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3. Keine Gefangenen

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Britisch Westindien. Karibische See. Die ‚Eleanore’ machte gute Fahrt. Unter vollen Segeln hatte die kleine Bark den Nordostpassat im Rücken. Es ging nach Hause.

Über die Sommermonate war man im Nordatlantik auf Walfang gewesen. Elf ausgeweidete und zu Tran verkochte Giganten der Meere füllten inzwischen die Laderäume des Schiffes: überwiegend Nordkaper, dazu zwei Finnwale sowie ein stattlicher Grönlandwal.

Die kommerziellen Walfänger aus dem amerikanischen Nantucket hätten diese Ausbeute als lachhaft empfunden. Minderwertige Tiere! Sie jagten den Pottwal. Denn neben dem aus dem Speck gewonnenen Tran hatte dieser noch einiges mehr zu bieten. Walrat! Eine fettartige Substanz, die einem Organ entnommen wird, das den Kopf des Tieres fast gänzlich ausfüllt. Sie diente als Grundstoff zur Herstellung hochwertiger Kerzen, Salben, Pomaden und feinster Schmieröle. Allesamt Artikel, für die wohlhabende Kundschaft tief in die Tasche griff. Und wenn man Glück hatte, fand man im Darmtrakt des Tieres noch kostbares Ambra, Basis für teure Parfums und edle Duftwässerchen.

Kurz: das Geld war, wo der Pottwal war. Und so folgten ihm die kommerziellen Waljäger in Fanggründe bis vor die Westküste Südamerikas in den südlichen Pazifik. Nicht selten dauerten deren Fahrten drei Jahre und länger, und man kehrte nicht eher heim, bis die Laderäume der Schiffe zum Bersten gefüllt waren.

Die Mannschaft der ‚Eleanore’ verfolgte indessen bescheidenere Ziele. Für sie war der Walfang eine Saisonarbeit, ein Nebenerwerb. Einen Großteil des Jahres verbrachten die Männer zu Hause bei ihren Familien und gingen anderen Tätigkeiten nach. So auch der junge Charles Philip Plumpton, der in wenigen Tagen seinen einundzwanzigsten Geburtstag feiern würde. Von seinem Vater hatte er das Tischlerhandwerk gelernt. Im letzten Jahr hatte man ihn dann erstmals als Schiffszimmermann für eine Fangfahrt angeheuert.

Nie würde er den Augenblick vergessen, als zum ersten Mal die Boote zu Wasser gelassen wurden. Denn wie beim Walfang üblich wurden während der Jagd nur ein oder zwei Mann als Schiffswache an Bord zurückgelassen. Der Rest der Mannschaft, darunter auch der Schiffskoch und eben der Schiffszimmermann, hatten sich in den Fangbooten in die Riemen zu legen.

Welch ein Abenteuer! Die gespannte Erregung, während man sich dem Koloss langsam näherte. Das präzise Manövrieren, um die Harpuniere in gute Position zu bringen, ohne dabei von der Schwanzflosse des Riesen zermalmt zu werden. Der Augenblick, wenn diese ihre Harpunen in den mächtigen Leib rammen. Ein Ruck geht durchs Boot, sobald der Wal anzieht und zu entkommen versucht. Gischt und Wind im Gesicht. Der Geschmack von Salzwasser auf den Lippen. Der rasende Herzschlag. Der Moment, in dem der Bootsführer dem erschöpften Tier mit einer langen Lanze den Todesstoß versetzt, gefolgt von der blutroten Blasfontäne, die das letzte Keuchen des Giganten signalisiert. Dann die Stille. Das Hochgefühl, die mächtigste Kreatur auf Gottes Erden bezwungen zu haben. Der Triumph, den massigen Körper schließlich längsseits zum Schiff zu bringen.

Es war wie eine Droge. Hatte man erst einmal davon gekostet, konnte man nicht wieder davon lassen.

Es überspielte auch die eher unappetitlichen Aspekte des Walfangs: das Abspecken des Kadavers und das Auslösen des Fischbeins.

Fischbein sind die Barten der Wale, die bei den meisten der großen Arten die Zähne ersetzen. Lange, außen glatte und innen mit fransenartigen Borsten besetzte Hornplatten, die ähnlich einem Kamm leicht überlappend am Oberkiefer des Tieres aufgereiht sind und dazu dienen, Plankton, Krill und sonstige Nahrung aus dem Meerwasser zu filtern. Fischbein ist leicht, nahezu unzerbrechlich, dauerhaft elastisch und relativ einfach zu verarbeiten. Die faserige Struktur erlaubt es, feinste, biegsame Streifen herauszuschneiden, die dann als Korsettstäbe, Schirmrippen, Fächerstäbe oder andere Modeartikel Verwendung fanden.

Es war kein Walrat, geschweige denn Ambra — aber es würde trotzdem einen anständigen Preis bringen.

Aufgrund seiner Position als Schiffszimmermann blieb Charles Philip Plumpton das blutige Geschäft des Abspeckens erspart. Seine vordringlichste Aufgabe nach Vollendung einer Jagd bestand darin, Boote und Riemen auf Schäden zu untersuchen und diese gegebenenfalls zu beheben. Das Auslösen und Reinigen des Fischbeins von Haut- und Speckresten überließ man Spezialisten, die es sofort fachgerecht zu lagerfähigen Rohlingen verarbeiteten.

Was niemand erspart blieb, war der Gestank beim Trankochen. Die Speckschicht macht gut die Hälfte des Körpergewichts eines großen Wales aus. Bei einem 50-60 Tonnen schweren Tier fallen demnach rund 30 Tonnen Speck an, die zu Tran verkocht werden wollen. Als wäre der Geruch des frischen Walöls nicht allein schon unangenehm genug, befeuerte man schließlich auch die Tranöfen selbst mit den Überresten des Kochprozesses (Brennholz war auf hoher See ein rares Gut!), Grieben von verkrustetem, ausgemergeltem Walspeck, die das Schiff mit einem beißenden, stark rußenden Rauch überzogen, der die Augen tränen und das Husten zu einem ständigen Begleiter werden ließ.

