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2. Wie eine Spur aufgenommen und wieder verloren wurde

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London. Westindische Docks. Hell erstrahlte die morgendliche Augustsonne über der gigantischen Hafenanlage. Obwohl sie erst im vorletzten Jahr vollendet wurde, erschien sie fast schon wieder zu klein. So groß waren der Trubel und das Gedränge, das an diesem Morgen hier herrschte.

Dockarbeiter, Fuhrwerke und Karren verstopften die Kais. Unzählige Kisten und Fässer wurden unter den strengen Blicken der Aufseher von Bord der Schiffe gehievt. Was nicht sofort abtransportiert wurde, fand in den riesigen Magazinen und Lagerhallen Platz. Anweisungen wurden gebrüllt. Händler riefen sich Zahlen und Preise zu. Hammerschläge kündeten von Reparaturarbeiten. Der Geruch von Teer und Pech lag in der Luft.

Guter Dinge bahnte sich Alan Abercombe einen Weg durch das geschäftige Treiben. Fast fünf Jahre waren seit jener Nacht im Oktober vergangen, ihre Ereignisse längst in Vergessenheit geraten. Es herrschte die Routine des Tagesgeschäfts. Erst gestern war eine Flotte Westindienfahrer hier eingelaufen, deren Ladung nun gelöscht wurde. Und Abercombe war gekommen, um die Bestände seines Arbeitgebers, Lord Sharinghams, zu überprüfen.

„Guten Morgen, Alan!“ nahm ihn ein Schreiber in Empfang, der an einem kleinen, provisorisch aufgestellten Tischchen mit der Buchführung beschäftigt war. „Sieht nach einer guten Ausbeute aus, diesmal ... die Preise sind auch in Ordnung ... seine Lordschaft wird zufrieden sein...“

„Das freut mich, Mr. Flax.“

„Du wirst dir die Ware sicher ansehen wollen...“

„Deswegen bin ich hier.“

„Geh am besten hinten rum“, sagte der Schreiber und deutete auf ein schmales Gässchen, das zwischen zwei Lagerhäusern hindurch führte. „Wenn du fertig bist, kannst du die Listen gleich mitnehmen...“

„Danke, Mr. Flax.“

Abercombe verschwand in den Durchgang, der zur Hintertür des Warendepots führte. Er war allein, ließ den Lärm der Kais hinter sich.

Ein Mann in einem eleganten schwarzen Gehrock trat vor ihn. Sein Gesicht war von fast makellosem Weiß. Freundlich zog er den Hut vor seinem Gegenüber.

„Mr. Alan Abercombe?“

„Ja“, antwortete dieser, etwas verunsichert.

„...in Diensten Lord Sharinghams?“

„Ja ... wer...?“

Weiter kam Abercombe nicht. Unvermittelt stülpte jemand von hinten einen Sack über seinen Schädel. Das letzte, das er noch spürte, war ein flammender, stechender Schmerz am Hinterkopf.

Ein Schwall Wasser ins Gesicht ließ ihn schließlich wieder zu sich kommen. Er wusste nicht, wo er war. Er saß auf einem Stuhl, der Oberkörper entblößt, Arme und Beine an Lehnen und Stuhlbeine gefesselt. Ein Strick war um seinen Hals gelegt und fixierte diesen an einem hölzernen Stützpfosten, der in dem muffigen Kellergewölbe zur Decke ragte. In einer heruntergekommenen Feuerstelle glimmte ein Kohlenfeuer. Schüreisen steckten in dessen Glut.

Erst jetzt bemerkte er die Schmerzen. Hämmern im Kopf. Das Brennen an Hals, Hand- und Fußgelenken, wo die rauen Stricke langsam in sein Fleisch schnitten. Die Brandwunde an seinen Rippen.

Die Erinnerung kehrte zurück. Beim Lagerhaus hatte man ihm aufgelauert und in dieses Kellerloch verschleppt. Fragen hatte man gestellt, ihn geschlagen und mit glühenden Eisen malträtiert. Dabei musste er das Bewusstsein verloren haben.

„Wie ich sehe, sind Sie wieder bei uns, Mr. Abercombe.“

Mit noch leicht getrübtem Blick erkannte er den elegant gekleideten Herrn, der ihn bei den Docks angesprochen hatte. Selbst in diesem stickigen, schmutzigen Keller wirkte dessen Erscheinungsbild makellos.

„Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen“, presste Abercombe hustend hervor. Wasser tropfte von den nassen Haarspitzen in seine Augen, sodass sein Blick nochmals verschwamm. „Ich habe nichts getan...“

„Tssst, tssst, mein Lieber“, erwiderte der elegante Herr kopfschüttelnd. „Sie sollten uns nicht unterschätzen! Wir haben eine recht genaue Vorstellung davon, was sich in jener Nacht in Bromset Hall zugetragen hat ... der Auftrag, mit dem Sie betraut wurden...“

„Ich weiß nichts ... von einem Auftrag!“

„Vielleicht sollten wir ihn doch ein bisschen härter anpacken, Mr. Diamond“, meldete sich plötzlich ein zweiter Mann zu Wort, der gerade einen leeren Eimer neben einer Wassertonne abstellte. Er war einen ganzen Kopf kleiner als der andere, dafür untersetzt und kräftig, fast schon bullig. Er trug Arbeitshosen und ein ledernes Wams. Er wirkte erhitzt. Puterrot war sein Gesicht.

