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4. Heimkehr

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Die ersten Strahlen der Morgensonne weckten sie auf. Seicht wogte die Brandung auf den Strand. Sie befanden sich in einer engen Bucht. An deren nördlichen Ende ragte eine felsige Landzunge ins Meer. Davor, im flachen kristallklaren Wasser, erkannte man Korallenbänke. In südlicher Richtung endete der Sandstrand etwa hundert Meter weiter in einer kleinen Spitze. Der Urwald in ihrem Rücken rahmte alles ein.

Unter einigen Palmen hatten Charles und Emma ihr Lager aufgeschlagen. Das Feuer war inzwischen ausgebrannt. Stumm knabberten sie an etwas Schiffszwieback, den sie halbwegs trocken von Bord der ‚Trafalgar’ retten konnten. Er schmeckte salzig. Sie tranken Wasser aus einer Feldflasche, die sie ebenfalls dort ergattert hatten.

„Als erstes sollten wir rausfinden, wo genau wir hier eigentlich sind“, sinnierte Emma.

Ihre überschüssige Kleidung lag auf der Oberfläche eines schweren Findlings ausgebreitet, der sich irgendwie hierher verirrt hatte. Mittlerweile war sie getrocknet. Sie schlugen ihre Decken aus und verschnürten alles wieder zu Bündeln. Emma schlüpfte in ihre Stiefel.

Sie gingen zur Südspitze des Strandes. Dort angekommen, sahen sie, dass dieser Teil einer noch größeren Bucht war. In einiger Entfernung konnten sie an Land Gebäude ausmachen. Aus einem Schornstein stieg Rauch.

„Hey, das ist die Rumbrennerei!“ platzte es aus Charlie heraus. „Dann muss das hier Westerhall Bay sein! Von der Brennerei führt ein Weg direkt nach Coopersville ... da wohne ich ... es sind nur ein paar Meilen! Wenn wir uns hier durch den Wald schlagen, müssten wir auf die alte Küstenstraße stoßen ... von da ab ist es ein Kinderspiel! Meine Leute haben ein Gasthaus ... ‚The Journeymen’s Table’ ... du kannst dort erst mal bleiben, wenn du willst...“

„Danke ... aber ich treffe einen Freund in St. George’s“, entgegnete Emma, kurz angebunden.

„Oh...“ Charlie war ein wenig vor den Kopf gestoßen. Natürlich hätte ihm klar sein müssen, dass es einen Grund dafür gab, warum seine Begleiterin ursprünglich auf die Insel kommen wollte.

Aber was war das für ein ... ‚Freund’?

„Wie auch immer“, wischte Charlie diesen Gedanken erst einmal beiseite. „Wir sollten trotzdem zuerst zu mir gehen ... uns frisch machen ... was Vernünftiges essen. Ich möchte dich meiner Familie vorstellen...“

„Besser nicht.“

Charlie konnte seine Enttäuschung kaum verbergen. Er hatte nicht damit gerechnet, so schnell Abschied nehmen zu müssen.

„Wenn das so ist ... zur Straße geht es dort entlang“, erwiderte er schließlich matt und deutete auf den Waldrand.

„Warte“, sagte Emma.

Sie zog ihre Hose runter, hockte sich hin und pinkelte in den Sand.

Noch nie hatte Charlie eine Frau urinieren sehen. Er musste feststellen, dass es ihn irgendwie erregte. Ihre absolute Gleichmütigkeit, das Fehlen jedweder Hemmungen verstörte ihn im selben Maße, wie es ihn fesselte.

„Was?“ Fragend sah sie zu ihm auf. „Glaubst du etwa, ich lasse mir im Wald von irgendwelchem Viehzeug in den Hintern beißen?“


Es dauerte eine Weile, bis sie endlich die Straße erreichten. Immer wieder zwang sie der dichte Dschungel zu Umwegen, wenn es an bestimmten Stellen kein Durchkommen durch das Dickicht gab. Verschwitzt und mit Schrammen übersäht traten sie schließlich ins Freie. Ein Hauch von Zimt und Muskat lag in der Luft. Nicht umsonst nannte man Grenada die ‚Gewürzinsel’. Der beständig wehende Passatwind trieb den Duft von den Plantagen im Norden über das Land. Er machte auch die Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit erträglich.

Die Küstenstraße war nicht viel mehr als eine breite, festgetretene Schneise im Urwald. Spuren von Hufen und Karren waren in die trockene Erde eingebrannt. Jetzt im Oktober, inmitten der Regenzeit, kam es immer wieder vor, dass heftige Regengüsse die Straße in ein kaum passierbares Meer aus Schlamm verwandelten. Zum Glück dauerten die Schauer nie besonders lange an, und die Tropensonne sorgte dafür, dass die Wege rasch wieder begehbar wurden.

Charles und Emma wandten sich gen Süden.

„Es ist vielleicht besser, wenn du niemandem erzählst, dass wir uns begegnet sind“, begann sie auf einmal.

Seit ihrem Aufbruch vom Strand hatten sie so gut wie nicht gesprochen.

„...am besten wird sein, du erzählst überhaupt nichts von dem Angriff gestern!“

„Aber man wird mich doch fragen“, entgegnete Charlie. „Man wird sich wundern, dass außer mir niemand heimgekehrt ist.“

„Sag einfach, das Schiff sei gesunken ... etwas in der Art ... das Schiff ist gesunken, und du bist als einziger davongekommen. Lass dir was einfallen! Das Wichtigste ist, erzähl niemandem von mir!“

Charlie nickte betreten.

„Das heißt dann wohl, dass wir uns nicht wiedersehen?“

Er ließ den Kopf hängen.

„Hey, guck nicht so“, sagte Emma sanft. „Vertrau mir ... es ist besser so! Es ist gut möglich, dass die Attacke mir gegolten hat...“

Charlie seufzte und zuckte mit den Achseln.

„...und was immer du tust ... sei wachsam, Plum!“

Stumm gingen sie weiter, bis sie schließlich eine Kreuzung erreichten. Aus östlicher Richtung mündete hier der Weg von der Rumbrennerei. Ein mit Fässern beladener Eselskarren kam von dort auf sie zu.

„Nach Coopersville geht es...“

Ehe er ausgesprochen hatte, musste Charlie feststellen, dass Emma verschwunden war. Er blickte sich um. Nirgends eine Spur von ihr. Er war allein auf der staubigen Straße. Kein Zweig regte sich im angrenzenden Wald.

Noch einmal seufzte er tief.

Sie hätte wenigstens Lebewohl sagen können!

Niedergeschlagen nahm er den Weg nach Westen — nach Hause.


„Na, wenn das nicht Charlie Plumpton ist!“

Ratternd hatte der Eselskarren zu ihm aufgeschlossen. Auf dem Kutschbock saß ein dicker Mann in Hochwasserhosen, verschlissener Weste und einem zerfransten Strohhut.

„Mr. Barthelmé!“

Seit Charlie sich zurückerinnern konnte, hatte der Mann die Rumlieferungen für das heimische Gasthaus getätigt.

