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1.2. Lokale Religion, hybride Glaubensformen und der »lange Arm Roms«: Erkenntnisse und Perspektiven der Forschung zum frühneuzeitlichen Katholizismus

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Während Mirakelgeschichten und andere Zeugnisse von Gebetserhörungen lange Zeit fast ausschließlich von der »religiösen Volkskunde«20 als Objekte der Forschung betrachtet wurden, hat sich das Interesse an religiösen Wundern in den letzten Jahrzehnten auch in der Geschichtswissenschaft Bahn gebrochen. Historiker haben erkannt, dass sich aus Wundergeschichten, obgleich sie stets narrativen Konventionen und Erzählintentionen folgten,21 Einsichten in die praktizierte Religiosität und die religiöse Alltagswelt frühneuzeitlicher Individuen gewinnen lassen.22 Gewichtigen Anteil an diesem neuerwachten Forschungsinteresse hatte die Auseinandersetzung mit der von Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard formulierten Konfessionalisierungsthese.23 In bewusster Abgrenzung zu deren obrigkeitszentrierten Perspektive auf die Normierung und Uniformierung religiöser Verhaltensweisen formierten sich Forschungsfelder, die den unbestrittenen (qualitativen) Wandel von Kirchlichkeit und Religiosität in der Frühen Neuzeit dort nachzuvollziehen versuchten, wo er sich tatsächlich auch praktisch bemerkbar machte, nämlich in den einzelnen Kirchgemeinden und in den Lebens- und Erfahrungswelten der Menschen.24

Diese forschungsgeschichtliche Entwicklung führte zunächst zu einem besseren Verständnis der (kollektiven) Glaubenspraxis. Für Spanien, Frankreich, Italien und den süddeutschen Raum ist aufgezeigt worden, dass veräußerlichte Formen der Glaubensmanifestation auch in der nachtridentinischen Ära allgegenwärtig waren,25 obschon im Zuge der katholischen Reform universale und verinnerlichte religiöse Wissensbestände über die orts- und objektgebundene Religiosität gestellt wurden.26 Lokalspezifische Heiligenpatronate, Festtage, Prozessionen und Bruderschaften waren nach wie vor fester Bestandteil der religiösen Kultur und gehörten zur Selbstvergewisserung kommunaler Gemeinwesen dazu. In diese kommunale Religiosität miteinbezogen wurden neben den jeweiligen Pfarrkirchen und örtlichen Heiligtümern mitunter auch Kapellen und religiöse Kleindenkmäler (Wegkreuze, Bildstöcke etc.), ferner auch die Natur, etwa in Form sogenannter »heiliger Bäume«.27 Damit prägten örtliche Besonderheiten und weit zurückreichende Kulttraditionen das religiöse Leben in den Kirchgemeinden, ungeachtet der universalisierenden Tendenzen des nachtridentinischen Katholizismus. Vor diesem Hintergrund hat man der tridentinisch erneuerten Kirche ein »Vollzugsdefizit«28, der lokalen Gesellschaft dagegen einen von der Kirchengeschichte ebenso wie von der Konfessionalisierungsforschung unterschätzten Einfluss auf die Ausbildung einer »katholischen« beziehungsweise »konfessionellen Identität«29 bescheinigt. Darüber noch hinausgehend haben Studien zur sogenannten »Volksfrömmigkeit«30 auf Formen der »Widerständigkeit«31 des »Volkes« gegen »obrigkeitlich verordneten Glaubenszwang«32 und religiöse Disziplinierung aufmerksam gemacht, sodass sich insgesamt ein Bild eines spannungsreichen Verhältnisses zwischen dem auf Gemeindeebene praktizierten Glauben und den von der römischen Konfessionskirche vertretenen Frömmigkeitsidealen ergab. Während diese Schlussfolgerung vor allem aus der Untersuchung kollektiver Glaubensmanifestationen resultierte, relativierten kulturhistorische Studien zur (individuellen) religiösen Alltagspraxis indessen die grundsätzliche Unvereinbarkeit von älteren lokalen und neuen, tendenziell universalen Formen katholischer Religiosität. Zwei Themenkomplexe haben sich als erkenntnisleitend herausgestellt: die katholische Mission und die kultische Verehrung von als heilig erachteten, aber nicht (oder noch nicht) heiliggesprochenen Personen.