„Sachte, Mr. Ruby!“ ging der Mann namens Diamond dazwischen. „Sehen wir erst einmal, ob nicht doch die Vernunft siegt! Sehen Sie, Mr. Abercombe“, wandte er sich daraufhin wieder seinem wehrlosen Opfer zu. „Es gab eine schwache Stelle in Sharinghams Plan. Der alte Bromset hatte nicht einmal ansatzweise die Nerven für eine derartige Unternehmung. Bis zu seinem Tod im Frühjahr entwickelte er sich mehr und mehr zu einem mitleiderregenden, zittrigen Wrack. Auf dem Sterbebett konnte er seiner gepeinigten Seele dann endlich Erleichterung verschaffen ... und nach einer kleinen Zuwendung zeigte sich sein Beichtvater mehr als kooperativ! Natürlich war der gerissene Sharingham nicht so dumm, Bromset in die Details seines Planes einzuweihen. Und hier kommen Sie ins Spiel, mein lieber Abercombe...“

„Ich weiß immer noch nicht, wovon Sie sprechen“, entgegnete dieser dumpf.

„Bedauerlich“, seufzte Diamond. „Mr. Emerald ... wenn ich Sie bitten dürfte...“

Ein dritter Mann, der sich bis dahin still in Abercombes Rücken aufgehalten hatte, trat vor. Er war der größte der dreien, hochgewachsen, aber hager. Er machte einen kränklichen Eindruck. Sein blasses Gesicht, in dem eine enorme Hakennase prangte, war von fast grünlicher Farbe. Seine Kleidung wirkte abgetragen, ein wenig schäbig. Er kramte in einer kleinen, dunkelbraunen Tasche, die an die eines Arztes erinnerte. Ein merkwürdiges sichelförmiges Skalpell kam zum Vorschein.

Abercombe bäumte sich auf.

„Ein bemerkenswertes Instrument“, bemerkte Diamond trocken, während Emerald es dem Gefesselten wortlos präsentierte. „Schon die alten Ägypter wussten es vielseitig zu nutzen! Mr. Ruby, würden Sie Mr. Emerald bitte zur Hand gehen...“

Der bullige Mann trat hinter Abercombe, packte ihn an den Oberarmen und drückte ihn fest an die Stuhllehne.

Dieser versuchte sich zu wehren, die Fesseln und die Muskelkraft des grobschlächtigen Ruby machten dies jedoch unmöglich. Panik und schiere Verzweiflung ließen Abercombes Herz rasen, beschleunigten seinen Atem zu einem hechelnden Keuchen.

Mit chirurgischer Präzision setzte Emerald das scharfe Instrument an dessen Brust und schnitt unter die Haut. Die Schreie des hilflosen Opfers hallten durch das Kellergewölbe, sodass man sein eigenes Wort kaum mehr verstand. Mit wenigen, geübten Schnitten entfernte Emerald Abercombes rechte Brustwarze.

Die Männer ließen von ihm ab. Abercombes Schreie verebbten zu einem gequälten Schluchzen. Tränen liefen über sein schmerzverzerrtes Gesicht. Rotz lief aus seiner Nase. Das Blut rann seinen Oberkörper hinab.

„Das ist nur ein kleiner Vorgeschmack dessen, was Mr. Emerald mit diesem Instrument zu leisten vermag“, meldete sich Diamond daraufhin wieder zu Wort. „Dass wir uns recht verstehen, mein lieber Mr. Abercombe ... Ihnen wird sicherlich klar sein, dass Sie diesen Raum nicht lebend verlassen werden! Sie können es sich leicht machen ... oder schwer...“

„Ich weiß nicht, was Sie wollen“, wimmerte dieser.

„Welch bemerkenswerte Loyalität!“ schnaubte Diamond. „Ich frage mich ... ich frage Sie ... würde der edle Sharingham Ihnen gegenüber dieselbe Loyalität an den Tag legen?“

„Ich weiß von nichts!“

„Nun gut.“ Diamond nickte Ruby zu, der ihm erwartungsvoll entgegen blickte. „Ich kann Ihnen versichern, Mr. Abercombe, dass mir das keinerlei Vergnügen bereitet...“

Ruby packte die rechte Hand des Gefesselten und setzte eine schwere Kneifzange am vordersten Glied dessen kleinen Fingers an.

Es gab ein ekelhaft knirschendes Geräusch, das gleich darauf von den markerschütternden Schreien Abercombes übertönt wurde. Er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.

Der hagere Emerald hielt ihm ein Fläschchen Riechsalz unter die Nase.

Wild warf Abercombe den Kopf hin und her (soweit es der Strick um seinen Hals zuließ). Er hustete, kreischte und spuckte, bis er schließlich in sich zusammen sackte. Das blutige Fingerglied baumelte noch an ein paar Hautfetzen von der Hand hinunter.

Ruby legte die Zange beiseite. Er schritt zum Wasserbottich, füllte den Eimer und übergoss den bemitleidenswerten Abercombe erneut.

Blutend, durchnässt und halb ohnmächtig hing dieser in den Seilen. Ruby packte ihn am Haarschopf, damit er Diamond ins Gesicht sehen konnte.

Emerald hielt das Riechsalz bereit.

„Nun, Mr. Abercombe“, sagte Diamond schließlich. „Sie sind sich hoffentlich im Klaren darüber, dass wir dies eine lange Zeit fortsetzen können! Kommen wir also zum Geschäft...“ Er griff in seinen Gehrock und zog ein gefaltetes Papier aus der Innentasche. „Wie ich schon sagte, haben wir ein recht klares Bild über die Ereignisse jener Nacht in Bromset Hall und derer unmittelbaren Folge. Was ich von Ihnen benötige, ist ein Name...“

Abercombe sank in sich zusammen.

Sofort war Emerald mit dem Riechsalz zur Stelle.

