen Indienstnahmen“ (Schneider 2001, 234).

Ähnlich argumentiert der deutsche Philosoph ROBERT SPAEMANN. In seinem Aufsatz Tierschutz und Menschenwürde (1984) richtet sich SPAEMANN ausdrücklich gegen Gewalt an Tieren und verweist auf ihre Schutzbedürftigkeit. Auch (die damals in Deutschland noch legalen) Tierversuche für die Kosmetikindustrie lehnt er hier entschieden ab. In seinen Forderungen indes geht es SPAEMANN aber nicht um eine moralische Gleichstellung von Mensch und Tier, er fordert vielmehr, dass die „Maßstäbe für das ‚unumgängliche Maß‘ an Leiden […] neu gesetzt werden [müssen], und zwar so, dass dieses ‚Nur-Leid-sein‘ des Tieres nicht den wesentlichen Teil seines Lebens definiert“ (Spaemann 1984, 79).

Im Prinzip ist die Grundhaltung der traditionellen Tierschutzethik vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) ideal ins Wort gegossen. Zum Thema Tierschutz heißt es dort: „Der Tierschutz ist als Staatsziel im Grundgesetz verankert und im Tierschutzgesetz grundsätzlich geregelt. Für das BMEL ist das Wohlergehen der Tiere ein wichtiges Anliegen. Das Ministerium entwickelt die bestehenden Vorschriften im Sinne des Tierschutzes stetig weiter“ (BMEL 1). Und zum Thema ‚artgerechte Haltung‘: „Für die deutsche Landwirtschaft sind Tierzucht und Tierhaltung wichtige Standbeine. Die Tiergesundheit ist dabei ganz zentral für das Wohlergehen und die Leistungsfähigkeit der Tiere. Dazu tragen sichere Futtermittel, die verantwortungsvolle Anwendung von Tierarzneimitteln und eine effektive Vorbeugung und Bekämpfung von Tierseuchen bei“ (BMEL 2).

Wir sehen, dass sich ungeachtet des Einsatzes für verbesserte Lebensbedingungen der Tiere an der Grundannahme, dass Tiere menschliches Eigentum sind und ihnen unter gewissen Umständen Leid zugefügt werden darf (etwa durch Tötung in der Nutztierhaltung), nichts ändern muss und im Übrigen auch nicht ändern soll. Die Rechtfertigung speist sich ja gerade aus der erstrebten nachweislichen ‚artgerechten‘ Haltung, ob als Nutz- oder Forschungstier.

2.2.2Abolitionismus

Was der Tierschutz in den Augen vieler Tierethiken nicht beantworten kann, ist die Frage, warum Tiere einen Schutz vor dem Menschen verdienen. Es fehlt der theoretische Unterbau, das Fundament, auf welchem wir schließlich die Praktiken der Nutztierhaltung plausibel als moralisch thematisieren dürfen.

Ein gängiges Konzept besteht darin, Tieren moralische Rechte zuzuerkennen. Zumeist basieren diese Rechte auf der Tatsache, dass viele Tiere ebenso wie Menschen empfindungsfähige Lebewesen sind, denen es besser oder schlechter gehen kann. Manche Tierethiken berufen sich in ihrer Argumentation auf hinreichende Ähnlichkeiten zwischen bestimmten Tieren und Menschen, um Tierrechte zu begründen. Andere sehen allein in der Empfindungsfähigkeit Grund genug, Tieren einen prinzipiellen Anspruch auf Leben und Unversehrtheit zuzuschreiben.

Einig sind sich Tierrechtspositionen allerdings in ihrer Kritik, Tierschutzethiken ginge es lediglich um die Behandlung von Tieren, aber nicht um ihren Gebrauch. Dabei sei der Gebrauch von Tieren das eigentliche und tiefer liegende Problem, dem sich die Tierethik zuzuwenden habe.