Forschungen zur sogenannten »inneren« (also innerkatholischen) Mission haben zunächst ans Licht gebracht, wie akribisch sich Akteure des tridentinisch erneuerten Katholizismus mit der Religiosität der ländlichen Bevölkerung in Europa auseinandergesetzt haben. Insbesondere die Jesuiten eigneten sich einen reichhaltigen Wissensbestand über lokalspezifische Glaubensvorstellungen und Frömmigkeitstraditionen an.33 Indem sie von »unseren Indianern« sprachen, deuteten sie an, dass ihnen die Glaubenswelt auf dem Lande teilweise ebenso fremd vorkam wie diejenige nichtchristlicher Religionen, die sie von den Missionen in Übersee kannten.34 Wie in China oder in Nord- und Südamerika versuchten sie bestmöglich auf die lokalen religiösen Eigenheiten Rücksicht zu nehmen, um die reformkatholischen Frömmigkeitsideale der Laienbevölkerung vermitteln zu können. Das von der Missionsforschung neuerdings vielfach besprochene Ergebnis waren hybride und synkretistische Glaubensformen, hervorgegangen aus Strategien der »Aneignung« von und »Anpassung« an lokale religiöse Traditionen.35 Vor diesem Hintergrund schien es angebracht, von einer Vielfalt des Katholischen beziehungsweise vom Christentum als »lokaler Religion«36 auszugehen und die »traditionelle Sicht einer geschlossenen, einheitlichen, von oben gelenkten […] römischen (›papistischen‹) Kirche«37 aufzugeben. Folgerichtig ist die neueste Forschung dazu übergegangen, die frühneuzeitlichen Konfessionskirchen weniger als starre, homogene Blöcke zu beschreiben, sondern vielmehr auf die Heterogenität der Konfessionskulturen38 sowie auf religiöse Grenzüberschreitungen verschiedenster Art39 aufmerksam zu machen.

Den Blick für die Lokalität und Hybridität religiöser Praktiken geschärft haben zweitens auch Studien zu katholischen Kulten, in deren Mittelpunkt charismatische, als heilig erachtete Personen aus dem nahen Umfeld standen. Wie sie zeigen konnten, gab es in der Frühen Neuzeit neben den offiziellen Heiligen- und Seligenverehrungen eine Vielzahl lokalspezifischer Personenkulte.40 Dabei lag meistens ein in der lokalen Gesellschaft verankertes, (spät)mittelalterliches Verständnis von Heiligkeit vor, das im Sinne einer »instrumentellen Heilserwartung«41 die Heiligmäßigkeit einer Person daran maß, inwiefern sie als Vermittler zum Transzendenten aufzutreten fähig war. Das entscheidende Kriterium für die Heiligkeit war nicht so sehr die tugendhafte und »christusnahe«42 Lebensführung, wie es das nachtridentinische Heiligkeitsmodell eigentlich vorsah,43 sondern vielmehr die konkrete Wirkmächtigkeit der Heilsvermittlung, etwa die Fähigkeit, mit jenseitiger Hilfe Krankheiten heilen zu können. Nach dem Tod dieser »lebenden Heiligen« war die Verehrung kaum von den kirchlich approbierten Heiligenkulten zu unterscheiden: Es zirkulierten Reliquien, die Grabstätten wurden zum Pilgerort und zuweilen fanden die entsprechenden Kultpraktiken sogar ihren Platz im kirchlich-liturgischen Rahmen.44 Trotz eines regelrechten Aktionismus unter Papst Urban VIII. (1623–1644), der strenge Richtlinien für die Verehrung heiligmäßiger Personen erließ und die Nuntien ermahnte, Missbräuche dem Heiligen Offizium anzuzeigen,45 duldete die römische Kirche solche lokalen Kulte um »im Ruf der Heiligkeit« (fama sanctitatis) stehende Figuren oft stillschweigend, sodass in der Frühen Neuzeit parallel zu kirchlich sanktionierten immer auch nicht oder nur bedingt kirchengebundene katholische Kultformen existierten.