Diamond hielt das Papier aus seiner Tasche hoch. „Dies ist die sehr kurze Liste aller in Frage kommender Schiffe, die Englands Häfen im besagten Zeitraum verlassen haben. Ich bezweifle, dass Sie über diese Information verfügen ... mit Ausnahme des richtigen Schiffes, versteht sich! Hier also ist das Geschäft: Sie, Mr. Abercombe, nennen mir den Namen des Schiffes, auf das Sie Sharinghams delikate Fracht verbracht haben ... und Ihre Tortur findet ein schnelles, gnädiges Ende. Sollten Sie auf die Idee kommen, mir einen Namen zu nennen, der sich nicht auf dieser Liste befindet, haben Sie dieses Privileg verspielt! Mr. Ruby und Mr. Emerald werden Ihre Behandlung dann auf unbestimmte Zeit fortsetzen! Es ist Ihre Entscheidung! Aber glauben Sie mir ... so oder so, Sie werden mir den Namen nennen!“

„Fahren Sie zur Hölle!“ stieß Abercombe trotzig hervor.

„Wie Sie wünschen“, erwiderte Diamond gelassen. „Mr. Emerald, ich denke, sein Auge wäre ein guter Anfang...“

Wieder packten Rubys kräftige Hände Abercombes Kopf, um ihn ruhig zu halten.

Langsam näherte sich das sichelförmige Skalpell dessen Gesicht.

Mit allen verbliebenen Kräften versuchte Abercombe zu strampeln, den Kopf abzuwenden, sich zu befreien. Er heulte und spuckte, verlor mehr und mehr die Selbstkontrolle. Er spürte bereits das kalte Metall des Instruments an seinem Augapfel, als er dem Druck nicht länger standzuhalten vermochte.

„‚Lady Prentiss’!“ resignierte er bloß noch.

„Mr. Emerald!“

Sofort zog dieser das Skalpell zurück.

„‚Lady Prentiss’ ... Liverpool“, wiederholte Abercombe geschlagen.

Diamond konsultierte kurz seine Liste.

„Eine weise Entscheidung“, bemerkte er zufrieden.

Ruby griff daraufhin nach einem Stock und stieß ihn hinter den Strick, der Abercombes Hals an den Stützbalken fesselte. Dann begann er, den Stock zu drehen.

Knirschend schnürte die improvisierte Garotte Abercombe die Kehle zu. Ein letztes Mal noch bäumte sich dieser keuchend und röchelnd auf, um nach kurzem Todeskampf endgültig zu erschlaffen.

Seine Blase entleerte sich.

Urin tropfte vom Stuhl hinab.

Diamond schenkte dem keine Beachtung mehr. „Achten Sie darauf, dass Sie keine Spuren hinterlassen, meine Herren“, wies er seine Begleiter lediglich an. „Ich kümmere mich um die letzten Vorbereitungen...“


*


Polynesien. Südlicher Pazifik. Hier, vor der Küste eines kleinen Eilands der Gesellschaftsinseln (nordwestlich von Tahiti), war vor etwas mehr als vier Jahren der Dreimaster ‚Lady Prentiss’ von Anker gegangen. ‚New Manchester’ nannten die Siedler ihre Kolonie, die sie dort nach ihrer Ankunft gründeten; denn aus Manchester und Umgebung waren sie gekommen, um der fortschreitenden Industrialisierung zu entrinnen.

Erst gut dreißig Jahre zuvor war diese Inselgruppe kartiert und für die britische Krone in Besitz genommen worden. Kaum geeignet für die Bedürfnisse des sich ausbreitenden Empire, nannten sie Kritiker aus den Reihen der Admiralität. Schließlich seien die Inseln (wenn überhaupt) bloß von Primitiven besiedelt, die nichts von Wert produzierten.

Den Kolonisten hingegen war das ganz recht. Sie suchten kein zweites England. Phantastische Geschichten hatten sie von den Seeleuten über diese Region gehört: von tropischen Palmenstränden, von fremdartigen Tieren und Pflanzen. Wie Götter sei man von einigen der Eingeborenen empfangen worden. Sie hörten von der Schönheit der polynesischen Frauen, barbusig, nach Kokosöl duftend — was vor allem bei den Junggesellen unter den Siedlern für Eindruck sorgte. Schon ein kleines Stück Metall als Gabe solle ausreichen, damit sich eine der Schönheiten willig hingab. Man erzählte sogar, eines der frühen Entdeckerschiffe sei nach einem Besuch beinahe gesunken, da die Mannschaft derart viele Bolzen, Schellen und Nägel aus dem Schiffskörper entfernt hatte, dass dieses seine Integrität verlor.

Sie hörten aber auch unheimliche Geschichten von Menschenopfern, von denen man Zeuge geworden war. Heidnische Priester sprachen rituelle Formeln über die Opfer, die zuvor mit Knüppeln totgeschlagen wurden. Symbolisch riss man den Leichen ein Auge aus, um so die Göttern zu besänftigen. Die Schädel stellte man auf Altären zur Schau.

Sie hörten von Feindseligkeiten mit manchen Insulanern, die mit Stöcken, Speeren und primitiven Bögen auf die Eindringlinge losgegangen seien, Feindseligkeiten, denen schließlich auch der Entdecker der Inseln zum Opfer gefallen war.

Aber was war das im Vergleich zu der Plackerei in den Kohleminen von Manchester oder Leeds, die für viele der Siedler zur einzigen Möglichkeit des Broterwerbs geworden war? Das mühsame Kriechen durch die engen Stollen. Halbnackt, kniend oder auf dem Rücken liegend die Kohle losbrechen. Der allgegenwärtige Staub, der jede Pore des schwitzenden Körpers verklebte und tief in die Lungen eindrang. Die ständige Gefahr, an plötzlich ausströmenden giftigen Dämpfen und Gasen zu ersticken oder verbrannt zu werden, sollten sich diese an den Flammen der Grubenlampen entzünden. Wie viele gute Männer hatten auf diese Weise bereits ihr Leben verloren?