„Mein Gott, Charlie! Was ist denn mit dir passiert?“ Schmunzelnd musterte ihn der Dicke, schmutzbeschmiert, wie er war: die Stirn zerkratzt, sein Hemd zerrissen. „Bist du in der Wildnis verloren gegangen?“

„So ähnlich...“

„Komm, spring auf! Ich fahre sowieso in deine Richtung!“

Charlie kletterte auf den Wagen.

Barthelmé schwang eine dünne Peitsche, worauf sich der Esel blökend in Bewegung setzte.

„Seit wann bist du wieder zu Hause?“

„Gerade erst angekommen“, gab Charlie zur Antwort.

„Oh ... das wusste ich nicht.“ Irgend etwas schien Barthelmé unangenehm zu sein. Unruhig rutschte er auf seinem Sitz umher.

„Stimmt was nicht?“ fragte Charlie.

„Ah ... ach nichts!“ winkte Barthelmé ab. „Du weißt ja, wie es ist ... ein ständiges Auf und Ab ... mal gewinnt man, mal verliert man. Letzte Woche, zum Beispiel, hat es fast jeden Tag geschüttet wie aus Eimern ... kannst dir ja vorstellen, wie da die Straßen ausgesehen haben! Bin kaum noch mit meinen Lieferungen nachgekommen! Aber, glaubst du, die Leute hätten Verständnis dafür? Meckern und meckern...“

In diesem Stil plapperte er weiter, bis sie schließlich das Dorf erreichten.

„Danke fürs Mitnehmen, Mr. Barthelmé“, sagte Charlie und sprang vom Bock.

„Keine Ursache“, erwiderte dieser. „Du kannst John ausrichten, ich komme auf dem Rückweg vorbei und bringe seine Sachen.“

„Mach ich.“

Das Gespann setzte sich wieder in Trab.

Es fühlte sich seltsam an, nach den Monaten auf See wieder daheim zu sein. Alles war wie immer, und doch kam man sich irgendwie fremd vor.

Sein Bündel in der einen Hand, die andere in der Hosentasche, schlenderte Charlie den Weg zum Gasthaus entlang. Vorbei an den vertrauten Fassaden der bescheidenen Häuschen. Vorbei am Schweinepferch des alten Donnelly mit seinem dampfenden Misthaufen. Die Leute grüßten ihn freundlich, auch wenn sein ramponiertes Erscheinungsbild den einen oder anderen befremdlichen Blick auf sich zog. Gackernd liefen ein paar von Mrs. MacMillans Hühnern über die Straße. Offenbar hatte diese ihren Hühnerstall noch immer nicht reparieren lassen. Vorbei an der Hütte von Rupert, dem Nachtwächter, der jeden Abend auf ein Bier ins ‚Journeymen’s’ kam, nachdem er die Laternen im Dorf angezündet hatte. Hammerschläge drangen aus O’Neills Schmiede und der Werkstatt von Mr. Strickland, dem Küfer. Der verrückte Bauer Hollum führte wie jeden Tag seine beste Milchkuh spazieren.

Dann endlich stand er vor dem heimischen Gasthof. ‚The Journeymen’s Table’ war eine umgebaute hohe Scheune. Tagsüber — so auch heute — waren die großen Tore weit geöffnet, damit Licht und Luft in den Schankraum dringen konnten. Zur rechten Seite und nach hinten heraus hatte es Anbauten aus Ziegel. Darin befanden sich Küche, Wohnräume und Gästezimmer.

Ein Aufschrei des Entzückens erklang aus dem Inneren der Schenke. Eine Frau mit wallendem rotbraunem Haar hetzte heraus. Sie trug ein verschlissenes hellblaues Arbeitskleid. Sie streifte ihre Holzschuhe ab und rannte barfuß auf ihn zu.

„Charlie! Oh, Charlie!“

Stürmisch fiel sie ihm um den Hals und drückte ihn derart fest an ihren üppigen Busen, dass ihm zunächst die Luft wegblieb.

„Oh, Charlie! Ich habe mir solche Sorgen gemacht!“

Wild bedeckte sie sein Gesicht mit Küssen.

Katrina Jørgensen war völlig außer Atem, als sie schließlich von ihm abließ. Ihre ältere Schwester Anna und deren Ehemann, John Miller, führten das ‚Journeymen’s’. Sie hatten drei Kinder: John Jr. (10), Oskar (8) und Rachel (5). Damals in New Manchester waren die Plumptons und die Jørgensens Nachbarn gewesen. Nach dem verheerenden Vulkanausbruch war man zusammengeblieben und hatte sich schließlich hier in Coopersville niedergelassen. Charlies Vater, Nicholas, richtete sich im Hinterhof des Gasthauses eine kleine Tischlerwerkstatt ein.

Katrina war ebenfalls kurz verheiratet gewesen. Einen Tag, bevor sein Schiff in See stach, gab sie dem jungen Matrosen Billy Parker das Ja-Wort. In der Hochzeitsnacht war dieser allerdings zu betrunken, um seinen ehelichen Pflichten nachzukommen. Und am nächsten Morgen brach er zu einer Reise auf, von der er nicht zurückkehren sollte. Gut sieben Jahre war das jetzt her. Katrina blieb bei ihrer Schwester und half im Gasthof aus. Von Männern hatte sie vorerst die Nase voll. Die Leute im Dorf fanden das nicht natürlich. Schließlich war sie nun fast Dreißig!

Charles und Katrina hatten von jeher ein inniges Verhältnis. Sie wuchsen auf wie Bruder und Schwester. Doch als Charlie älter wurde und zum Mann heranreifte, änderte sich etwas. Auf eine unausgesprochene Art und Weise fühlten sie sich plötzlich zueinander hingezogen. Einmal hatte er sie heimlich beim Baden beobachtet. Er war sich sicher, dass sie ihn bemerkt hatte. Trotzdem wandte sie sich nicht ab, während sie aufrecht in der Wanne stand und ihre prallen Rundungen wusch. Als sie sich danach im Haus begegneten, errötete sie.

Manchmal träumte er von ihr.

„Wir haben dich gestern schon zurückerwartet“, keuchte Katrina, nachdem sie ein paar Mal tief Luft holen konnte. „Es kam die Nachricht, dass ihr bereits in Kingstown wart und in den frühen Morgenstunden von dort auslaufen wolltet...“ Mit den Fingern strich sie über die Schramme an seiner Stirn. „...was ist passiert? Du siehst furchtbar aus!“

Charlie gab keine Antwort.

Auf einmal begann sie zu weinen. Tränen liefen über ihre Wangen.

„Katrina ... was ist los?“

„Es ... ich weiß nicht, wie...“, stammelte sie schluchzend. „...ich ... Charlie ... dein Vater ist tot...“

Es dauerte einen Moment, bis die Botschaft sich gesetzt hatte. Sein Herz klopfte. Er konnte förmlich spüren, wie er erbleichte.