Die stärkste Ausprägung der Tierrechtsbewegung ist der sog. Abolitionismus (von engl. abolition, Abschaffung). Er verlangt unter Verweis auf die unhintergehbaren moralischen Rechte der Tiere (a) die sofortige Abschaffung aller Tierhaltung und allen Tiergebrauchs zu menschlichen Zwecken, sowie (b) die vollständige Abschaffung jeglicher Besitzansprüche auf Tiere. Abolitionisten sehen zwischen den moralischen Rechten von Mensch und Tier keinen Unterschied und keine Graduierung. Es gibt für den Abolitionismus schlichtweg keine Rechtfertigungsmöglichkeit, Tieren zum Nutzen des Menschen Leid zuzufügen bzw. sie zu töten. Prominente Vertreter einer abolitionistischen Tierrechtstheorie sind der US-amerikanische Philosoph TOM REGAN und sein Landmann, der Rechtswissenschaftler GARY L. FRANCIONE.

Die Anerkennung moralischer Grundrechte für Tiere muss allerdings nicht zwingend zum Abolitionismus führen, also zur gänzlichen Einstellung des Gebrauchs von Tieren (vgl. etwa Miligan 2015, Kap. 7). Zumindest argumentiert so der britische Philosoph ALASDAIR COCHRANE. Jede Tierbefreiungsbewegung fußt auf der Annahme, Nutztiere seien unfrei. Und genau diese Annahme ist in COCHRANES Augen falsch. Um nämlich unfrei sein zu können müssten Tiere ein Interesse an Freiheit haben. Und ein Interesse an Freiheit können nur Wesen aufweisen, die ein Interesse an freien Entscheidungen und Selbstständigkeit haben. Das ist der Grund, weshalb wir es auch dann für falsch halten, an Menschen zu forschen, wenn diese Versuche zwar schmerz- und folgenfrei sind, aber ohne Zustimmung erfolgen, also ohne freiwilliges Einverständnis. Tiere sind aber keine selbstbestimmten Wesen, folglich können sie auch nicht frei oder unfrei sein (vgl. Cochrane 2012, 72–76).

COCHRANE, das sei sofort ergänzt, erkennt Tieren zweifelsfreie Rechte auf Leben und Unversehrtheit zu. Nichts darf demnach mit Tieren geschehen, was ihnen Leid zufügt oder ihr Leben beendet. Das ist allerdings nicht der Fall, weil Tiere andernfalls unfrei wären, sondern weil der leidvolle Gebrauch gegen ihre Grundrechte verstößt. Es verbleiben für COCHRANE also durchaus legitime Praktiken des Tiergebrauchs, nämlich diejenigen, die nicht gegen moralische Grundrechte der Tiere verstoßen. Beispiel Tierversuch: Immer dann, wenn ein Tier (a) nicht aus einem gewohnten Habitat entfernt wird, (b) vor und während des Versuchs kein Leid verspürt und (c) auch nach dem Versuch keinerlei Schäden verbleiben, immer dann ist der Gebrauch des Tieres moralisch in Ordnung. Dezent weist COCHRANE darauf, dass wir etwa bei der Erforschung der Verhaltensweisen von Kleinkindern oder der kognitiven Fähigkeiten von Dementen ganz ähnlich vorgehen. Diese Menschen wissen zumeist gar nicht, dass sie Teil eines wissenschaftlichen Versuchs sind. Es wird ihnen aber vor und nach dem Versuch sowie während des Versuchs keinerlei Leid verursacht, also gehen für uns solche Versuche in Ordnung. Ähnliche (wenige) Fälle des moralisch legitimen Tiergebrauchs ergeben sich in der Landwirtschaft oder im Haustierbereich (vgl. Cochrane 2012, Kap. 5–8).