Und was waren ein paar Schauergeschichten im Vergleich zu der zunehmenden Verödung ihrer Heimat? Das Grün vergangener Tage wich immer mehr dem Grau. Bäume, Felder und Gärten verschwanden. Dampfende Schlote schossen allerorts wie Pilze aus dem Boden. Blei- und Kohleminen, Steinbrüche, Schmelzöfen und Ziegelfabriken. Man hörte das Klappern der mechanischen Webstühle aus den Baumwollspinnereien und überall das Fauchen und Zischen der Dampfmaschinen, die das Antlitz der Welt für immer verändern sollten.

Die Armen schufteten, damit die reichen Fabrikbesitzer noch reicher wurden, bloß um dabei selbst ein jämmerliches Dasein zu fristen.

Keiner der Siedler weinte alledem auch nur eine Träne nach, als sie an einem frostigen Novembermorgen in Liverpool an Bord der ‚Lady Prentiss’ gingen, um der Alten Welt für immer den Rücken zu kehren. Hier, auf ihrer Insel, gab es blütenweiße Strände, kristallklares Wasser und reine Luft. Kokospalmen und Brotfruchtbäume. In den dichten Wäldern tummelten sich wilde Schweine und allerlei Geflügel. Die fruchtbare Vulkanerde erlaubte es endlich wieder, mit eigener Hände Arbeit Gottes Natur sein Brot abzugewinnen.

Dumm nur, dass der dazugehörige Vulkan noch aktiv war!

Seit Tagen schon grummelte und grollte es im Inneren des Berges. Hier und da brachten kleinere Erdstöße New Manchester zum Erzittern. Qualm und Asche stiegen aus dem Krater. ‚Smokey Tom’ hatten die Siedler den Berg getauft, der sich ein paar Meilen landeinwärts in die Höhe reckte. Seit ihrer Ankunft vor gut vier Jahren hatte er immer wieder einmal harmlose Schwaden von Rauch in die Luft geblasen — wie ein altes Väterchen, das nach getaner Arbeit sein verdientes Pfeifchen schmaucht. Nun aber braute sich Schlimmeres zusammen.

Die Eingeborenen der umliegenden Inseln mieden das Eiland der weißen Siedler. Für sie war es ein unheimlicher Ort, der Krater des Vulkans ein Durchgang zum Reich der Toten, wo sich die Geister der Verstorbenen trafen. (Der Grund dafür, dass diese Insel unbesiedelt blieb.) Bald würde die Zeit gekommen sein, dass die Geister den Frevel der Fremden sühnten!

Obwohl die Siedler derartigem Aberglauben wenig Beachtung schenkten, stieg die Nervosität von Tag zu Tag.

Ein kleines Handels- und Versorgungsschiff, die ‚Lucretia’, hatte gerade am Pier von New Manchester festgemacht. Immer wieder, in unregelmäßigen Abständen, besuchten solche Schiffe die Insel, um Waren zu tauschen: zumeist Stoffe, Saatgut und Gebrauchsgegenstände, die sie auf ihren Reisen durch die ausgedehnte polynesische Inselwelt aufgenommen hatten oder aus der Heimat mit sich führten, gegen Verpflegung und Trinkwasser. Normalerweise verliefen diese Besuche geruhsam, erstreckten sich über mehrere Tage, manchmal sogar einige Wochen. Die Seeleute genossen den Landgang und die Gastfreundschaft der Siedler (besonders den selbstgebrannten Zuckerrohrschnaps des Schankwirts Chestwick) und revangierten sich dafür mit Geschichten und allerlei Seemannsgarn aus der großen, weiten Welt. Manchmal wurden Reparaturen und Ausbesserungsarbeiten an den Schiffen durchgeführt, bei denen sich die Handwerker New Manchesters ein kleines Zubrot verdienen konnten.

Aber nicht diesmal. Die Mannschaft der ‚Lucretia’ wirkte rastlos. Immer wieder wanderten die Blicke gen Himmel zu Smokey Toms rauchendem Schlot. Hastig, unter dem beständigen Antrieb des Bootsmanns verluden die Männer den nötigsten Proviant, um möglichst schnell wieder in See stechen zu können.

Der Kapitän, ein erfahrener Seebär namens Ebenezer Hoydt, wusste, was er tat. Es war nicht der immanente Ausbruch des Vulkans, der ihm die größten Sorgen bereitete. Sollte sich jedoch die Eruption ereignen, solange die ‚Lucretia’ am Pier der Siedlung lag und die unvermeidliche Panik losbrechen, würde ein wahrer Sturm auf sein Schiff beginnen. Dieses war bei weitem nicht groß genug, um alle Einwohner New Manchesters aufzunehmen. Fast 200 Seelen zählte das Dorf inzwischen. Zu den ursprünglich 50 Siedlern, die von Bord der ‚Lady Prentiss’ hier an Land gegangen waren, hatten sich mittlerweile weitere Auswanderer aus aller Herren Länder gesellt. Kinder waren hier geboren worden. Ein solcher Sturm auf die ‚Lucretia’ würde das kleine Schiff schneller ins Verderben stürzen, als jeder Vulkan dies vermochte.