„...im August ... während des Mardi Gras“, fuhr sie mit bebender Stimme fort. „Da wurde er plötzlich krank ... bekam Fieber. Zwei Tage später war er...“ Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen.

Charlie zitterte, als er sie in den Arm nehmen wollte.

„Onkel Charlie! Onkel Charlie!“

Die Kinder, die beim Haus am Ziegenstall gespielt hatten, entdeckten ihn. Freudestrahlend eilten sie ihm entgegen.

„Langsam, langsam, ihr Drei!“ musste Katrina sie bremsen. „Onkel Charlie hat gerade erst erfahren, dass Großvater Nicholas von uns gegangen ist...“

Betrübt senkten die Kinder den Blick.

„Los ... lauft, und sagt eurer Mutter Bescheid!“ Katrina zog die Nase hoch und wischte sich die Tränen ab. „Komm, Charlie...“ Sie nahm seinen Arm und führte ihn zum Haus. „...du bist bestimmt hungrig.“

„Jetzt ist es gut!“ schimpfte Anna Miller. Ihre Kinder hatten sie am Rock gepackt und zerrten sie aus der Küche.

„Aber Mama! Onkel Charlie!“

„Ich bin nicht blind ... und ich kann selber laufen, vielen Dank!“

Maulend ließen die drei von ihr ab.

„Soso ... du bist also zurück“, bemerkte Anna, etwas reserviert.

„Ja ... ich bin zurück.“

„Ich nehme an, Katrina hat dir bereits gesagt, dass...“

Charlie nickte.

„Es tut mir so leid. Ich wünschte, wir hätten mehr tun können ... aber der Doktor sagte ... irgendwie ... irgendwie schien er den Lebenswillen verloren zu haben...“

„Setz dich erst mal.“

Katrina manövrierte Charlie an einen der Schanktische.

Zu dieser Tageszeit — es war früher Nachmittag — herrschte kein Betrieb im ‚Journeymen’s’. Erst gegen Abend, nach getanem Tagewerk, würden die Dörfler wieder ins Gasthaus strömen.

„Ich bringe dir etwas Porridge ... dann mache ich Wasser heiß, damit du dich waschen und rasieren kannst.“

Aufgekratzt und immer noch barfuß huschte Katrina zur Küche.

„Vergiss nicht, den Boden fertig zu kehren, Schwesterherz!“ rief Anna ihr nach.

Seufzend bückte sie sich nach dem Reisigbesen, den Katrina achtlos fallengelassen hatte, sobald sie Charlie erblickte.

„Rachel, mein Schatz ... holst du bitte Tante Katrinas Schuhe herein“, wies sie ihre Tochter an und deutete auf die Holzclogs, die vor der Tür lagen. „Jungs ... habt ihr den Ziegenstall ausgemistet, wie ich euch gebeten habe?“

„Wollten wir gerade, Mama“, antwortete John Jr.

„Rachel hat...“, begann Oskar.

„Keine Ausflüchte!“ erwiderte Anna streng. „Ihr könnt mit eurer Schwester spielen, wenn ihr eure Arbeit erledigt habt...“

„Ja, Mama.“

„Entschuldige, Charlie“, seufzte Anna ein weiteres Mal. „Ich habe das Abendessen auf dem Herd...“

Sie lehnte den Besen gegen die Theke und ließ ihn allein.

„Onkel Charlie?“ Mit einem Holzschuh in jeder Hand stand die kleine Rachel vor ihm und sah zu ihm auf. „Bist du traurig, dass Großvater Nicholas fortgegangen ist?“

Erst wusste Charlie nicht, wie er reagieren sollte.

„Das wird schon wieder, Prinzessin“, entgegnete er schließlich und strich ihr durchs Haar.

„Ich bin auch traurig“, sagte die Kleine und drückte ihn an sich.

Dann ließ sie die Clogs fallen und lief hinaus zu ihren Brüdern.

Katrina kehrte mit einer Schüssel Haferbrei und einem halben Laib Brot zurück. Beides stellte sie vor Charlie auf den Tisch und legte Löffel und Brotmesser hinzu.

„Iß erst mal...“

Vom Tresen holte sie einen Krug Ziegenmilch und einen Becher.

„Danke, Katrina.“

Sie setzte sich zu ihm und sah ihn erwartungsvoll an.

„Herr im Himmel!“ erklang eine kräftige Männerstimme. „Sieh nur, wer da ist!“

John Miller, der Hausherr, betrat die Gaststube. Er schleppte einen schweren Korb voller Kartoffeln, den er lautstark schnaufend zu Boden sinken ließ. Ein Anflug von Überraschung lag in seinem Blick.

„Hallo, John.“

Die Männer schüttelten die Hände.

„Ich sehe mal, was das Wasser macht“, sagte Katrina und eilte zur Küche.

„Und ... wie war die Reise?“ erkundigte sich John Miller.

Er wirkte ein wenig angespannt.

„Durchwachsen“, gab Charlie zur Antwort.

„Raue Überfahrt, was?“

Charlie rührte in seinem Porridge. Er fragte sich, wie lange er diesem Thema noch ausweichen konnte.

„Oh ... Mr. Barthelmé lässt ausrichten, er kommt auf dem Rückweg vorbei und bringt deine Sachen“, fiel ihm gerade noch ein.

„Ah ... gut“, entgegnete der Hausherr.

„John, bist du das?“ rief Anna von nebenan. „Hast du die Kartoffeln?“

„Ja, Liebes!“

„Dann bring sie mir bitte! Ich brauche noch welche!“

„Tja ... schätze, die Pflicht ruft!“ lachte John, ein wenig aufgesetzt. „Traurige Sache übrigens mit deinem Vater.“

Er klopfte Charlie auf die Schulter.

„John!“

„Ich komme, Liebes!“

Er packte sich den Korb und brachte ihn seiner Frau.

Katrina streckte den Kopf aus der Küche.

„Das Wasser ist fertig...“


„Willst du mir nicht sagen, was passiert ist?“

Am Waschzuber im Hinterhof konnte Charlie sich frisch machen. Nun saß er auf einem Stuhl vor der Werkstatt seines Vaters, wo Katrina ihn rasierte. Er hatte keinen übermäßig starken Bartwuchs, dennoch hatte die Zeit auf See einen borstigen Filz in seinem Gesicht sprießen lassen.

„Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt“, bohrte sie weiter und strich das Messer an einem Tuch ab. „Wir hatten doch sonst nie Geheimnisse voreinander...“

„Das ist was anderes“, entgegnete Charlie.

Er kämpfte mit sich, ob er sie ins Vertrauen ziehen sollte.

„Was es auch ist, du kannst es mir sagen! Selbst wenn du, Gott behüte...“

Sie bekreuzigte sich.

„...jemanden umgebracht hast! Ich stehe zu dir! Ich bin für dich da!“

„Ich habe niemanden umgebracht!“

„Gott sei Dank!“ atmete sie auf.

Sie rührte noch etwas Rasierschaum an.

„Katrina ... das Schiff ist gesunken“, gestand Charlie schließlich.