2.2.3Reformismus

Eine Argumentationslinie, die sich zwischen die Tierschutzethik und den Abolitionismus stellt, wird heute Reformismus (manchmal auch Meliorismus, von lat. meliorare, verbessern) genannt. Sie geht über die traditionelle Tierschutzethik insofern hinaus, als sie nicht auf dem Stand einer ‚lediglich‘ (wenn auch stark) verbesserten Lebensbedingung von Nutztieren stehen bleiben möchte, sondern durchaus das abolitionistische Ziel einer vollständigen Abschaffung aller Nutztierhaltung anstrebt. Sie gedenkt dies allerdings schrittweise zu tun, durch eine sukzessive Anpassung der rechtlichen Bestimmungen durch jeweils kleine Reformen.

Der Reformismus impliziert also einen kausalen Zusammenhang zwischen schrittweisen rechtlichen Reformen und der finalen Abschaffung aller tierlichen Nutzhaltung unter Zuerkennung von Rechten. Als Kernargument dient dem Reformismus dabei die Annahme, dass radikale ‚Ad-hoc-Umstellungen‘, sei es bei der Ernährung oder im Tierversuch, schlichtweg unrealistisch seien (vgl. Newkirk 1992, 43–45) und damit ein von Beginn an notwendig zu verfehlendes Ziel darstellten.

Überhaupt sehen viele Reformisten zwischen der Forderung nach Tierrechten und dem Vorgehen des Reformismus keinerlei Diskrepanz, das gemeinsame Ziel sei doch dasselbe, allein der programmatische Weg dorthin unterscheide sich, mehr noch: Der Versuch, die abolitionistische Tierrechtsbewegung vom Reformismus argumentativ zu trennen, sei vielmehr artifiziell.

Den Reformismus zeichnen bestimmte Charakteristika aus, etwa die Überzeugung, dass Tierschutz nicht lediglich die Minimierung von Schmerz und Leid bzw. eine ‚humane‘ oder ‚artgerechte‘ Haltung impliziere, sondern auf lange Sicht tatsächlich die Einstellung aller Tiernutzung in der Massentierhaltung oder im Tierversuch. Da Reformisten in aller Regel der Ansicht sind, dass abolitionistische Tierrechtsbefürworter keine plausible Agenda zur Erreichung des Ziels anzubieten haben, bieten sie selbst als Argument den kausalen Zusammenhang zwischen schrittweisen Verbesserungen in der Nutztierhaltung an. Eine zeitlich begrenzte Instrumentalisierung von Tieren zu menschlichen Zwecken müsse also hingenommen werden, um das langfristige Ziel erreichen zu können.

Reformisten können diesen ‚langen Weg‘ unterschiedlich gestalten. Ich möchte als Beispiel den österreichischen Tierschützer MARTIN BALLUCH wählen (vgl. VGT 1, VGT 2). Dieser vertritt die Ansicht, dass der Abolitionismus den Umstand verkennt, dass rationale Argumente in aller Regel keinen Einfluss auf das Verhalten von Menschen nehmen. Wir wissen ja vermutlich alle um die Umstände der Massentierhaltung und der tierlichen Lebensmittelproduktion und kaufen (zumindest die meisten von uns) dennoch Fleisch, Milch und Eier im Supermarkt.

Eine solche Diskrepanz zwischen Wissen und Handlung ist für den Reformisten dadurch zu erklären, dass in speziesistischen Gesellschaften wie der unsrigen der Aufwand für eine vegane oder auch vegetarische Lebensweise um ein Vielfaches höher ist, als einfach mit dem Strom zu schwimmen. Und dieser Mehraufwand an Energie wird, zumindest aus der Gesellschaft heraus, nirgends honoriert oder gespiegelt. Es gibt keine Tiere, die sich bei uns bedanken, es gibt keinen erkennbaren Effekt im Supermarkt. Die Regale bleiben zunächst weiter voll von tierischen Produkten und, womöglich das Schwierigste, der Aufwand wird in aller Regel mit der Zeit nicht abnehmen, es ist (zumindest heutzutage) ein permanenter Energieaufwand nötig, um vegan oder vegetarisch zu leben.