Diese Überlegungen jedoch behielt Käpt’n Hoydt für sich, als er am Pier mit den Dorfältesten konferierte. Auch diese zeigten sich bestürzt über die raschen Aufbruchspläne des Kapitäns. Obwohl sie dessen wahre Beweggründe vermutlich längst erraten hatten, wagte zunächst niemand, das Offensichtliche auszusprechen. Chestwick, der Wirt der Dorfschenke, meinte, man dürfe der Mannschaft nicht die Ausschweifungen des Landgangs vorenthalten, wolle man keine Meuterei riskieren. Der Vikar Goodwill, ein verhinderter Missionar, der auf der Inselwelt wenig zu missionieren vorgefunden hatte, lamentierte, die Seeleute könnten nicht weiterreisen, ohne zumindest den Gottesdienst besucht zu haben. Fullerton, der Doktor, bemerkte, die Mannschaft der ‚Lucretia’ brauche dringend ein wenig Ruhe und gehaltvolle Ernährung, um nicht der gefürchteten Skorbut anheim zu fallen.

Aber all das war fadenscheinig, und die Männer wussten es. So war es schließlich der örtliche Tischlermeister, Nicholas Plumpton, der das unbequeme Thema zur Sprache brachte. Er war der einzige der vier Dorfältesten, der selbst eine Familie besaß. Zusammen mit seiner Frau Elizabeth und Söhnchen Charles, der damals nicht viel mehr als ein Säugling war, gehörte er zu den ersten Siedlern, die seinerzeit die Kolonie gründeten.

„Sie könnten wenigstens versuchen, die Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen, Käpt’n!“

Hoydt schwieg betreten. Er fühlte sich ertappt. Beschämt blickte er hinauf in den strahlend blauen Tropenhimmel, in den sich kerzengerade die weißgraue Rauchsäule des Vulkans erhob.

„Wie viele?“ fragte er schließlich, ohne einen der Männer anzusehen.

„Etwa 80 ... 90.“

„Zu viele!“

„Sie könnten sie in kleinen Gruppen auf die Nachbarinseln schaffen“, schlug Plumpton vor.

Noch einmal sah der Kapitän zu dem rauchenden Schlot auf.

„Zu wenig Zeit!“

„Der Allmächtige wird über uns wachen!“ warf der Vikar ein.

„Was Sie nicht sagen“, schnaubte Hoydt. „Ich, an Ihrer Stelle...“

Ein finsteres Grollen des Berges ließ ihn verstummen. Der Erdboden unter ihren Füßen begann zu zittern. Heftiger und heftiger wurden die Erdstöße. Wie ein wildes Pferd, das verzweifelt versuchte, seinen Reiter abzuwerfen, bäumte sich der Grund unter ihnen auf. Um ihr Gleichgewicht ringend, begannen die Männer zu taumeln. Die Stöße des Bebens setzten sich ins Meer fort. Die kleine ‚Lucretia’ tanzte förmlich auf den Wellen, schlug ein ums andere Mal an den Pier an. Dessen Planken knarrten und ächzten unter der Naturgewalt.

Die Matrosen, die damit beschäftigt waren, Vorräte an Bord des Schiffs zu schaffen, ließen erschrocken von ihrer Arbeit ab. Ein großes Netz voller Kisten und Fässer, das gerade an Deck gehievt werden sollte, krachte auf den Landungssteg, um schließlich im Meer zu versinken. Hölzerne Käfige mit Geflügel barsten. Gackernd und schnatternd versuchte das Federvieh davonzuflattern. Eingepferchte Schweine quiekten.

Man hörte jetzt auch Schreie aus dem nahegelegenen Dorf. Einige der weniger soliden Holzhütten hatte das Beben bereits zum Einsturz gebracht. Schwankend strömten die Siedler ins Freie. Stolpernd, stürzend. Eine Erdspalte riss auf, um einige von ihnen zu verschlingen.

Dann folgte die Eruption. Nach einem letzten, zornigen Grollen spie Smokey Tom eine gewaltige Fontäne aus Asche, Rauch und feurigem Gestein in die Luft. Erneut schrieen die Menschen in Panik auf. Im Nu breitete sich eine graue Wolke am Himmel aus, verfinsterte die Sonne. Die ersten Gesteinsbrocken regneten auf das Dorf nieder, erschlugen einige der Flüchtenden. Hütten gingen in Flammen auf, als die glühenden Klumpen durch die nur mit einem Geflecht aus getrockneten Palmblättern gedeckten Dächer krachten.

Die Männer stürzten zurück ins Dorf, um ihren Mitbewohnern, Freunden und Familien beizustehen. Das Erdbeben verklang, die Gewalt des ersten Ausbruchs schien überstanden. Ruß und Rauch aus dem Schlot des Vulkans verdunkelten weiterhin den Himmel, als sei eine verfrühte Nacht angebrochen.

Dann plötzlich begann es zu schneien. Dicke, warme Flocken weißgrauer Asche legten sich über New Manchester. Ein dichtes Treiben, wie man es sonst nur aus den strengen Wintern der alten Heimat kannte.

Fasziniert verfolgte die Mannschaft der ‚Lucretia’ das Schauspiel, das sich vor ihren Augen abspielte.

Käpt’n Hoydt jedoch zögerte keinen Augenblick.

„Alles bereit zum Ablegen!“ zischte er seinem Bootsmann zu.


„...und siehe, ich will einen großen Hagel regnen lassen, desgleichen in Ägypten nicht gewesen ist, seitdem es gegründet...“

Eine Anzahl verängstigter Siedler hatte in Vikar Goodwills Kapelle Zuflucht gesucht, die wie durch ein Wunder der Zerstörung bislang entgangen war. Dicht gedrängt warteten sie hier auf Beistand und Zuspruch.