„Gesunken?“

„...nicht einfach gesunken! Es ist versenkt worden!“

Vor Schreck ließ Katrina den Rasierpinsel fallen.

„Piraten?“

„Nein ... britische Kriegsmarine.“

„Aber warum?“

Katrina schüttelte sich.

Sie hob den Pinsel auf und spülte ihn aus.

„Ich weiß nicht“, erwiderte Charlie. „Aber sie haben keine Zeugen zurückgelassen. Wenn sie herausbekommen, dass ich ebenfalls an Bord war und überlebt habe ... Katrina, du darfst niemandem davon erzählen, hörst du!“

„Natürlich nicht!“

Sie zögerte einen Moment. Schließlich legte sie von hinten die Arme um seinen Hals und schmiegte ihre Wange an seinen Kopf.

„Es wird alles gut“, seufzte sie. „Du bist jetzt zu Hause!“

Dann griff sie zur Klinge und beendete die Rasur.

„Da ... hübsch wie ein junger Adonis“, stellte sie zufrieden fest.

Sie reichte Charlie einen kleinen Spiegel, damit er sich betrachten konnte.

Er ging zum Zuber und wusch sich das Gesicht.

„Ich habe dir oben ein frisches Hemd rausgelegt“, sagte Katrina, während er sich noch abtrocknete. „Das andere werde ich nähen müssen...“

Über eine Treppe in der Gaststube gelangte er in seine Kammer. Sie lag unter dem Giebel des Daches und war nicht sehr geräumig. Charlie griff nach dem Hemd, das Katrina liebevoll auf dem Bett drapiert hatte, und streifte es über. Sie hatte das Fenster zum Lüften geöffnet. Auf dem Tisch stand eine kleine Vase mit einer gelben Blume.

Charlie trat vor den Schrank. Bloß seine Sonntagskleider, eine alte Jacke sowie ein Paar ausgelatschte Schuhe befanden sich darin. Die meisten seiner Sachen waren mit der ‚Eleanore’ untergegangen.

Es klopfte.

Katrina trug eine mit Eisen beschlagene Schatulle.

„Ich habe hier noch etwas für dich“, sagte sie und stellte das Kästchen auf dem Tisch ab. „Dein Vater wollte, dass ich das für dich aufbewahre. Er sagte, es sei wichtig...“

„Was ist drin?“ wollte Charlie wissen.

„Ich weiß nicht ... ich habe nicht reingeschaut.“

Sie zog einen Schlüssel aus der Tasche ihrer Schürze und legte ihn neben die Kiste.

Verlegen standen sie sich gegenüber. Dann presste sie sich an ihn und küsste ihn, wie sie ihn noch nie zuvor geküsst hatte. Erhitzt hob und senkte sich ihre Brust, als sie sich schließlich voneinander lösten.

„Ich lasse dich jetzt besser allein...“

Auf der Schwelle blieb sie stehen und drehte sich noch einmal zu ihm um.

„Komm zu mir, wenn du dich einsam fühlst“, hauchte sie, schwer atmend. „Wann immer du willst...“

Eine Weile stand Charlie einfach nur da und starrte auf die Tür, durch die Katrina entschwunden war. Dann setzte er sich an den Tisch, griff nach dem Schlüssel und öffnete die Schatulle.

Viel war nicht darin: eine Handvoll Papiere, ein paar Goldmünzen, eine Halskette mit Anhänger.

Er betrachtete die Halskette. Der Anhänger war aus Silber. Er ließ sich öffnen. Zum Vorschein kam das Bildnis einer Frau, filigran, mit feinsten Pinselstrichen gemalt. Es war das Bild seiner Mutter, Elizabeth. Er konnte sich kaum an sie erinnern. Lange studierte er jede Nuance ihres Gesichts. Wie jung sie noch aussah!

Seufzend legte er das Amulett beiseite und überflog die Papiere. Alle waren säuberlich versiegelt. Auf einem konnte er den Schriftzug ‚Lindenbrook & Söhne, Leeds’ entziffern. Aber im Augenblick konnte er kein Interesse dafür aufbringen. (Das Lesen fiel ihm ohnehin schwer.)

Er schlug den Deckel der Schatulle zu und verschloss sie wieder. Den Schlüssel befestigte er an der Kette des Amuletts und hängte es sich um den Hals. Er verstaute die Kiste in seinem Schrank und verließ das Zimmer.

Gedankenverloren wanderte er durch das Dorf. Die Sonne stand bereits tief. Bald würde sie Coopersville in ein magisches Abendrot tauchen. Unterwegs begegnete er Barthelmé mit dessen Eselsgespann.

Man winkte sich zu.

Er erreichte die Dorfkirche. Umringt von ein paar Palmen erhob sie sich auf einem flachen Hügel am Rand der Siedlung. Durch das Gatter des Lattenzauns gelangte er auf den Friedhof. Langsam schritt er durch Reihen schiefer, teils verwitterter Grabsteine. Vor einem schlichten Holzkreuz blieb er stehen.

Es war das Grab seines Vaters. Andächtig verweilte er dort eine Zeitlang. Man hatte ihn an der Seite Hilda Jørgensens beigesetzt. ‚Hilda Plumpton’ lautete die Inschrift. Eine Weile nachdem man sich hier niedergelassen hatte, hatten sie und sein Vater geheiratet. Obwohl sie die Vierzig damals schon überschritten hatte, wurde Hilda noch einmal schwanger. Sie und das Kind starben bei einer Fehlgeburt. Das war vor etwa zehn Jahren. Charlie erinnerte sich noch, wie untröstlich sein Vater gewesen war.

„Eine traurige Heimkehr, nicht wahr?“

Charlie zuckte zusammen.

„Guten Abend, Charles. Ich wollte dich nicht erschrecken...“

Es war Fennimore Jones, der Vikar der Gemeinde.

„Eine traurige Heimkehr, in der Tat, wenn einer unserer Lieben während unserer Abwesenheit zu Gott befohlen wird.“

Charlie senkte den Kopf.

Vikar Jones trat zu ihm vor das Grab.

„Ich hoffe, du grämst dich nicht allzu sehr, dass du in den letzten Stunden nicht an seiner Seite sein konntest. Magst du auch nicht an seinem Bett gewesen sein, so warst du doch in seinem Herzen.“

„Danke, Vikar.“

„So, junger Charles“, wechselte Jones daraufhin das Thema. „Ich sehe, die diesjährige Fangfahrt ist vorüber. Zufriedenstellend, wie ich hoffe...“

„Es ... ähm ... es ist nicht so einfach...“

Charlie fühlte sich unwohl. Er konnte nicht einfach einen Geistlichen anlügen!

Der Vikar blickte ihn fragend an.

„Ich weiß nicht...“

„Hast du etwas zu beichten, mein Sohn?“

„Nicht ... ähm ... nicht im eigentlichen Sinne“, stammelte Charlie. „Es ... es ist kompliziert...“

„Die Tore zum Haus des Herrn stehen dir jederzeit offen, mein Sohn.“

„Charlie! Hier bist du! Ich habe dich schon überall gesucht!“

Katrina Jørgensens Rufe befreiten ihn aus der Verlegenheit.