Tage vergingen, bis endlich der letzte Kessel Öl erkaltet, in Fässer gefüllt und verladen, das Deck von der schmierigen Schicht aus Blut, Fett und Ruß befreit war.

Für die Mannschaft der ‚Eleanore’ gehörte dies vorerst der Vergangenheit an. Wochen war es her, seit sie den letzten Wal ihrer diesjährigen Reise verarbeitet hatten. Die Decks glänzten, als sei das Schiff gerade erst vom Stapel gelaufen. Zufriedenheit machte sich breit, Zufriedenheit mit dem Ertrag der Reise, aber vor allen Dingen darüber, dass keiner von ihnen ernsthaft verletzt, geschweige denn getötet wurde. Eins der Boote hatte beträchtlichen Schaden erlitten, als es vom Schwanz des Grönländers erwischt wurde. Zum Glück kamen jedoch alle Insassen mit dem Schreck und ein paar Schrammen davon.

Am Abend würden sie daheim bei ihren Familien sein. Und im nächsten Jahr — so waren sie sich einig — würden sie erneut auf große Fahrt gehen.

Zuletzt hatten sie zwei Tage im Hafen von Kingstown auf der Insel St. Vincent gelegen. Ein Drittel ihrer Ladung konnten sie dort bereits veräußern. Vor einiger Zeit war der Markt für Fischbein vorübergehend eingebrochen, als das Damenkorsett, damals das wichtigste Produkt, für das die flexiblen Stangen in Massen eingekauft wurden, plötzlich aus der Mode kam. Aber mittlerweile hatte sich die Lage entspannt. Nun waren es die Männer, die das Korsett für sich entdeckt hatten! Die feinen Herren und Salonlöwen aus London und Paris verspürten auf einmal das Bedürfnis, ihre Schmerbäuche vor der (Damen-)Welt zu verbergen. Die eitlen Gecken der hohen Militärs taten es ihnen gleich. Selbst in den fernen Kolonien wollten sie nicht auf ein schlankes, mondänes Erscheinungsbild verzichten. Manufakteure, die sich auf den Inseln niedergelassen hatten, kauften daher wieder verstärkt Fischbein, um der steigenden Nachfrage nach Herrenkorsetts nachzukommen. Sie zahlten gut, konnten ihre Ware dennoch preisgünstig feilbieten, da sie den kostspieligen Import der fertigen Produkte aus England oder Frankreich umgingen. Die karibische Sonne trug das Ihre dazu bei, dass der Bedarf an Sonnenschirmen für die Töchter und Gemahlinnen der Kolonialoffiziere niemals schwand. Im Vergleich zum Vorjahr war der Preis für Fischbein sogar noch gestiegen. Der Kurs für Waltran blieb stabil. Günstiges Lampenöl und Schmiermittel wurden immer gebraucht. Teure Walratöle und –kerzen konnten sich die einfachen Leute ohnehin nicht leisten.


Aber nicht die guten Geschäfte, Spekulationen über die Höhe des eigenen Anteils oder die Vorfreude auf das Wiedersehen mit den Lieben daheim waren das vorherrschende Thema der Seeleute, als die ‚Eleanore’ an diesem Morgen in Kingstown den Anker lichtete.

Es war eine junge Frau.

Sie war etwa Mitte Zwanzig. Kurz vor dem Auslaufen war sie in Begleitung des Kapitäns an Bord gekommen. Sie trug Männerkleidung! Hosen und Stiefel! Ihren rechten Handrücken zierte die Tätowierung eines merkwürdigen Vogels mit ausgebreiteten Flügeln. Seit man vor gut zwei Stunden in See gestochen war, hatte sie die Kajüte des Käpt’ns nicht verlassen.

„Ich sage euch ... das ist die Tochter von Neckbone!“

„Bist du sicher?“

„Aye!“

„Neckbone?“

„Aye!“

„Habt ihr die Tätowierung gesehen?“

„Wer ist Neckbone?“

Die drei Männer starrten Charlie Plumpton fassungslos an.

Sie standen auf dem Vorschiff der ‚Eleanore’. Da es kaum noch etwas zu tun gab, wollte er noch einmal das beschädigte Fangboot in Augenschein nehmen, das man dort festgezurrt hatte.

„Teufel auch, Charlie!“ schnaubte einer der Harpuniere, den alle bloß Spunk nannten. „Wo lebst du eigentlich?“

„Aye!“ pflichtete ihm der alte Abraham bei.

„Neckbone Willis ist der gefährlichste Pirat in diesen Gewässern, Mann!“ meldete sich der Dritte im Bunde, ein Kreole namens Jerome.

„Nie von ihm gehört.“

„Kruzifix, Charlie!“ Spunk schüttelte mit dem Kopf. „Ihr habt eine Taverne zu Hause! Wie kann man da nicht von Neckbone gehört haben?“

„Aye! Mit bloßen Händen hat er mal einem Mann die Wirbelsäule rausgerissen!“ setzte Abraham hinzu.

„Wirklich?“

„Aye! Lass also besser die Finger von der Kleinen, mein Junge!“

„Und ihr seid sicher, dass sie die Tochter von diesem Piraten ist?“

„Ja, Mann!“ nickte Jerome. „Die Tätowierung, Mann!“

„Kein Zweifel!“ sagte Spunk.

„Man sagt auch“, begann Abraham in einem bedeutungsvollen Flüsterton, „man sagt ... Neckbone habe sie in einem heidnischen Ritual mit einer Voodoo-Priesterin gezeugt! Ein Kind des Teufels!“

„Ja, Mann! Böses Omen, Mann!“

Charlie Plumpton wusste nicht recht, was er von alledem halten sollte. „Wenn sie tatsächlich die Tochter von diesem Neckbone ist ... wollt ihr damit sagen, der Käpt’n steht mit Piraten im Bunde?“

Abraham lächelte ein schiefes, zahnloses Lächeln. Dann legte er Charlie den Arm um die Schultern.