„...und nun sende hin und verwahre dein Vieh, und alles, was du auf dem Felde hast“, rezitierte der Vikar. „Denn alle Menschen und das Vieh, das auf dem Felde gefunden wird und nicht in die Häuser versammelt ist, sodass der Hagel auf sie fällt, werden sterben. Wer nun unter den Knechten Pharaos des Herrn Wort fürchtete, der ließ seine Knechte und sein Vieh in die Häuser fliehen...“

Erneut erklang ein finsteres Grollen vom Vulkan. Erneut ließen einige Erdstöße die Menschen erzittern.

„...und der Herr ließ es donnern und hageln, dass das Feuer auf die Erde schoss, dass Hagel und Feuer untereinander fuhren, so grausam, dass desgleichen in Ägyptenland nie gewesen war. Und der Hagel schlug alles, was auf dem Felde war, Menschen und Vieh, und schlug alles Kraut und zerbrach alle Bäume. Allein im Lande Gosen, da die Kinder Israels wohnten, da hagelte es nicht...“

Draußen im Dorf herrschte das Chaos. Einige der Hütten brannten lichterloh. Während die einen versuchten, die Brände zu löschen, versuchten andere, ihr spärliches Hab und Gut in Sicherheit zu bringen. Wiederum andere suchten in den eingestürzten Häusern nach Verschütteten. Fullerton, der Doktor, und eine Handvoll Freiwilliger hasteten rastlos umher, um sich um Verletzte zu kümmern. Ein neuerliches Beben und Grollen kündigte weiteres Unheil an.

„...selig ist, der da wacht und hält seine Kleider, dass er nicht bloß wandle und man nicht seine Schande sehe“, predigte der Vikar. „Und er hat sie versammelt an einem Ort, der da heißt auf hebräisch Harmagedon...“

„Elizabeth!“ Endlich hatte Plumpton, der Tischler, seine Frau gefunden. Sie hielt ihren bald fünfjährigen Sohn im Arm und eilte ihrem Gatten entgegen. Einige Männer und Frauen aus der Nachbarschaft folgten ihr.

„Elizabeth! Schnell!“ keuchte Plumpton, außer Atem. „Bring Charlie zum Schiff, bevor die große Panik ausbricht...“

„Aber, Nicholas...“

„Nein, Elizabeth! Sofort! Käpt’n Hoydt wird nicht warten! Er wird umgehend auslaufen!“

Ein Raunen des Entsetzens ging durch die umstehenden Siedler.

„Anna! Lauf, und such deinen Vater!“ rief Mrs. Jørgensen, die direkte Nachbarin der Plumptons, der älteren ihrer beiden Töchter zu.

„Nein, Hilda!“ ging Plumpton dazwischen. „Denk an die Mädchen! Rasch!“

„Nicholas hat recht!“ meldete sich daraufhin ein Mann namens O’Rourke. „Geh, Hilda! Ich suche nach Sven...“ Damit rannte er zurück ins Dorf.

„Nun macht schon!“ trieb Plumpton die Übrigen an, während das Donnern und Grollen vom Vulkan lauter wurde. „Wir haben keine Zeit! Wenn das Schiff ablegt, sind wir alle verloren!“

Widerwillig setzte sich die Gruppe in Bewegung und lief auf den Pier zu.

Plumpton nahm seiner Frau das Kind ab, fasste sie bei der Hand und zog sie mit sich. Durch den anhaltenden Ascheregen, der mittlerweile eine mehrere Zentimeter dicke Schicht auf dem Boden gebildet hatte, liefen sie der rettenden ‚Lucretia’ entgegen.

Man sah nun, dass diese bereits ihren Anker lichtete. Matrosen machten sich daran, die Leinen zu lösen.

„Schneller!“ stieß Plumpton hervor und packte die Hand seiner Frau fester.

Wieder brachte ein Donnerschlag vom Vulkan die Erde zum Erbeben.

Elizabeth knickte um, stolperte und stürzte. Es gab ein Knacken, als sei ein Knochen gebrochen. Plumpton setzte das Kind ab und versuchte, seiner Frau aufzuhelfen.

„Mein Knöchel!“ stöhnte diese nur.

„Komm schon! Wir müssen weiter!“ drängte ihr Mann.

„Ich kann nicht!“

Der Boden unter ihnen begann nun zu vibrieren, als wollte es ihn entzwei reißen.

„Nicholas! Bring Charlie in Sicherheit!“

„Ich lasse dich nicht zurück!“

Immer heftiger wurde die Vibration.

„Nicholas ... ich flehe dich an!“

Sie reichte ihrem Mann eine kleine Tasche, die sie bei sich trug.

„Mami!“ weinte das Kind.

Wieder ein Erdstoß.

Plumpton nahm das Täschchen an sich und packte den Jungen.

„Ich komme zurück ... dich holen!“ ließ er seine Frau unter Tränen wissen.

Dann, in einer gewaltigen neuerlichen Eruption, explodierte der Berg.

„...und der siebente Engel goss seine Schale in die Luft“, verkündete der Vikar.

Ängstlich drängten sich seine Schützlinge um ihn.

„...und es ging aus eine Stimme vom Himmel, die sprach: Es ist geschehen. Und es wurden Stimmen und Donner und Blitze, und es ward ein solches Erdbeben, wie solches nicht gewesen ist, seit Menschen auf Erden wandeln. Und alle Inseln entflohen, und keine Berge wurden gefunden. Und ein großer Hagel, wie ein Zentner, fiel vom Himmel auf die Menschen, und die Menschen lästerten Gott über die Plage des Hagels, denn seine Plage war sehr groß...“

Eine superheiße Lawine aus Gas, Staub und Feuer raste die zerklüfteten Abhänge des Vulkans hinab, direkt auf New Manchester zu. Gnadenlos verschlang sie alles auf ihrem Weg. Die Baumstämme des Urwalds knickten wie Streichhölzer und verglühten zu Kohle.