Die Dämmerung hatte eingesetzt. Bald würde es dunkel sein.

„Guten Abend, Vikar Jones“, grüßte sie freundlich.

„Guten Abend, Miss Katrina“, erwiderte dieser.

„Charlie ... warum bist du einfach weggegangen, ohne etwas zu sagen?“

„Weiß nicht ... schätze, ich musste ein wenig allein sein und nachdenken“, gab er achselzuckend zur Antwort.

„Komm, Charlie ... die anderen warten schon mit dem Abendessen auf uns...“

„Dann will ich euch auch nicht länger aufhalten“, sagte Fennimore Jones. „Vergiss nicht, meine Tür steht jederzeit offen. Wir sehen uns am Sonntag zum Gottesdienst!“

Katrina nahm Charlie bei der Hand und führte ihn heim.


In dieser Nacht hatte er einen Traum. Er trieb allein im dunklen Ozean. Mit Blitz und Hagel brauste ein Unwetter über ihn hinweg. Er schwamm nach Leibeskräften, doch die verwunschene See war wie Luft und wollte sein Gewicht nicht tragen. Dann plötzlich riss der Himmel auf. Er großer weißer Vogel mit schwarzen Flügelspitzen stieß herab und brachte ihn sicher ans Ufer. Er wollte den Vogel festhalten, umarmen und ihm für seine Rettung danken. Doch der Albatros flog einfach davon.

Als er am Morgen erwachte, hörte er unten in der Gaststube laute Stimmen. Verschlafen erhob er sich. Aus einer Schüssel, die neben seinem Bett parat stand, spritzte er sich ein paar Tropfen Wasser ins Gesicht. Er stieg in seine Kleider und öffnete die Zimmertür, um zu sehen, was der Tumult zu bedeuten hatte.

Die Jørgensen-Schwestern mühten sich, eine aufgebrachte Frau zu besänftigen. Sie war in Tränen aufgelöst, kaum bei Sinnen.

Charlie erkannte sie. Es war Margaret Rhodes, Ehefrau von Perry Rhodes, dem Harpunier, den alle bloß Spunk nannten.

„Charlie Plumpton!“ kreischte sie, als sie diesen erblickte. „Die Leute im Dorf sagen, du seist zurückgekehrt! Aber da ist kein Schiff ... wo sind die anderen ... wo ist mein Perry?“

„Beruhige dich, Marge“, redete Anna ihr zu und bugsierte sie auf die Sitzbank an einem der Tische. „Wir klären das schon...“

Charlies Herz klopfte, als er sich widerwillig die Stufen herunter bewegte. Aber nun war es zu spät, sich in seiner Kammer zu verbergen.

Katrina sah hilflos zu ihm auf.

„Charlie, bitte!“ flehte Margaret Rhodes ihn schluchzend an. „Du musst mir sagen, was passiert ist ... was ist mit meinem Perry geschehen?“

Langsam ließ sich Charlie gegenüber der verzweifelten Frau nieder. Katrina setzte sich zu ihm. Unter der Tischplatte hielt sie seine Hand.

Charlie schluckte schwer. Dann nahm er all seinen Mut zusammen. „Perry kommt nicht mehr zurück, Margaret“, sagte er leise. „Er ist tot...“

Wie eine Furie heulte die Witwe auf. Sie ließ den Kopf auf den Tisch fallen und schrie all ihren Kummer und Schmerz heraus.

„Ruhig ... ruhig, Marge“, tätschelte Anna deren Schulter. „Wir sind bei dir.“

Vorwurfsvoll ruhten ihre Augen auf Charlie.

(‚Wann gedachtest du, uns davon zu berichten?’ war in etwa die Bedeutung.)

Katrinas Griff um seine Hand festigte sich.

Es war nicht viel Betrieb im ‚Journeymen’s’. Ein paar Tische weiter löffelte der verrückte Bauer Hollum Reste des Eintopfs vom Vortag. Seine Kuh hatte er draußen am Zaun festgebunden.

Weiter vorne, in der Morgensonne, hatten sich zwei fremde Männer niedergelassen. Sie waren, so sagten sie, auf dem Weg von Woburn nach Charlotte Town und stärkten sich mit hellem Bier, Brot und etwas Käse. Aufmerksam verfolgten sie, was sich am Nebentisch abspielte.

John Miller stand hinter dem Tresen und warf ihnen nervöse Blicke zu.

„John ... sei ein Schatz, und bring mir den Sherry!“ rief Anna.

„Sofort, Liebes!“ gab er zurück.

„Da würde ich auch nicht Nein sagen!“ meldete sich der Bauer mit vollem Mund.

„Sei still, Hollum!“ zischte Anna zu ihm herüber. „Siehst du nicht, dass die arme Frau völlig am Boden zerstört ist?“

„Man wird doch mal fragen dürfen“, murmelte er beleidigt und mampfte sein Stew.

John brachte eine Karaffe und ein paar kleine Gläser.

Anna füllte eins davon.

„Hier, Marge ... trink das“, sagte sie. „Dann wirst du dich besser fühlen...“

Schniefend hob diese den Kopf und nippte daran.

„Der ist gut...“

„Trink, Marge!“

„Charlie, wie?“ fragte Margaret Rhodes, nachdem sie sich ein bisschen gefangen hatte. „Sag mir ... wie ... ich muss es wissen!“

Sie hatte einen leichten Schluckauf.

„Piraten!“ log Charlie.

„Trink noch etwas, Marge!“ sagte Anna.

„...an viel kann ich mich nicht erinnern. Wir kamen von Kingstown ... es ging alles sehr schnell. Ich bin über Bord gegangen ... war völlig weggetreten ... als ich wieder zu mir kam, trieb ich in einem kaputten Boot hier vor der Küste...“

„Und mein Perry?“

Sie stürzte noch einen kräftigen Schluck Sherry herunter.

„Wie ist er ... hat er sehr leiden müssen?“

„Nein, Margaret ... es ging alles sehr schnell.“

Erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie verfiel in ein klägliches Wimmern.

„Komm, Marge.“ Anna erhob sich und half der trauernden Witwe auf die Beine. „Ich bringe dich nach Hause...“

Katrina räumte die Karaffe und die Gläser ab. Als niemand hinsah, küsste sie Charlie auf die Wange.

„Es ist nicht deine Schuld“, flüsterte sie ihm zu. „Möchtest du Frühstück?“

Charlie war der Appetit vergangen. Er ging in den Hinterhof und von dort aus in seines Vaters Werkstatt. Seit seiner Rückkehr hatte er diese noch nicht betreten. Seine Finger strichen über die Drehbank. Alles war aufgeräumt. Hobel, Hämmer und Sägen, alles war an seinem Platz. Er griff nach einem alten Schnitzmesser. Als er klein war, hatte sein Vater damit Holzfiguren für ihn gemacht.

Auf einmal fühlte er sich wie der einsamste Mensch auf Erden.