„Lass mich so sagen, mein Junge“, sprach er leise weiter. „Viele Jahre fahre ich jetzt schon mit dem alten Boles zur See. Noch nie sind wird dabei von Piraten...“

„Still!“ zischte Spunk plötzlich.

„Nichts zu tun, Gentlemen?“ erklang daraufhin die Stimme des Kapitäns, der gerade an Deck seine Runde drehte.

Die Männer schwiegen.

„Kommt schon, ihr alten Waschweiber!“ knurrte er schließlich. „Haltet Mr. Plumpton nicht von der Arbeit ab!“

Wortlos verzogen sich die Männer.

Einen Moment lang fixierte der Kapitän Charlie mit einem scharfen Blick. Dann wandte er sich um und setzte seine Runde fort.

Charles Philip Plumpton richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Boot. Er löste einige der Halteseile und schob es ein wenig von der Backbordreling fort, an der es festgezurrt war, um es besser inspizieren zu können. Der Bug war fast völlig zerstört, ein einziges, großes Loch. Zahlreiche Risse in den Planken zogen sich weit in den Bootskörper hinein. Viele davon mussten ausgewechselt werden. Schnell war klar geworden, dass man die Reparatur nicht auf See durchführen konnte. Daher hatte man es lediglich an Deck festgemacht und sich für den Rest der Fahrt mit den beiden übrigen Booten begnügt. In Gedanken erstellte Charlie eine Liste der Arbeiten, die nötig sein würden, um es für die nächste Saison wieder seetüchtig zu machen. Dies würde seine erste Aufgabe nach ihrer Heimkehr sein.

Schritte auf dem Vordeck ließen ihn aufblicken. Es war die junge Frau. Ohne ihn anzusehen, ging sie auf den Bugspriet zu. An der Reling blieb sie stehen und starrte auf den Horizont. Ihr weites Hemd flatterte im Wind, ebenso die Strähnen ihres langen, leicht gelockten, rabenschwarzen Haars.

Wie gebannt ruhten Charlies Augen auf ihr. Sie war kleiner als er, etwa 1,65. Sie entbehrte der vornehmen Blässe und Zerbrechlichkeit, die man von den höheren Töchtern der feineren Gesellschaft kannte. Sie war braungebrannt, kräftig, aber nicht von der plumpen Robustheit der Marktweiber, Mägde und Bauersfrauen. Sie war sehnig, athletisch, von einer ganz eigenen Eleganz.

„Es ... ähm ... es geht ein guter Wind...“ Charlie erschrak fast vor dem Klang seiner eigenen Stimme, als er es wagte, sie anzusprechen. „...wenn es ... ähm ... so bleibt, werden wir vor Sonnenuntergang in St. George’s sein.“

Die junge Frau drehte sich zu ihm um.

„Was haben Sie gesagt?“

„Ich ... ähm ... habe gesagt ... wenn der Wind so bleibt, werden wir vor Sonnenuntergang...“

„Oh ... ja.“

Charlie hatte keine Ahnung, was er als nächstes sagen sollte.

Er sah sie einfach nur an.

Er mochte ihr Gesicht. Ihre Nase, ihre Lippen.

Sie hatte grüne Augen.

„Hallo?“ riss sie ihn aus seinen Gedanken. „Ist sonst noch was?“

Er mochte ihre Stimme.

Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß.

„Nun?“

Charlie wurde rot. „Ich ... ähm ... verzeihen Sie, Miss Willis...“

„Nennen Sie mich nicht so!“ fuhr sie ihn daraufhin an.

Der Ausbruch kam unerwartet.

„Verzeihung“, stammelte Charlie. „Ich dachte, das wäre Ihr Name...“

„Mein Name ist Prendegast“, erwiderte die junge Frau sachlich. „Der Name meiner Mutter.“

„Ah...“

Ebenso unerwartet begann sie auf einmal zu lachen. „Lassen Sie mich raten, Ihre verlausten Kameraden haben Ihnen ein paar ihrer tollen Geschichten erzählt...“

Charlie starrte auf die Schiffsplanken.

„...dass meine Mutter eine Voodoo-Hexe war...“

„So ähnlich...“

„...dass ich Sie mit dem Bösen Blick verzaubern könnte...“

Charlie Plumpton schwieg.

„...dass Ihnen mein Vater mit bloßen Händen das Rückrad rausreißt, sollten Sie mich auch nur falsch ansehen...“

„Tut mir wirklich leid, Miss ... ähm ... Prendegast.“

„Emma.“

„Emma“, wiederholte er verträumt.

Wieder wusste Charlie nicht, was er sagen sollte.

Sie musste ihn für einen Vollidioten halten.

„Nun ... um Sie zu beruhigen“, hatte sie schließlich ein Einsehen mit ihm. „Meine Mutter war keine Voodoo-Hexe, ich beherrsche nicht den Bösen Blick und mein Vater...“ Sie geriet kurz ins Stocken. „...nun ja ... man kann sich seine Eltern nicht aussuchen.“

„Warum nennt man ihn ‚Neckbone’?“ wollte Charlie wissen.

„Tja...“ Emma zuckte die Achseln. „Klingt wahrscheinlich besser als ... Hubert Perceval.“

„Das ist sein Name?“

„Ja ... das ist sein Name. Hubert Perceval Willis ... Schrecken der Karibik!“

„Oh ... mein Name ist übrigens Charlie ... Charlie Plumpton.“

„Plum, eh?“ Lässig, mit den Händen an den Hüften, baute sich Emma vor ihm auf. Es schien sie zu amüsieren, wie er dastand und um Worte rang.

„Was ist das?“ brachte er schließlich hervor und deutete auf die Tätowierung an ihrer Hand. „Eine Möwe?“

„Ein Albatros.“

„Was hat es damit auf sich?“

Emmas Gesichtszüge verhärteten sich.