Unter diesen Umständen, so BALLUCH, ist der häufige Effekt zu beobachten, dass die Bereitschaft zu einem solchen Energieaufwand mit der Zeit sinkt und sich die Menschen von ihrer veganen oder vegetarischen Lebensweise wieder abwenden, weil ihre Kraft für andere Lebenssituationen gebraucht wird. Das ist ja auch problemlos möglich, denn die Supermarktregale sind, wie erwähnt, weiterhin voll von tierischen Produkten.

Es sei demnach also ein Irrglaube der abolitionistischen Tierrechtsbefürworter, davon auszugehen, eine philosophische Überzeugungsarbeit mittels rationaler Argumente könne Menschen von der Falschheit des Konsums tierischer Produkte überzeugen und eine fundamentale Umordnung des Mensch-Tier-Verhältnisses zur Folge haben, gleichsam von unten nach oben. Der Weg führe vielmehr von oben nach unten. In kleinen Schritten müssten den Menschen Zugänge zu tierischen Produkten abgeschnitten werden, damit der Nichtkonsum tierlicher Produkte sich im Verhalten niederschlägt.

Reformisten bauen daher häufig nicht auf philosophische Argumente (die dann gern als Ideologien abgetan werden), sondern auf psychologische und politische Effekte, in der Überzeugung, dass diese Effekte einen kausalen Einfluss auf unser Verhalten nehmen. Erst der langsame Weg vom Tiergebrauch über den Tierschutz führe schließlich zur Anerkennung von Tierrechten. Ad-hoc-Maßnahmen auf der Basis rationaler Argumente seien in aller Regel sinnlos. Es geht also nicht primär darum, die Einstellung von Menschen, sondern das gesellschaftliche System zu ändern, in dem sie leben, die entsprechende Einstellung würde diesem dann folgen.

Der Reformismus beinhaltet aus Sicht des strikten Abolitionismus allerdings ein unüberwindbares Problem: Wer heute schon weiß, dass Tieren durch den Gebrauch zu menschlichen Zwecken Unrecht getan wird, und dennoch bereit ist, dieses Unrecht zugunsten gesellschaftlicher Umgewöhnungseffekte (und sei es auch für begrenzte Zeit) aufrechtzuerhalten, der vergehe sich am eigentlichen abolitionistischen Kern.

Aus diesem Einwand heraus hält FRANCIONE dem Reformismus einen argumentativen Defekt vor: Sollte das Ziel der kleinschrittigen Reformen tatsächlich die totale Abschaffung aller Tierversuche sein und sollte damit die Zuerkennung von Tierrechten einhergehen, wie es sich der Reformismus ja auf die Fahne geschrieben hat, sprich: dass wir Tierversuche nicht allein aus Mitgefühl (also aus unserer Perspektive), sondern aus Anerkennung ihrer Rechte (also aus deren Perspektive) ablehnen, dann bekommen wir ein eigenartiges Problem, denn dann müssten wir Tieren während des schrittweisen Prozesses ihre Rechte absprechen, ihnen diese aber nach erfolgreichem Prozess wieder zusprechen.

Anders ausgedrückt: Aktuell haben sie keine Rechte, aber zukünftig. Das sei, als würden wir uns vor eine Gruppe von Sklaven stellen und sagen: ‚Wir wissen, dass euch großes Unrecht widerfährt, aber gebt uns noch ein paar Jahre Zeit, bis das auch alle anderen begriffen haben.‘ Dem hält der Abolitionismus entgegen, dass Rechte keine temporäre Angelegenheit sind, sondern eine permanente. Rechte können nicht zeitweise außer Kraft gesetzt oder für die Zukunft geplant werden, eine Theorie muss sich entscheiden: Entweder hat man Rechte oder man hat sie nicht. Für FRANCIONE kann somit kein kausaler Zusammenhang zwischen Reformen im Tierschutz und der abolitionistischen Anerkennung von Rechten bestehen, indem das eine zum anderen führt. Eine solche ‚Überführung‘ ist aufgrund der notwendigen Permanenz von Rechten unmöglich und Reformismus und Abolitionismus somit nicht dasselbe, nur mit verschiedenen Strategien, sie sind vielmehr unvereinbar. Demnach gäbe es zum Abolitionismus keine Alternative, wollte man die Akzeptanz von Tierrechten erreichen.