Er legte das Messer aus der Hand und dachte an den Albatros.


Zäh plätscherte der Tag vor sich hin. Er versuchte, sich ein wenig im Gasthaus nützlich zu machen. Aber Katrina und die Millers waren ein eingespieltes Team, und so stand er mehr im Weg, als dass er half.

Gegen Abend füllte sich das ‚Journeymen’s’.

„Ein Glas Dunkles, wie immer!“ rief Rupert, der Nachtwächter, der gerade seine Runde beendet hatte.

„Kommt sofort!“ entgegnete John Miller.

Auch die beiden Fremden vom Vormittag waren zurück. Angeblich waren sie auf dem Heimweg nach Woburn. Charlie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie ihn beobachteten.

Wie ein Lauffeuer hatte sich seine Piratengeschichte im Dorf verbreitet. Immer wieder wurde er von den Dörflern darauf angesprochen. Einige von ihnen waren allein deshalb ins Gasthaus gekommen.

Verdammte Margaret Rhodes!

„Aye, die See macht viele Witwen!“ philosophierte ein alter Seemann über einem Krug Rum.

Mehr aus Verzweiflung hatte sich Charlie zu ihm gesellt, denn die Dorfbewohner machten einen großen Bogen um die wild dreinblickende, wettergegerbte Gestalt.

„Bei den Pottwalfängern in Nantucket bin ich gewesen ... zehnmal ums Hoorn gesegelt. Einer geht immer drauf! Über Bord und ersoffen! Und die Mädchen daheim zünden ihre Kerzen in der Kapelle an! Mehr Witwen als Weiber!“

Er nahm eine Prise aus einer angelaufenen Schnupftabaksdose.

„Aber lieber mausetot, sag ich! Aye, lieber mausetot als Schiffbruch! Glück hast du gehabt, Söhnchen! Du und deine Kameraden!“

Er musste niesen.

„Gottes Segen!“ erwiderte Charlie. „Aber warum haben meine Kameraden Glück gehabt?“

Der Seemann lachte ein bitteres Lachen.

„Und Gottes Segen dir, mein unschuldiger Junge!“ prostete er ihm zu. „Weißt du, wie es ist ... in kleinen Booten unter der glühenden Sonne? Wasser ringsum, und doch kein Tropfen zu trinken! Der Durst macht dich wahnsinnig ... die Zunge schwillt und wird hart, bis du kaum noch sprechen, kaum noch atmen kannst. Die Haut von Geschwüren übersäht. Gesichter, eingefallen wie die von Geistern, weinen Tränen aus Blut! Aye ... Tränen aus Blut! Und der Hunger...“

Die Stimme des Seemanns senkte sich, bis sie kaum mehr als ein Flüstern war.

„...wie lange, glaubst du, bis du anfängst die Toten zu fressen ... ihr salziges Blut zu trinken? Und wenn das nicht mehr reicht ... und noch immer kein Land in Sicht ist? Dann fängst du an, Hölzchen zu ziehen ... deine Kameraden abzuknallen ... in der verzweifelten Hoffnung, den nächsten jämmerlichen Tag zu erleben! Und wirst du schließlich gerettet, bist du nicht mehr derselbe! Du hast dich so weit an Gottes Natur versündigt, dass dich Tausend Vaterunser und die Jungfrau Maria höchstselbst nicht vor der ewigen Verdammnis bewahren können! Nein, sag ich! Dann lieber direkt mausetot! Saubere Sache!“

Charlie verkniff sich die Frage, ob er vom Hörensagen oder aus eigener Erfahrung sprach.

„Trotzdem ... Schande das!“ redete der Seemann mit einem Achselzucken weiter. „Hätte gern auf eurer Schaluppe angeheuert! Ruhiger Job für die alten Tage...“

In einem mächtigen Zug leerte er seinen Krug.

„...aber wenn wir schon alle zur Hölle fahren, dann auf keinen Fall nüchtern! Ahoi, schöne Maid!“ rief er Katrina zu, die sich gerade mit einem Tablett an ihrem Tisch vorbei zwängte. „Bring mir noch einen! Und einen für meinen Freund hier...“


Schon früh zog sich Charlie in seine Kammer zurück. Er mochte keinen Rum. Er hatte genug von dem Seemann, genug von den Leuten.

Es war eine schwüle Nacht. Es roch nach Regen.

Lange wälzte er sich im Bett herum, bis er endlich einschlief.

„Nennst du das etwa ‚wachsam bleiben’?“

Er fragte sich, ob er wachte oder träumte, als er die Erscheinung in seinem Zimmer erblickte.

„Was ist, Plum? Freust du dich nicht, mich wiederzusehen?“

Zärtlich glitten ihre Finger über seine Lippen, als er gerade den Mund für eine Antwort öffnen wollte.

„Ssscht...“

Sie streifte ihre Kleider ab und schlüpfte zu ihm ins Bett. Rittlings setzte sie sich auf ihn. Im Mondlicht, das durch sein Fenster fiel, schimmerte ihr Körper, als würde eine innere Glut in ihr brennen. Die Hand mit dem Albatros kreiste auf seiner Brust.

Sie beugte sich vor. Wie ein Windhauch strichen ihr Atem und ihre Lippen über sein Gesicht, sodass sich sämtliche Härchen in seinem Nacken aufstellten.

„Vertraust du mir?“ wisperte sie in sein Ohr.

Erst jetzt fand er die Sprache wieder.

„Warum bist du zurückgekommen?“

Sie richtete sich auf und grinste ihn an.

„Ich kann ja wieder gehen, wenn dir das lieber ist.“

Charlie Plumpton sagte kein Wort mehr.


„Los, Plum! Zieh dich an!“ drängte Emma schließlich. Sie stand bei der Wasserschüssel und wusch sich zwischen den Beinen. „Raus aus dem Bett!“

Es war tief in der Nacht. Unten in der Gaststube war es schon lange still. Sie hatten eine Öllampe angezündet.

„Warum? Was ist los?“ fragte Charlie missmutig.

Er wollte einfach nur liegen bleiben, dicht an ihre Haut geschmiegt ihren Duft in sich aufsaugen, bis er in einen seligen Schlummer fiel.

„Wir müssen verschwinden!“ entgegnete Emma knapp.

Sie griff nach seinen Klamotten und warf ihm diese zu.

„Los, anziehen!“

Widerwillig fügte er sich.

„Du könntest mir trotzdem sagen, was eigentlich los ist!“

„Ich habe dir doch erzählt, dass ich einen Freund in St. George’s treffe“, begann sie daraufhin zu berichten.

„Und?“

„Nun ... er behält dort die Vorgänge in der britischen Garnison im Auge ... für meinen Vater. Nicht so wichtig...“

„Ein Spion?“

„Ein Freund!“

„Was für ein Freund?“

„Nicht wichtig! Nach dem Angriff glaubte ich zuerst, er habe mir gegolten ... also habe ich mich umgehört. Aber sie haben nicht nach mir gesucht ... die wussten gar nicht, dass ich an Bord war. Du warst das Ziel!“

„Ich?“

Charlie, der sich gerade in seine Hose kämpfte, stolperte zurück auf das Bett.