„Das ist persönlich“, sagte sie nur.


„Segel voraus!“ rief der Ausguck im Masttopp.

Es musste etwa zur Mittagsstunde sein. Die Sonne stand hoch am Himmel. Ihre Reflektionen auf den Wellen blendeten die Augen.

Käpt’n Boles griff nach seinem Fernrohr und ging zum Bug.

Einige Männer folgten ihm.

„Es ist eins von uns ... so weit, so gut“, ließ er schließlich verlauten. „Britisches Linienschiff ... kommt wahrscheinlich aus St. George’s ... geben wir uns zu erkennen, und dann weiter ... Kurs beibehalten.“

Er reichte das Fernglas Tobias, dem zweiten Steuermann.

„Sir ... es signalisiert, Sir!“

„Hmm“, knurrte Boles. „Mouse, hol mal das Kodebuch aus meiner Kabine!“ wies er den Schiffsjungen an.

„Es ist die ‚Trafalgar’, Sir“, sagte Tobias, nachdem man die Flaggensignale entschlüsselt hatte. „Wir sollen stoppen ... und längsseits kommen.“

Bollocks!“ fluchte der Käpt’n. „Hätte das nicht warten können, bis wir zu Hause sind?“

„Vielleicht ist zu Hause etwas vorgefallen“, erwiderte Tobias. „Vielleicht eine Epidemie?“

Erschrocken sahen die Männer einander an.

„Vielleicht machen ja die Franzosen wieder Ärger“, warf Spunk, der Harpunier, ein.

„...oder Piraten!“ ergänzte der alte Abraham.

Feindselige Blicke wandten sich daraufhin Emma Prendegast-Willis zu, die sich nun ebenfalls zu der Gruppe gesellte.

„Wir werden es früh genug erfahren“, beschwichtigte der Kapitän. „Los, Männer! Holt die Segel ein! Tun wir, was sie wollen...“

Rasch kam die ‚Trafalgar’ heran. Laut Register war sie ein Schlachtschiff 1. Ranges mit 104 Kanonen. Mit fast 70 Metern Länge war sie mehr als doppelt so groß wie die zierliche ‚Eleanore’. Sie war fast vollständig schwarz lackiert, allein die Breitseiten der drei Batteriedecks erstrahlten in leuchtendem Weiß.

Eine stattliche Anzahl Marineinfanteristen war auf dem Oberdeck angetreten. Zwischen all dem Rot der Uniformröcke war es schwer, andere Crewmitglieder auszumachen.

„Mir gefällt das nicht“, flüsterte Emma Charlie Plumpton zu und zog diesen von der Steuerbordreling fort. „Sieht mir nicht nach einem Freundschaftsbesuch aus...“

Auch die ‚Trafalgar’ strich nun Segel. Sie war jetzt fast schon Seite an Seite mit der ‚Eleanore’.

Käpt’n Boles griff zum Sprachrohr.

„Schiff ahoi!“ tönte seine Stimme über das Meer. „Wie steht’s daheim in St. George’s?“

Einen Moment lang herrschte Stille.

Dann sah man die Marineinfanteristen anlegen.

Wie ein Dutzend Peitschenschläge löste sich eine Salve Musketenfeuer.

Tödlich getroffen ging Boles zu Boden.

Die Mannschaft der ‚Eleanore’ war vor Schreck wie gelähmt. Kreidebleich stand Tobias direkt neben der Stelle, an der sein Kapitän gerade gefallen war. Er betastete seinen Bauch. Ungläubig starrte er auf das Blut an seinen Händen. Dann begann er zu schwanken und brach ebenfalls zusammen.

Die übrigen Männer blieben wie angewurzelt stehen.

„Runter!“ zischte Emma und riss Charlie auf die Planken.

Eine neuerliche Musketensalve prasselte auf das Deck. Weitere Seeleute wurden niedergemäht.

Die ‚Trafalgar’ öffnete ihre Kanonenluken.

Ein vielstimmiger Donnerhagel brach über die ‚Eleanore’ herein. Man hörte das Pfeifen der Projektile aus den langen 12-Pfündern vom oberen Deck des Schlachtschiffs, während die schwereren Kaliber der unteren Batterien düster grollend dem Schiffsrumpf zusetzten. Die kleine Bark zitterte und bebte unter der schieren Gewalt der Geschütze.

Panik brach aus. Einige der Seeleute versuchten sich unter Deck in Sicherheit zu bringen. Andere liefen einfach wie aufgeschreckte Hühner umher.

Charlie Plumpton war wie betäubt. Er sah Mouse, den Schiffsjungen, der gerade von einem Volltreffer über Bord gefegt wurde.

„Komm schon, Plum!“ Dumpf erklang Emmas Stimme in seinen Ohren. Sie zerrte an seinem Arm. „Keine Müdigkeit vortäuschen...“

Er lag am Boden und konnte sich nicht entsinnen, wie er dorthin gelangt war. Als er den Kopf hob, sah er einen Gewittersturm aus Holz und Eisen über die ‚Eleanore’ hinweg ziehen. Flüchtende Männer wurden von umherschwirrenden Planken und Bruchstücken der Takelage von den Füßen gerissen. Einschlagende Geschosse ließen Schwärme spitzer Holzsplitter durch die Luft flirren.

All das wirkte wie in einem Traum.

Vor seinen Augen drehte sich plötzlich alles.

„Vorsicht!“

Kreischend krachte ein menschlicher Körper vor ihm auf das Deck.

Unsanft packte ihn daraufhin jemand am Kragen und versetzte ihm links und rechts eine Ohrfeige.

„Wach endlich auf!“ schrie Emma ihn an. „Sonst bringst du uns noch beide um!“

Charlie kam wieder zu sich. Irgendwie hatte ihn seine Begleiterin mittschiffs manövriert. Vor sich erkannte er die Leiche von Jerome. Ein Scharfschütze hatte ihn vom Masttopp geschossen. Eine Kugel steckte in seinem Hals. Aus dem zerschmetterten Hinterkopf strömte das Blut.