2.2.4Tierbefreiung

Dass es Möglichkeiten gibt, abolitionistische Ziele auch ohne die Grundlage von Tierrechten, ja eventuell sogar ohne jegliche Gesetzesgrundlage einzufordern, zeigt die Tierbefreiungsbewegung. Die Tierbefreiungsbewegung, die in den 1960er entstand und sich in den folgenden Jahrzehnten weltweit etablierte, verfolgt zunächst eben genau jenes Ziel: Sie wollte Tiere befreien, im wörtlichen Sinn, sie befreien aus Käfigen und Laboren, aus Ställen und künstlichen Jagdrevieren (vgl. Petrus 2013, 11–29). SINGERS Buchtitel Animal Liberation beringt genau diesen Habitus zum Ausdruck: Nutztiere sind unfrei und verdienen Freiheit. Mit diesem Schlagwort arbeiten viele einschlägige populärwissenschaftliche Arbeiten, prominent zu sehen an dem Bestseller Artgerecht ist nur die Freiheit (2014) der deutsch-türkischen Publizistin HILAL SEZKINS.

Gespeist hat sich die Tierbefreiungsbewegung seit jeher aus einer tiefen Skepsis gegenüber staatlich eingesetzten Machtinstrumenten und Herrschaftsverhältnissen. Mit einer solchen Befreiung müssen nicht zwangsläufig auch Rechte einhergehen (vgl. Singer 1975; 2011), manche Vertreter einer Tierbefreiung erachten das Rechtekonzept sogar als überflüssig (vgl. Schmitz 2015), insbesondere dann, wenn aus moralischen Rechte auch tatsächliche Gesetze folgen sollen. Die Skepsis gegenüber staatlicher Gewaltmonopole betrifft natürlich auch den Schutz entsprechender gesetzlich verankerter Grundrechte für Tiere. Zusätzlich bestehen innerhalb der Tierbefreiungsbewegung Zweifel an der praktischen Durchsetzbarkeit gesetzlicher Vorhaben: „Schon jetzt wird das geltende Tierschutzgesetz kaum durchgesetzt“ (Schmitz 2015, 95). Vertretern der Tierbefreiungsbewegung ist daher oft gar nicht an Gesetzen gelegen, würden diese die Herrschaftsverhältnisse doch nur in anderer Form aufrechterhalten.

Die umfangreiche Ausbeutung von Tieren ist in den Augen der Tierbefreiungsbewegung ein gesamtgesellschaftliches Problem, das zu großen Teilen durch Profitgier, Technisierung und Globalisierung geprägt ist, und keine isolierte Ungerechtigkeit oder Teildisziplin einer akademischen Philosophie. Unser Umgang mit Tieren findet in einer prinzipiellen Geringschätzung tierlichen Leides seinen Niederschlag und macht keine komplizierte Debatte um Tierrechte, sondern grundsätzliches gesellschaftliches Umdenken erforderlich, sei es in der Landwirtschaft, der Lebensmittelindustrie, in Forschung, Landschafts- und Städteplanung: Es geht „um eine Befreiung aus dem bestehenden Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnis. Eine zentrale Forderung betrifft die Beendigung der kommerziellen Nutztierhaltung und die Abschaffung des Eigentumsstatus der Tiere“ (Schmitz 2015, 95).

Einführung in die Tierethik

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