„Glaub mir, ich war genauso überrascht wie du jetzt.“

„Aber weshalb? Ich habe doch nichts getan!“

„Ich weiß es nicht“, erwiderte Emma. „Aber das ist im Augenblick nebensächlich! Auf jeden Fall hat man schon lange vor deiner Rückkehr angefangen, Auskünfte über dich und deine Fahrt einzuholen ... bei den Familien deiner Kameraden in St. George’s ... bei den Händlern, dem Schiffseigner ... und wohl auch hier bei deinen Leuten...“

Charlie war so perplex, dass er zunächst vergaß, sich weiter anzuziehen.

„Komm, Plum! Trödel nicht!“ hetzte Emma. Sie war bereits fertig angekleidet. Sie nahm die Wasserschüssel vom Stuhl und setzte sich, um in ihre ledernen Stiefel zu steigen. „Wie auch immer ... schließlich hatte man einen Überblick vom geplanten Ablauf eurer Reise ... einschließlich dem geplanten Stopp in Kingstown. Vor ein paar Tagen dann brachte ein anderes Schiff die Nachricht, dass ihr dort vor Anker gegangen wart. Umgehend machte man die ‚Trafalgar’ seeklar. Sie segelten nur mit dem Teil der Besatzung, der als besonders loyal und vertrauenswürdig gilt. Selbst einige der Offiziere wurden zurückgelassen! Der Rest der Crew vergnügte sich redselig mit Schnaps und Huren in den Hafenspelunken. Seit der Rückkehr der ‚Trafalgar’ gab es keine offizielle Verlautbarung über den Zweck ihres kleinen Ausflugs. Man munkelt etwas von einer geheimen Aktion gegen Waffenschmuggler. Und bis jetzt scheint noch niemand einen Zusammenhang mit dem Verschwinden der ‚Eleanore’ hergestellt zu haben...“

„Aber wie kann das sein? Man muss sich doch wundern?“ warf Charlie ein. „Die Leute müssen doch Fragen stellen!“

„Es gibt Gerüchte ... Spekulationen. Die Piratengeschichte, die du gestern dieser Frau aufgetischt hast, wird für weiteres Futter sorgen...“

„Woher weißt du das? Hast du mir nachspioniert?“

Emma verdrehte die Augen.

„Natürlich habe ich dich beobachtet! Was denkst du? Du solltest mir dankbar sein! Man weiß jetzt, dass du zurückgekehrt bist! Glaubst du, die lassen dich einfach frei rumlaufen? Falls dich deine saubere Familie nicht ohnehin schon verpfiffen hat...“

„Wie meinst du das?“ stutzte Charlie.

„Erinnerst du dich an die beiden Fremden, die hier herumgelungert haben ... erst in der Frühe und dann wieder am Abend?“

„Vage ... es hieß, sie seien auf dem Weg von Woburn nach Charlotte Town...“

„Das sind Schläger ... Halsabschneider! Für ein paar Goldstücke machen die für jeden die Drecksarbeit! Und der Wirt hier ... dieser John Miller ... hat sich mit ihnen getroffen!“

Charlie war fassungslos.

„Und du glaubst ... John hat sie engagiert, um mich...“

„Unwahrscheinlich“, entgegnete Emma. „Aber Miller traf sich mit ihnen, kurz nachdem sie gestern früh das erste Mal hier im Gasthaus aufgetaucht sind. Irgendwie steckt er da drin! Ich schätze, er übermittelt ihnen Informationen über dich. Außerdem war die Nachricht über deine Rückkehr schon am frühen Abend am Tag unserer Ankunft nach St. George’s durchgesickert ... das klingt sehr nach einer Quelle aus deinem näheren Umfeld!“

„Es könnte auch Barthelmé, der Rumlieferant, gewesen sein“, bemerkte Charlie. „Der fährt auch immer nach St. George’s. Er hat mich mitgenommen, kurz nachdem du verschwunden warst...“

„Egal“, winkte Emma ab. „Tatsache ist ... Woburn und Charlotte Town hatten den Auftrag, dich aus dem Verkehr zu ziehen! Ich kann dich hier rausbringen ... in Sicherheit! Die Vorbereitungen sind bereits getroffen! Bist du fertig?“

„So gut wie“, gab Charlie zurück.

Er wusste nicht, was er denken sollte.

„Ich brauche noch ein paar Sachen...“

Er raffte die Seemannskluft aus dem Magazin der ‚Trafalgar’ zusammen. Katrina hatte sie gewaschen, den Riss im Hemd genäht.

Katrina.

Er hatte ihr alles erzählt.

Fast alles.

Emma warf sich einen langen schwarzen Mantel über und trat vor seinen Schrank.

„Hübscher Anzug“, schmunzelte sie, als sie Charlies Sonntagskleidung erblickte. Sie griff nach der Jacke, die sich ebenfalls darin befand. „Hier ... die kannst du brauchen! Was ist in der Kiste?“

Die Kiste! Beinahe hätte er sie vergessen!

„Papiere von meinem Vater“, gab er zur Antwort. „Angeblich sind sie wichtig. Ich hatte noch keine Gelegenheit...“

„Die kannst du dir später anschauen! Gib mir den Schlüssel!“

Charlie nahm die Kette vom Hals und reichte sie Emma.

Sie öffnete die Schatulle und verstaute die vier Dokumente in ihrer Innentasche. Die sechs Goldmünzen steckte sie ebenfalls ein.

„Hier, dein Amulett. Den Schlüssel brauchen wir nicht mehr...“

Charlie hatte inzwischen seine Ersatzkleidung in den Kissenbezug gestopft und zum Bündel verschnürt.

„Was, wenn diese Typen da draußen auf der Lauer liegen?“ fragte er unsicher.

„Mach dir darüber keine Gedanken“, erwiderte Emma gelassen.

Sie zog eine kurze Pistole hervor und überprüfte die Pulverladung. Dann kontrollierte sie das spitze, stilettartige Messer im Schaft ihres Stiefels.

Charlie hätte schwören können, dass an dessen Klinge Reste von Blut klebten.

Emma blies die Lampe aus.


Als sie hinaus in die Gaststube traten, mussten sie feststellen, dass sie nicht allein waren. John Miller saß an einem Tisch im dunklen Schankraum. Vor ihm brannte eine Kerze. Eine Flasche Rum stand daneben.

„Wer ist da?“ rief er aus, als er oben am Treppenabsatz jemand bemerkte. Leicht schwankend richtete er sich auf und griff nach einem Brotmesser. Er war nicht mehr ganz nüchtern. „Bist du das, Charlie?“

„Bleib weg von mir, John!“ knurrte dieser. „Was ist? Wartest du darauf, dass deine Spießgesellen mich holen kommen?“

„Bah! Was weißt du schon?“ schnaubte John Miller. „Glaubst du, ich hatte eine Wahl? Glaubst du, es wäre mir leichtgefallen?“

„Ich hoffe, es hat sich für dich gelohnt, John!“

Langsam gingen Charles und Emma die knarrenden Stufen hinab.