Dann war das Trommelfeuer vorüber.

Die ‚Trafalgar’ war fürs Erste an ihnen vorbei gesegelt.

Emma ließ Charlies Kragen los.

Sie erblickten Spunk, der wie ein Wahnsinniger zum Achterdeck stürmte und dem Schlachtschiff seine Harpune hinterher warf.

„Nehmt das, ihr Schweine!“ brüllte er, schäumend vor Wut.

Harmlos landete die Harpune im Wasser.

Die Marinesoldaten nahmen Spunk ins Visier und schossen ihn nieder.

„Die kommen zurück“, sagte Emma. „Uns bleibt nicht viel Zeit!“

Neben ihnen knarrte und knackte es. Der von der Kanonade stark beschädigte Großmast brach. Knirschend bog sich die tonnenschwere Konstruktion. Armlange Splitter platzten an der Bruchstelle aus dem Holz, bis er schließlich nachgab. Im Fallen verfing er sich in der Vertakelung des Heckmastes und riss diesen mit um. Ein Ächzen ging durch das Schiff.

Die ‚Eleanore’ hatte kapitale Schlagseite. Charlies Blicke wanderten über das zertrümmerte Oberdeck. Hier und da regte sich noch jemand. Man hörte Stöhnen und Wimmern.

Emma griff wieder nach seinem Arm und zog ihn mit sich. „Los, komm!“ drängte sie. „Wir müssen runter vom Schiff!“

Über auf Deck gestürzte Rahen und zerfleddertes Segeltuch arbeiteten sie sich zurück zum Bug vor. Der Fockmast war etwa auf halber Höhe glatt weggeschossen worden. Nur noch ein paar Taue hielten die Reste von Bugspriet und Klüverbaum zusammen.

Geradewegs steuerte Emma auf das beschädigte Fangboot zu, an dem Charlie zuvor gearbeitet hatte. Die Wucht der Kanonade hatte es durch die Reling brechen lassen. Es hing bereits halb über Bord. Eine gekrümmte Gestalt kroch davor auf den Planken.

Es war der alte Abraham.

Charlie eilte auf ihn zu. Behutsam drehte er den Alten auf den Rücken.

Abraham schien durch Charlie hindurch zu sehen. Seine Augen suchten die junge Frau. Blutstropfen rannen aus seinen Mundwinkeln. Ein gurgelndes Husten entwich ihm, als er zu sprechen versuchte.

„Verfluchte Hexe!“ keuchte er nur noch und starb.

Emma schenkte ihm keine Beachtung.

Ein Blick nach achtern ließ erkennen, dass die ‚Trafalgar’ beidrehte und für einen zweiten Angriff zurückkam.

„Los, fass mit an!“

Gemeinsam stemmten sie sich gegen das Bootswrack, um es von Bord zu schieben. An einem letzten Halteseil blieb es hängen und baumelte von der Reling. Emma zog ein Messer aus dem Schaft ihres Stiefels und kappte damit das Seil. Ein paar Meter weiter unten hörte man das Wrack auf die Wasseroberfläche klatschen.

„Vertraust du mir?“

Charlie Plumpton nickte.

„Dann spring!“


Kieloben trieb das Boot im Meer. Es war umringt von Trümmern sowie ein paar toten Seeleuten.

„Und was jetzt?“ wollte Charlie wissen.

Wassertretend klammerten sie sich an den Rand des Fangbootes.

Emma warf den Kopf nach hinten, um ihr Gesicht von nassen Haarsträhnen zu befreien.

„Wir müssen irgendwie an Bord des anderen Schiffes gelangen, ohne dabei entdeckt zu werden“, lautete ihre nüchterne Antwort.

Charlie prustete einen Schwall Salzwasser aus, den ihm der leichte Wellengang in den Mund gespült hatte.

„Bist du wahnsinnig?“

„Denk nach, Plum!“ gab Emma zurück. „Glaubst du wirklich, die werden irgendwelche Zeugen zurücklassen, die darüber berichten könnten, was hier passiert ist? Die werden den Kahn hier versenken und nicht eher abziehen, bis sie sicher sind, dass keiner überlebt hat! Der einzige Ort, an dem sie nicht suchen werden, ist ihr eigenes Schiff! Das ist unsere einzige Chance!“

Die ‚Trafalgar’ kam langsam auf sie zu. Sie hatte sämtliche Segel eingeholt und brachte sich in nun Position, die Backbordseite der weidwunden ‚Eleanore’ unter Beschuss zu nehmen.

„Unter das Boot ... schnell!“ raunte Emma Charlie zu.

Sie tauchten mit ihren Köpfen in dem Hohlraum unter dem Bootskörper. Durch die fehlenden Planken des zerstörten Bugs konnte Emma nach draußen spähen.

„Sie werden ganz auf ihre Steuerbordbatterien konzentriert sein“, ließ sie Charlie wissen. „Wir müssen auf die andere Seite! Los, Plum! Schwimm! Aber nicht zu schnell ... wir müssen wie Treibgut wirken...“

Mit den Händen fassten sie die Ruderbänke des Fangboots. Vorsichtig schwammen sie vorwärts. Stück für Stück lösten sie sich von den treibenden Trümmern.

„Warum nennst du mich ‚Plum’?“ fragte Charlie.

Emma grinste ihn an.

„Es passt zu dir!“ sagte sie bloß.

Plötzlich durchfuhr ein heftiger Schlag das Boot. Beinahe hätte Charlie vor Schreck die Ruderbank losgelassen.

Die ‚Trafalgar’ hatte sie gerammt.

Sie machte allerdings kaum noch Fahrt. Langsam schrammte das Boot am Schiffsrumpf entlang, bis es endlich zum Stillstand kam.

Emma blickte hinaus.