„Segel setzen! Alles, was da ist!“ brüllte Käpt’n Hoydt.

„Nein!“ schrie Nicholas Plumpton, der Augenblicke zuvor als einer der letzten an Bord der ‚Lucretia’ gegangen war. „Ich muss zurück! Elizabeth!“

„Sind Sie wahnsinnig, Mann?“ fauchte der Kapitän, während zwei der Seeleute versuchten, den Tischler festzuhalten. „Wir können von Glück sagen, wenn wir heil davonkommen! Los, los, ihr faulen Säcke!“ fuhr er seine Matrosen an. „Es geht um unser Leben!“

Hilflos mussten sie mit ansehen, wie die todbringende Lawine auf ihr Dorf und die zurückgelassenen Siedler zurollte. Schreiende Menschen liefen auf den Pier zu, von dem die ‚Lucretia’ soeben abgelegt hatte.

„...und der Herr, der Gott der Geister und Propheten, hat seinen Engel gesandt, zu zeigen seinen Knechten, was bald geschehen muss. Siehe, ich komme bald. Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende, der Erste und das Letzte. Selig sind, die seine Gebote halten, auf das sie Macht haben an dem Holz des Lebens und zu den Toren eingehen in die Stadt. Denn draußen sind die Hunde und die Zauberer und die Hurer und die Todschläger und die Abgöttischen und alle, die liebhaben und tun die Lüge...“

Damit brach das Inferno über die Siedlung herein. Es gab kein Entrinnen. In Sekunden hüllte der Feuersturm alles ein, blies Gebäude, Vieh und Vegetation davon. Letzte Atemzüge verbrannten die Lungen, Kleidung brannte an den Körpern, reduzierte sie zu grauen Klumpen, die nur noch entfernt menschliche Züge trugen. Asche und Felsbrocken prasselten hernieder, um alles unter sich zu begraben.

Fassungslos blickten die Überlebenden an Bord der ‚Lucretia’ auf die schwarze Wolke, die sich nun über ihrem Zuhause ausbreitete. Die Druckwelle der Explosion und ein günstiger Wind vom Landesinneren hatten das kleine Schiff gerade weit genug aufs offene Meer getrieben, um der eigenen Vernichtung zu entgehen. Doch selbst aus der Distanz spürte man noch die Hitze der tödlichen Wolke. Hustend und keuchend rangen die Menschen nach Luft. Kleinste Partikel von Ruß und Asche machten das Atmen schwer. In einiger Entfernung, am zerstörten Pier New Manchesters, sah man leblose Gestalten im Wasser treiben.

Weinend und schluchzend lag der kleine Charlie Plumpton in den Armen von Katrina, der jüngeren der beiden Jørgensen-Töchter, während sein Vater dumpf über die Reling des Schiffes starrte.

„Mami!“ wimmerte der Kleine erneut.

Plumpton wandte sich um und nahm dem Mädchen das Kind ab.

„Nicht weinen, mein Junge“, flüsterte er, selbst um Fassung ringend.

„Mami ist jetzt an einem besseren Ort...“


*


„Die Riemen ... zieht ein!“

Sanft glitt das Beiboot auf den Strand der Insel, die einst die Siedlung New Manchester beherbergte. Seit Monaten schon, seit dem verheerenden Ausbruch des Vulkans, war hier kein Schiff mehr vor Anker, kein Mensch mehr an Land gegangen. Nun lag dort Ihrer Majestät Schiff ‚Discovery’.

Ihr Kapitän kannte diese Gewässer. Schon gut zwanzig Jahre zuvor hatte er sie erstmals als junger Fähnrich-zur-See befahren.

Von Plymouth aus verfolgte man die Route, die seinerzeit die ‚Lady Prentiss’ genommen hatte: Zuerst nach Funchal auf der Insel Madeira, von dort aus quer über den Atlantik nach Rio de Janeiro, um ein letztes Mal die Vorräte aufzustocken. Dann der lange Weg an Feuerland vorbei, um das Kap Hoorn in den Südpazifik. Nach einem kurzen Zwischenstopp auf Tahiti drang man schließlich in die Gruppe der Gesellschaftsinseln vor.

Eine lange Fahrt fand endlich ihr Ende.

„Bleiben Sie beim Boot!“ wies Diamond die Matrosen an, die ihn und seine zwei Begleiter von der ‚Discovery’ übergesetzt hatten.

Nur noch Weniges erinnerte daran, dass hier vor nicht allzu langer Zeit eine Siedlung gestanden hatte. Eine schwarze Zunge erkalteter, erstarrter Lava erstreckte sich von den Hängen des Berges bis zum Meer; ringsum die breite Schneise, die der pyroklastische Sturm der fatalen Eruption geschlagen hatte.

Verbrannte Erde.

Langsam schritten die drei Männer über das Feld der Verwüstung. Hier und da konnte man noch die Grundrisse einiger Hütten und Blockhäuser erkennen. Die verkohlten Stümpfe der Baumstämme, die als Stützpfeiler der Hauswände dienten, steckten noch im Boden. Reste von Möbelstücken, Metallgegenstände lagen verstreut. An einer Stelle fand man einen umgestürzten gusseisernen Ofen.

Zartes Grün spross aus dem geschwärzten Grund. Die Natur hatte bereits damit begonnen, diesen Ort wieder für sich zu beanspruchen.