In seiner praktizierten Form war der katholische Glaube in der Frühen Neuzeit damit stets lokal eingebettet, das heißt er orientierte sich an orts- und gesellschaftsspezifischen Frömmigkeitstraditionen, Bedürfnislagen und (religiösen) Normvorstellungen. Diese lokalen Spielarten katholischer Religiosität haben in der neueren Forschung zu Recht große Aufmerksamkeit gefunden, weil sie aufzuzeigen vermochten, dass die nachtridentinische Glaubenswelt mitnichten ausschließlich das Resultat einer obrigkeitlich initiierten religiösen Disziplinierung war, wie dies vor allem Kirchen- und Konfessionalisierungshistoriker angenommen hatten.46 Allerdings hat der eine oder andere Historiker dabei die lokalen Komponenten in der Glaubenspraxis zulasten universal-katholischer Elemente überzeichnet. Zuweilen wurde vergessen, dass in der vor Ort praktizierten Religiosität auch romgebundene Kulte und Glaubenspraktiken eine zentrale Rolle spielten. Viele frühneuzeitliche Katholiken, wie stark sie sich auch mit dem religiösen Brauchtum ihrer unmittelbaren Lebenswelt identifizieren mochten, betrachteten den Papst (in zunehmendem Maße) als oberste Instanz der kirchlichen Heilsvermittlung; den von ihm gesegneten Sakramentalien schrieben sie eine besonders hohe Heils- und Heilungswirkung zu. Eine Pilgerreise nach Rom war nach wie vor – und vielleicht sogar wie nie zuvor47 – ein anzustrebendes Ziel eines erfüllten religiösen Lebens;48 die Nachfrage nach päpstlichen Ablässen49 und römischen Katakombenheiligen50 war enorm hoch.51 Der katholische Glaube in der Frühen Neuzeit war damit nicht nur lokal eingebettet, sondern zugleich auch translokal verflochten, das heißt er war eingebunden in ein gesamtkatholisches, von Rom ausgehendes System der Heilsvermittlung, ermöglicht durch eine grundlegende »Neujustierung symbolischer Ressourcen am päpstlichen Hof«52, die sich seit dem späten 16. Jahrhundert in einem intensiver werdenden informellen und materiellen Austausch zwischen dem römischen Zentrum und den »lokalen Kirchen«53 bemerkbar machte.