Sie lagen an Backbord. Massig türmte sich die Bordwand des Schlachtschiffs vor ihr auf. Knapp zwei Meter über der Wasserlinie befanden sich die geschlossenen Kanonenluken des unteren Batteriedecks.

„Dann wollen wir mal“, murmelte sie.

„Was, wenn sie zum anderen Ende der Welt segeln?“ schoss es Charlie auf einmal durch den Kopf.

„Unwahrscheinlich“, erwiderte Emma leise. „Sie hat keinen großen Tiefgang. Glaube kaum, dass sie viel Proviant geladen hat ... vielleicht noch nicht einmal volle Besatzung. Still jetzt! Und versuch, das Boot ruhig zu halten...“

Durch das Loch im Bug zog sie sich auf den Rumpf des Fangboots, während Charlie im Inneren versuchte, dem Seegang entgegen zu wirken. Schließlich gelang es ihr sich aufzurichten und Halt an der Schiffswand zu finden. Ihre linke Hand bekam die Aussparung vor einer Kanonenluke zu fassen. Querverstrebungen außen am Schiff ließen sich als Fußtritt nutzen.

„Okay ... jetzt du!“ ließ sie Charlie wissen.

Mühsam kämpfte sich dieser auf das Boot. Es schaukelte und schwankte auf den Wellen, schlug ein ums andere Mal an der ‚Trafalgar’ an.

Emma streckte ihre rechte Hand aus, um ihm zu helfen.

Charlie sah zu ihr auf.

Das durchnässte weiße Hemd klebte förmlich an ihrem Körper.

Deutlich sichtbar zeichneten sich darunter ihre Brüste ab.

Sie hatte kleine, feste Brüste.

„Träumst du, oder was?“

Charlie griff nach ihrer Hand.

Donnerschläge ließen das Schiff erzittern. Die ‚Trafalgar’ hatte die ‚Eleanore’ wieder unter Feuer genommen.

Charlie rutschte ab.

„Hab dich!“ reagierte Emma sofort.

Fest schloss sich ihre Hand um seine.

Endlich fand auch Charlie nun sicheren Halt.

Das zerstörte Fangboot trieb langsam von der Bordwand der ‚Trafalgar’ fort.

Emma zückte das Messer aus ihrem Stiefel und stieß es in die Ritze am Rand der Kanonenluke. Behutsam schob sie damit die Klappe einen Spalt breit auf und spähte hindurch.

Das Deck war breit: mehr als zehn Meter. Auf der gegenüberliegenden Seite sah sie Männer, die eifrigst damit beschäftigt waren, die Kanonen nachzuladen. Schwere 32-Pfünder Munition wanderte in die Mündungen der langen Rohre. Ladestöcke stopften sie tief in die Läufe. Befehle wurden gebrüllt.

Emma bedeutete Charlie, sich still zu verhalten. Dann öffnete sie die Luke ganz. Sie war gerade groß genug, dass man sich hindurch zwängen konnte. Behände zog sie sich hoch und schlüpfte ins Innere.

Das Kanonendeck war düster. Das einzige Licht fiel durch die geöffneten Luken der Steuerbordbatterie. Ein leichter Dunst und der Geruch von Schießpulver lagen in der Luft.

Die Männer an den Geschützen bemerkten sie nicht. Sie waren gerade dabei, die Kanonen mit Seilwinden zurück in Schussposition zu ziehen und neu auf das Ziel auszurichten.

Emma beugte sich nach draußen und winkte Charlie zu. Sie fasste ihn bei den Händen und half ihm hinein. Vorsichtig schloss sie hinter ihm die Klappe.

Im Halbdunkel kauerten sie hinter einem der Geschütze. Fünfzehn davon waren säuberlich entlang der Backbordwand aufgereiht. Darüber und in den Zwischenräumen hingen die Hängmatten der Crew von der Decke. Das von Steuerbord einfallende Tageslicht drang kaum bis hierher vor. Vier große, im Zentrum des Decks montierte Pumpen schützten sie ebenfalls vor zufälligen Blicken.

Trotzdem, hier konnten sie nicht bleiben.

Von den Decks über ihnen ertönte plötzlich ein Kommando. Daraufhin begannen oben die Kanonen wieder zu feuern.

„Feuer frei!“ erklang es jetzt auch ganz in ihrer Nähe.

Die Kanoniere legten die Lunten an. Eins nach dem anderen ließ der Rückstoß die Geschütze auf ihren Lafetten nach hinten springen. Der Höllenlärm brachte die Planken unter ihren Füßen zum Vibrieren. Draußen hörte man das Krachen der Einschläge.

Im selben Moment, als der Feuerbefehl gegeben wurde, packte Emma ihren Begleiter am Ärmel und manövrierte ihn zu den nächstgelegenen Stufen nach unten. Zuvor stieß sie noch einen Eimer des überall bereitstehenden Löschwassers um, um so die Spuren zu verwischen, die ihre tropfend nasse Kleidung hinterlassen hatte.

Als das Getöse vorüber war, befanden sie sich bereits im Orlop, dem Unterdeck.

„Laden!“ tönte es von oben. „Und jemand soll die Pfütze da wegwischen!“

Laute Schritte näherten sich ihnen.

Emma und Charlie huschten um die Treppe herum. Sie entdeckten eine kleine Nische, in der ein paar Taue und eine Handvoll rauer Schiffsdecken lagen. Sie hechteten in die Nische und zogen sich hastig die Decken über den Kopf.

Im nächsten Moment trampelten die Füße mehrerer Matrosen die Stufen hinunter.

Charles und Emma hielten den Atem an. Bewegungslos und dich aneinander geschmiegt lauschten sie, was die Seeleute wohl tun würden. Charlie spürte den Herzschlag der jungen Frau auf seinem Rücken.

In einiger Entfernung vernahmen sie ein Rumpeln, unverständliche Stimmen, Flüche.

Die Männer kamen zurück.