„Versteh doch, Charlie!“ John Miller klang fast ein wenig verzweifelt. „Sie haben meine Familie bedroht! Meine Frau ... meine Kinder!“

„Was hast du denen gesagt, John?“

„Sie kamen vor ein paar Monaten“, versuchte er sich mit schwerer Zunge zu erklären. „Sie wollten wissen, wie lange eure Fahrt dauert, welche Route ihr einschlagen würdet. Ich sollte mich bei einer bestimmten Adresse melden, falls du zurückkommst ... sie haben gedroht, Anna und den Kindern etwas anzutun, sollte ich mich weigern...“

„Und was war gestern? Diese beiden Typen?“

„Sie wollten wissen, wann das Gasthaus schließt ... wo deine Kammer sei ... ich ... ich sollte sie hereinlassen...“

„Geh aus dem Weg, John“, sagte Charles angewidert. „...und du wirst mich nie wiedersehen...“

„Das kann ich nicht tun, Charlie!“

Unsicheren Schrittes baute er sich zwischen ihnen und dem Ausgang auf. Drohend hob er das Brotmesser.

„Die Kinder, Charlie! Denk an die Kinder!“

„Geh beiseite, John ... und dir wird nichts geschehen!“

Emma sagte kein einziges Wort. Sie beobachtete. Charlie war sich sicher, dass sie bloß auf den rechten Augenblick wartete, um zuzuschlagen.

„Das kann ich nicht, Charlie!“ Johns Stimme wurde fester. „Hast du nicht zugehört? Ich werde nicht meine Familie für dich opfern!“

Etwas ungelenk fuchtelte er mit dem Brotmesser herum.

„Was weiß ich, was du für finstere Geheimnisse hast ... was du und deine zwielichtigen Freunde hinter unserem Rücken treiben...“

Er machte eine abfällige Geste in Emmas Richtung.

„...ich will es auch gar nicht wissen! Aber ich werde nicht zulassen, dass deine Machenschaften meine Familie ins Unglück...“

„John, was ist hier los?“

Millers lautstarke Tiraden hatten seine Frau aufgeweckt.

„Bist du betrunken?“

„Charlie?“

Auch Katrina kam nun, vom Lärm aufgeschreckt, aus ihrem Zimmer.

„Geh wieder zu Bett, Liebes!“ sagte John Miller. „Du auch, Katrina! Ich kümmere...“

Es war der Moment der Unachtsamkeit, auf den Emma gewartet hatte. Blitzschnell griff sie nach Millers Arm und drehte ihm diesen auf den Rücken. Er heulte auf vor Schmerzen. Das Messer fiel aus seiner Hand. Mit Wucht stieß Emma ihn daraufhin nach vorn, sodass er mit dem Unterleib gegen die Tischkante prallte.

Stöhnend sank er zusammen.

„John!“ schrie Anna entsetzt und stürmte die Treppe hinunter.

Katrina folgte ihr.

Emma bückte sich und hob das Messer auf.

„Wir sollten jetzt besser gehen“, sagte sie ruhig. „Bevor jemand verletzt wird...“

„Charlie ... wer ist diese Frau?“ Katrina Jørgensen war völlig außer sich. „Was hat das alles zu bedeuten?“

Charlie wich einen Schritt vor ihr zurück und schüttelte mit dem Kopf.

„Wie konntest du nur?“ presste er eisig hervor.

„Was ... ich ... wovon redest du?“

„Tu nicht so! Ich habe dir vertraut! Ich habe dir alles erzählt ... und du hast mich verraten und verkauft!“

„Nein, Charlie ... ich könnte niemals...“

Katrina brach in Tränen aus.

„...ich ... wie kannst du so was nur glauben?“

„Geh, Charlie!“ ging Anna dazwischen. Sie war über ihren Ehemann gebeugt. Ihre Stimme war kalt. Feindseligkeit lag in ihrem Blick. „Geh! Nimm deine Freundin und verschwinde! Lass mich und meine Familie in Ruhe!“

Plötzlich hämmerte jemand gegen das Eingangstor.

„Aufmachen! Im Namen Ihrer Majestät und des Regionalgouverneurs! Öffnen Sie!“

„Soldaten!“

Charles und Emma sahen sich an.

„Das Küchenfenster!“

„Nein, Charlie! Geh nicht!“ flehte Katrina.

Sie griff nach seinem Arm, um ihn zurückzuhalten.

„Du musst dich den Behörden stellen! Es wird alles gut! Ich bin bei dir!“

„Lass mich!“

Energisch schüttelte Charlie sie von sich ab.

Ihr dünnes Nachthemd zerriss.

Schluchzend ging sie zu Boden.

„Aufmachen!“ tönte es abermals von der Tür.

Emma wartete bereits am geöffneten Fenster.

„Komm schon, Plum!“ winkte sie ihm zu. „Wir müssen raus hier!“

Zusammengekauert blieb Katrina liegen und weinte bitterste Tränen. Mit einer Hand versuchte sie, ihre Blöße zu bedecken.

„Fass mich nicht an!“ wimmerte sie nur, als ihre Schwester ihr aufhelfen wollte.


Charles und Emma schlüpften hinaus in die Nacht. Es hatte sich zugezogen. Eine Regenfront war im Anmarsch. Sie befanden sich seitlich vom Haus beim Ziegenstall. Der rettende Waldrand war nicht weit entfernt.

Vorne am Eingang hörte man die Soldaten weiter gegen das Tor hämmern.

„Es wird nicht lange dauern, bis die merken, dass wir uns verkrümelt haben“, flüsterte Emma Charlie zu. „Los, in den Wald!“

„Da! Da vorne! Das ist er!“ erschallte es beinahe im gleichen Augenblick.

Es war die Stimme von Rupert, dem Nachtwächter.

Charles und Emma nahmen die Beine in die Hand.

„In Ordnung ... bleiben Sie zurück!“ hörte man daraufhin einen Soldaten.

Als sie den Misthaufen hinter dem Stall passierten, geriet Charlie ins Stocken. Dort lagen die Körper zweier Männer. Es waren die beiden Fremden vom Vortag: Woburn und Charlotte Town.

Ihre Kehlen waren von einem Stilett durchstochen.

„Worauf wartest du?“ zischte Emma.

Charlie setzte sich wieder in Bewegung. Er rannte auf den Waldrand zu.

„Halt! Stehen bleiben!“ rief der Soldat hinter ihm.

Man hörte Hundegebell.

Krachend wurde ein Schuss abgefeuert.

Es war, als würde ihn ein Vorschlaghammer ins Kreuz treffen.

Kein Schmerz, nur ein heftiger Schlag.

Es regnete erste, dicke Tropfen.

Charlie taumelte weiter.

Er bemerkte nicht, wie er fiel.

Er spürte bloß den harten Aufprall am Boden.

Die Irrfahrt des Charles Philip Plumpton

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