Schon früher als andere Fürstenhöfe bildete die päpstliche Kurie innovative, weitgehend zentralisierte Verfahren zur Durchsetzung von Herrschafts- und Kontrollansprüchen auch über territoriale Grenzen hinweg aus. Sie tat dies, indem sie das Potenzial nutzte, das in der Doppelrolle von weltlicher Herrschaft und spirituellem Primat steckte.54 Das unter Sixtus V. (1585–1590) neugeordnete Kongregationswesen verstärkte den römischen Zugriff auf die lokalen Kirchen (zunächst in Italien), etwa mittels Prüfungsverfahren zur Ernennung von Bischöfen und strikten Dispensregelungen für deren Residenzpflicht.55 Papst Gregor XV. (1621–1623) unterstellte die weltweite Missionstätigkeit – zumindest dem Anspruch nach – der römischen Kontrolle;56 Urban VIII. (1623–1644) etablierte die 1588 gegründete Ritenkongregation als über allen Lokalkirchen stehende Autorität von Heiligsprechungen;57 und das seit 1542 bestehende Heilige Offizium wachte streng über die papsttreue Auslegung der Glaubenslehre, indem es von Rom abhängige lokale Inquisitionstribunale einrichtete58. Mit diesem institutionellen Ausgreifen in die Kirchenprovinzen hinein setzte eine kommunikative Verdichtung zwischen dem römischen Zentrum und den Außenposten der römisch-katholischen Kirche ein, die zwar nur ansatzweise erforscht ist,59 die aber so manche Berührungspunkte mit den zeitgleichen, von Markus Friedrich jüngst untersuchten Zentralisierungstendenzen im Jesuitenorden aufweisen dürfte. Der »lange Arm Roms« zeigte sich demnach in »bürokratischen«60 Verfahren der Informationsbeschaffung und im Anspruch der Ordenskurie, möglichst genau über die Verhältnisse in den Provinzen informiert zu sein. Neben der praktischen Funktion, nämlich der Schaffung einer wissensbasierten Entscheidungsgrundlage, besaß das zentralisierte Sammeln und Verwalten von Information auch eine »symbolische Dimension«61: Gegenüber untergeordneten Hierarchiestufen ließ sich so der römische Suprematieanspruch bekräftigen, etwa indem vorgegeben wurde, über welche Instanzenwege, mit welcher Regelmäßigkeit und in welcher Form sich diese zwingend an die römische Kurie zu wenden hatten.62

Wenngleich also außer Frage steht, dass Rom im Verlauf des 17. Jahrhunderts den Zugriff auf die kirchliche Peripherie mit neugeschaffenen Institutionen intensivierte, sind Zweifel an der Reichweite dieser Zentralisierungsbestrebungen angebracht.63 Wie Christian Windler am Beispiel der Persienmission aufzeigt, waren die Kurienkongregationen nur dann in der Lage, ihren Suprematieanspruch auch wirklich geltend zu machen, wenn sie von den Akteuren in der Peripherie de facto angegangen wurden. Andernfalls waren die Handlungsfreiheiten weitab von Rom beträchtlich, »sogar in Schlüsselfragen der Orthodoxie und Orthopraxie«64. Der »lange Arm Roms«, um bei der Metapher von Markus Friedrich zu bleiben, vermochte sich also nur in die Kirchenprovinzen zu erstrecken, falls ihm die Akteure vor Ort – seien es Bischöfe, Missionare oder Pfarrgemeinden – die Hand dazu reichten.65 Zweckdienlich schien diesen Akteuren die Appellation an die römischen Institutionen vor allem dann, wenn sich damit die eigenen Interessen gegen den Widerstand lokaler Konkurrenten durchsetzen ließen. Analog zu weltlichen Herrschaftsverbänden schmälerte die vom Zentrum ausgehende Herrschaftsintensivierung damit die Handlungsmacht subalterner Akteure und Instanzen keineswegs, sondern eröffnete ihnen gleichsam neue Handlungsspielräume.66 Angesichts dessen ist auch für die kirchlichen Zentrum-Peripherie-Beziehungen von vielschichtigen Verflechtungen zwischen unterschiedlichen Handlungsebenen auszugehen. Während in weltlichen Herrschaftsverbänden solche Verflechtungen über die Distanz vor allem personeller Natur waren,67 kannte die Papstkirche als religiöse Institution weitere Mittel der großräumigen Verflechtung. Weil ihre Wirkweisen bisher kaum bekannt sind, setzt sich die vorliegende Studie zum Ziel, die vielschichtigen Beziehungsstränge zwischen Rom als dem Zentrum der katholischen Christenheit und den lokalen Kultgemeinschaften auszuleuchten. Erkenntnisinteresse und analytisches Instrumentarium einer solchermaßen erweiterten katholischen Verflechtungsgeschichte gilt es nachfolgend zu skizzieren.

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