„Zähes kleines Schiff“, sagte einer von ihnen, als sie bereits wieder auf der Treppe waren. „Will einfach nicht absaufen!“

Offenbar wurden sie geschickt, um zusätzliche Pulverladungen aus den Magazinen zu holen.

Emma und Charlie warteten einen Augenblick, bevor sie sich aus ihrem Versteck wagten. Das Unterdeck war verlassen. Es wurde von Laternen beleuchtet. (Da man sich hier unterhalb der Wasserlinie befand, gab es keinen direkten Lichteinfall von draußen.) Sie nutzten die alten Decken, um sich so gut es ging abzutrocknen. Emma zog ihre Stiefel aus und kippte das darin enthaltene Wasser in das abgelegte Tauwerk. Das Messer steckte sie in ihren Hosenbund.

Sie sahen sich um. Sie entdeckten die Bordapotheke sowie die Kabine des Schiffsarztes. Deren Tür stand offen. Eine kleine Reisetasche war lieblos auf die Koje geworfen worden, darüber ein Hut und ein einfacher Gehrock. Auf einem Tisch neben der Kabine lag eine Handvoll chirurgischer Instrumente bereit.

Die ‚Trafalgar’ feuerte eine weitere Breitseite.

Die nächste Kabine gehörte dem Zeug- und Proviantmeister. Sie erweckte nicht den Eindruck, als sei sie im Augenblick bewohnt. An einem Nagel auf der Innenseite der Tür hing ein eiserner Schlüssel.

Ein unheimliches Geräusch erfüllte plötzlich das Orlopdeck. Es war das ächzende Knarren von Holz. Entfernt, aber dennoch deutlich. Die ‚Eleanore’ sank! Das Stöhnen der Balken und Planken setzte sich durch das Wasser bis auf die ‚Trafalgar’ fort. Ein letztes Wehklagen, bevor die Tiefe das kleine Schiff endgültig verschlang.

Vom Oberdeck hörte man dumpfes Musketenfeuer. Einige Männer der ‚Eleanore’ mussten es geschafft haben, bis jetzt durchzuhalten.

„Besorgen wir uns was Trockenes zum anziehen...“

Emma griff nach dem Schlüssel und öffnete damit das Magazin des Proviantmeisters. Sie war bereits aus ihrem nassen Hemd geschlüpft und knöpfte gerade ihre Hose auf.

Anscheinend besaß sie keinerlei Hemmungen, sich vor den Augen eines Mannes auszuziehen.

Etwas verschämt wandte Charlie sich ab.

„Was ist, Plum?“ bemerkte sie amüsiert. „Schüchtern?“

Kurz darauf hatte sie sich aus den spärlichen Beständen neu eingekleidet.

„Nun mach schon!“ drängte sie Charlie, während sie sich ihr frisches Hemd zurecht zupfte. „Ich verspreche, ich werde dir nichts weggucken!“

Die ‚Trafalgar’ ließ unterdessen Boote zu Wasser. Marineinfanteristen durchsuchten damit das Trümmerfeld, das die gesunkene ‚Eleanore’ hinterlassen hatte. Mit ihren Bajonetten stachen sie nach jedem Körper, der zwischen den Schiffsresten auf dem Meer trieb.

Charles und Emma stiegen in den großen Laderaum hinab. Sie befanden sich nun direkt über dem Kiel des Schlachtschiffes. Ein paar Ölfunzeln spendeten stellenweise schwaches, flackerndes Licht. Es gab hier genügend Stauraum, um eine mehrere hundert Mann starke Besatzung für Monate mit Proviant und Trinkwasser zu versorgen. Nun aber war das Lager fast leer. Nur wenige Fässer und Kisten waren zu sehen.

„Damit kommen sie nicht weit“, stellte Emma zufrieden fest. „Die können gar nicht anders, als den nächsten Hafen anzusteuern!“

Behutsam tasteten sie sich durch den weitgehend düsteren Raum, stets darauf bedacht, nicht über herumliegende Eimer, Schüppen und Schöpfkellen zu stolpern. Am Heck fanden sie hinter einigen Stützverstrebungen ein besonders dunkles Eckchen. Dort warf Emma das Bündel, zu dem sie ihre Stiefel und feuchten Kleider mit der Decke verknotet hatte, zu Boden.

„Was jetzt?“ fragte Charlie.

„Wir warten.“

Sie bedienten sich ein wenig an den Vorräten: ein paar Schlücke Wasser, etwas Schiffszwieback und Pökelfleisch.

Sie sprachen kein Wort.

Zwischenzeitlich wurde es lebhafter an Bord. Nach Beendigung des Angriffs wurde oben Klarschiff gemacht. Die Fahrwache wechselte. Schließlich setzte die ‚Trafalgar’ wieder Segel.

Sie durchlebten einige bange, angespannte Minuten, als eine Handvoll Seeleute ein Fass Rum aus dem Laderaum nach oben schaffte. Anscheinend gab es Sonderrationen für die geglückte Versenkung der ‚Eleanore’.

Die blinden Passagiere blieben unentdeckt.

„Ich gehe mich mal umsehen“, brach Emma nach einer gefühlten Ewigkeit das Schweigen. „Du bleibst hier...“

„Was hast du vor?“

„Ich will wissen, was hier vor sich geht ... wohin sie segeln.“

„Was soll ich...?“

„Bleib wachsam!“

Damit erhob sie sich und schlich davon.

Charlie dämmerte vor sich hin. Im Laderaum war es heiß und stickig. Kaum Frischluft drang bis hier unten in den Bauch des Schiffes vor. Er versuchte, die Ereignisse des Tages zu verarbeiten. Seine Gedanken kreisten aber immer bloß um seine ebenso mysteriöse wie faszinierende Begleiterin. Sie hatte ihn gerettet! Von den 23 Crewmitgliedern der ‚Eleanore’ hatte sie ihn auserwählt! Sie war sein Schutzengel. Sein wunderbarer Schutzengel!