In einem Gebüsch am Rande der Schneise regte sich etwas.

„Mr. Ruby!“ reagierte Diamond sofort.

Mit einer Schnelligkeit und Behändigkeit, die man einem solch bulligen Kerl kaum zugetraut hätte, eilte Ruby dem Ursprung des Geräusches entgegen.

Blätter raschelten, Zweige knackten.

Etwas oder jemand schien die Flucht zu ergreifen.

„Ah!“ ertönte plötzlich der Aufschrei einer menschlichen Stimme.

Augenblicke später schleifte Ruby eine verwahrloste Gestalt aus dem Unterholz.

„Lass los, du Klotz!“ wetterte ein gebeuteltes, strampelndes Männlein.

Es war Chestwick, der Schankwirt des Dorfes. Der kleine, selbst ausgehobene Keller seines Wirtshauses, den er üblicherweise als Vorratskammer nutzte, hatte sein Leben gerettet, als der Feuersturm über die Siedlung fegte. Er war verdreckt, in Lumpen gekleidet. Lange Strähnen verklebten Haars baumelten in sein Gesicht, das hinter einem dichten, verfilzten Bart verborgen war. Er war unterernährt, nur noch Haut und Knochen. Nicht in der Verfassung, dem Griff des kräftigen Ruby zu entrinnen, der ihn fest am Kragen gepackt hatte.

„Was ist hier geschehen?“ fragte Diamond, ohne Umschweife.

„Geschehen? Komische Frage!“ gluckste Chestwick. „Wonach sieht es denn aus?“

„Beantworte die Frage, Alter!“ grunzte Ruby und versetzte dem Wirt einen Klaps auf den Hinterkopf.

„Aua! Lass das, du Grobian!“

„Mr. Ruby, bitte!“ ging Diamond dazwischen. „Verzeihen Sie die schlechten Manieren meines Begleiters, mein Herr. Aber wir müssen wirklich wissen, was sich hier zugetragen hat...“

„Zugetragen?“ sinnierte der Wirt. „Oh ... ja! Bumm! Große Explosion! Feuer! Überall! Alles weg...“

„Gibt es weitere Überlebende?“

„Was?“

„Sind Sie hier allein?“

„Wer?“

„Allein! Nach der Explosion und dem Feuer ... waren Sie da allein?“

„Oh, nein!“

Wild schüttelte Chestwick mit dem Kopf.

„Sven ... und O’Rourke, der irische Mistkäfer ... in meinem Keller...“

„Und wo sind sie jetzt?“

„Wer?“

„Dieser Sven ... und dieser O’Rourke! Was ist mit ihnen?“

„Oh ... tot! Traurig!“ seufzte der Wirt. „Sven hat was gebissen. O’Rourke? Fieber, glaub ich...“

Gedankenverloren strich er durch seinen Bart.

„...oder war es umgekehrt?“

„Und sonst war da niemand?“ erkundigte sich Diamond weiter.

„Wie?“

„Sonst ist niemand davongekommen?“

„Hmm...“

Versonnen starrte Chestwick ins Leere.

„...da war ein Schiff ... O’Rourke hat gesagt, Svens Familie sei auf dem Schiff...“

„Da war ein Schiff?“ wurde Diamond hellhörig.

„Ja ... ein Schiff“, murmelte Chestwick.

Er schien meilenweit entfernt.

„...ist einfach davongesegelt...“

„Erinnern Sie sich an den Namen des Schiffes?“

„Welches Schiff?“

„Versuch nicht, uns für dumm zu verkaufen, Alter!“ verlor Ruby daraufhin die Beherrschung.

„Ich glaube nicht, dass er uns etwas vormacht, Mr. Ruby“, mischte sich Emerald ein. „Der Mann ist offensichtlich gestört. Der Schock ... die Isolation. Nervenfieber, würde ich sagen. Möglicherweise Sonnenstich...“

„Sie sind der Experte“, schnaubte sein Begleiter.

„Wer sind Sie?“ fragte Chestwick, als hätte man ihn gerade aus dem Schlaf gerissen.

Diamond nahm einen tiefen Atemzug.

„Wir sind auf der Suche nach ein paar lieben Freunden von uns, guter Mann“, erwiderte er geduldig. „Vielleicht können Sie uns weiterhelfen. Es sind die Plumptons ... Nicholas und Elizabeth ... und ihr kleiner Sohn ... Charles Philip...“

„Oh ... der kleine Charlie!“ stieß Chestwick hervor.

„Ganz recht“, entgegnete Diamond. „Wissen Sie, was aus dem kleinen Charlie...?“

„Wer ist Charlie?“

„Es hat keinen Zweck!“ bemerkte Emerald kopfschüttelnd. „Wir können hier noch stundenlang stehen und reden ... und würden doch nicht schlauer werden. Vielleicht gab es ein Schiff, auf dem einige der Siedler entkommen konnten ... vielleicht auch nicht.“

„Ich fürchte, Sie haben recht, Mr. Emerald“, seufzte Diamond. „Mr. Ruby, bitte erlösen Sie den Mann von seinem Elend...“

„Sehr gern, Mr. Diamond!“

Ruby zog ein Messer, packte sich den Wirt und schleppte diesen zurück ins Gebüsch.

„Hey! Was soll d...“

„Falls es tatsächlich ein Schiff gab ... könnten sie jetzt überall sein“, grübelte Diamond.

„Vielleicht sind sie einfach bei dem Ausbruch ums Leben gekommen“, erwiderte Emerald.

„Vielleicht“, sinnierte Diamond. „Vielleicht auch nicht...“

Die Irrfahrt des Charles Philip Plumpton

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