„Nennst du das ‚wachsam bleiben’?“ schreckte ihre Stimme ihn auf.

Er musste eingedöst sein und hatte vollends das Zeitgefühl verloren.

„Was ist passiert?“ fragte er benommen.

„Sie segeln zurück nach St. George’s“, gab Emma zur Antwort. „Gegen sechs Glasen, glauben sie, dort zu sein. Nur halbe Besatzung...“

„Eine Ahnung, warum sie uns angegriffen haben?“

„Nein ... aber es ist wohl ein Grund zum Feiern...“

Zwei Decks über ihnen hörten sie die Mannschaft grölen und lachen.

„...die werden stockbesoffen sein, wenn wir ankommen!“

Wieder hieß es warten. Aufmerksam horchten sie der Schiffsglocke. Alle halbe Stunde wurde diese oben an Deck geschlagen, um den Fortschritt der aktuellen Wache zu signalisieren.

Zwei Schläge.

Drei Schläge.

Die über ihnen feiernde und zechende Mannschaft kam endlich zur Ruhe.

Vier Schläge.

Sie lauschten dem leisen Knarren der Planken, während das Schiff ruhig wogend durch die Wellen glitt.

Als die Glocke fünfmal schlug, raffte Emma sich auf.

„Es ist soweit.“

Wortlos griffen sie die Bündel mit ihren Kleidern und stiegen aus dem Laderaum. Auf dem Orlopdeck war es inzwischen finster. Allein in der Kabine des Schiffsarztes, deren Tür nur angelehnt war, brannte noch Licht. Drinnen hörte man das Rascheln von Papier. Entweder studierte der Doktor etwas, oder er sortierte Unterlagen. Lautlos schlichen Charles und Emma vorbei.

Über die Treppe gingen sie weiter nach oben. Nur noch wenige Lampen erhellten das Batteriedeck, das nun zum Mannschaftsquartier umfunktioniert worden war. Es roch nach Rum und Pfeifentabak. Hinzu kamen die vielfältigen Ausdünstungen der Seeleute, die nun in ihren Hängematten, über den Kanonen baumelnd, ihren Rausch ausschliefen.

Emma gab Charlie ein Zeichen, zurückzubleiben. Leise öffnete sie daraufhin die Tür zu einer kleinen Kammer am Bug des Schiffes. Sauber aufgerollt befanden sich darin die Ankertrossen der ‚Trafalgar’. Die Klüsenöffnungen an beiden Seiten erlaubten einen Blick nach draußen. Es war eine klare Nacht. An Steuerbord ließ sich im Licht des Mondes Land ausmachen: die Küstenlinie von Grenada. Das Schiff umfuhr demnach den Osten der Insel, um dann von Süden her in den Hafen von St. George’s einzulaufen.

Emma hatte genug gesehen.

Das rhythmisch monotone Schnarchen der Männer hatte etwas Beruhigendes an sich. In ihrem alkoholisierten Zustand stellten sie kein größeres Hindernis mehr dar. Die Unterkünfte der Offiziere und Marinesoldaten befanden sich weiter oben im Schiff. Sie würden sich hier unten nicht blicken lassen.

Einige Kanonenluken an Steuerbord standen offen, um etwas frische Luft hinein zu lassen. Auf leisen Sohlen bewegten sich Charles und Emma auf eine davon zu. Beinahe wäre Charlie auf einem Pfuhl von Erbrochenem ausgerutscht.

Vorsichtig schlängelten sie sich zwischen dem Geschütz und einer Hängematte hindurch, um die darin schlafende Person nicht aufzuwecken.

Draußen hörte man das Rauschen des Meeres, Wellen, die sich am Bug des Schiffes brachen.

Emma half Charlie dabei, mit den Füßen voran in die Öffnung zu steigen. Als dieser sicheren Halt an der äußeren Bordwand gefunden hatte, reichte sie ihm ihre Kleiderbündel.

Sie wollte ihm gerade nachfolgen, da bemerkte sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter.

„Komm, Schätzchen, hab dich nicht so!“ lallte ihr eine Stimme ins Ohr.

Erschrocken drehte Emma den Kopf. Sie blickte in die Augen eines betrunkenen Seemanns. Seine Lider waren halb geöffnet. Sie spürte seinen säuerlichen Atem auf ihrem Gesicht. Seine Hand strich durch ihr Haar.

„Komm schon“, sabberte er benebelt. „Du willst es doch auch...“

Ihr Messer zuckte an seine Kehle. Bei der ersten falschen Bewegung würde sie zustechen.

Dann jedoch wälzte sich der Mann grunzend in seiner Hängematte herum und schnarchte friedlich weiter.

Emma musste einen Augenblick nach Luft schnappen.

„Glück gehabt, du Schwein!“ murmelte sie schließlich, steckte das Messer weg und folgte Charlie durch die Luke nach draußen.


Erschöpft erreichten sie den Strand. Sie ließen sich in den Sand fallen und streckten ihre müden Glieder von sich, um erst einmal zu verschnaufen.

Es war eine warme karibische Nacht. Sanft wiegten sich die Blätter der Palmen im Wind.

„Wir sollten hier rasten“, sagte Emma, während sie sich mühsam auf die Beine kämpfte.

Sie blickte in den düsteren tropischen Urwald, der sich jenseits des Strandes landeinwärts erstreckte.

„Es macht keinen Sinn, im Dunkeln weiterzugehen...“

Dann sah sie hinaus aufs Meer. Die See glitzerte im Mondlicht. Weit draußen konnte man gerade noch die Positionslichter am Heck der ‚Trafalgar’ erkennen.

Emma löste ihr durchnässtes Bündel und kontrollierte den Inhalt einer kleinen Büchse, die sie aus dem Fundus des Proviantmeisters mitgehen lassen hatte.

„Wenn sie außer Sicht sind, können wir ein Feuer machen...“

Die Irrfahrt des Charles Philip Plumpton

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