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2. Wasser

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Selija öffnete die Tür. Sonne und Schnee blendeten, sie hielt die Hände vor die Augen. Die Hälfte eines Fingers bedeckte ein Ring mit der Gestalt einer Schlange. An Silber mangelte es Selija nicht, ihr Mann Gondas brachte viel davon mit. Und bunte Glasperlen. Selija konnte bei den örtlichen Handwerkern Halsketten, Broschen oder Armreife für sich bestellen, wann immer sie Lust hatte. Und das tat sie auch – sollten doch alle sehen, dass es ihr an nichts mangelte. Sollten das doch nur alle denken.

Selija rückte ihren Mantel zurecht. Der Pelz rutschte ihr runter, deshalb durchstach sie ihn voller Ärger mit einer Messingnadel und befestigte ihn am groben Wollstoff. Man sollte den Pelz nicht durchlöchern, aber was soll’s, sie würde ihn den Armen hinwerfen und sich einen neuen nehmen. Die Wagen ihres Mannes Gondas waren immer mit Pelzen gefüllt, die er von den Jägern der Gegend eingesammelt und zum Abtransport vorbereitet hatte. Selija durfte sich ohne zu fragen jeden Pelz nehmen, den sie gerade begehrte, Gondas war nie böse auf sie. Gondas war gut, Gondas beschützte sie, Gondas hatte einen Draht zu den Göttern, Gondas kehrte immer zu ihr zurück, Gondas war ein schöner Mann mit langem, strohfarbenem, auf dem Scheitel zusammengebundenem Haar, blauäugig wie alle unsere Männer, aber auch wieder nicht wie alle anderen, eine Narbe teilte Gondas’ Gesicht in zwei Teile. Gondas sagte, auf dem Weg nach Carnuntum hätten ihn Burgunden überfallen und ihm alles wegnehmen wollen, doch er, Gondas, und seine Leute hätten das nicht zugelassen, es habe fürchterlich geregnet und geblitzt, Gondas wusste selbst nicht, ob der Blitz oder das Schwert eines Burgunden sein Gesicht entzweigeschnitten hatte. Von dieser Reise kehrte Gondas lange nicht zu ihr zurück, er sagte danach, die Wunden seien lange nicht geheilt. Gondas war gut, Gondas hatte ihr einen großen Silberarmreif mitgebracht, der ihre Hand absinken ließ.

Kirnis brachte mehr Brennholz, Selija wollte ihm sagen, es reiche jetzt, es sei schon heiß drinnen, aber Kirnis ließ sich nichts sagen, Kirnis war alt, er hatte schon im Haus von Gondas’ Eltern Feuer gemacht. Alle sahen, dass Kirnis zu alt zum Arbeiten war, aber das konnte man ihm nicht sagen, er tat, was er wollte, ging schweigend, ein alter Krieger, obwohl er schon lange kein Schwert mehr zu heben vermochte, nur drei Scheite, um Feuer zu machen. Seinen Wildschweinanhänger nahm er nie vom Hals, was immer auch geschah, als wäre er auch hier, am Feuer, auf den Schutz der Göttermutter angewiesen, wie im Kampf gegen die Germanen.

Erst als sie das Blut sah, begriff Selija, dass sie sich in den Finger gestochen hatte. Sie leckte das Blut ab, warf einen Blick auf den Hof, um sich zu überzeugen, dass sich nichts geändert hatte. Die Sonne stieg immer höher, vermutlich schneite es zum letzten Mal. Selija holte tief Luft, sog den Schnee und die Kälte in die Lunge. Ihre Finger runzelten sich, Selija rückte den Pelz zurecht. Sie sollte die Tür schließen, die Hitze von drinnen und die schaudernde Kälte vermischten sich, wirbelten im Kreis um Selija; ihr gefiel dieses Leben nicht, das sie nicht im Griff hatte: Ihr Mann, Gondas, war gut, aber er hatte eine andere Frau mitgebracht.

War mit ihr und mit der Narbe im Gesicht zurückgekehrt. Er war lange weg gewesen, hatte gesagt, die Narbe stamme von den Burgunden, und Selija glaubte ihm; wem sonst, wenn nicht ihm, hätte sie denn glauben sollen.

Wenn er sich nach Carnuntum aufmachte, füllte Gondas die Wagen jeweils bis oben hin mit Pelzen, Honig, Bernstein. Von dort brachte er Silber, Kupfer, Blei und Zink mit; Selija wusste nicht, was das war, also ging sie hin und sah nach, bekam jedoch nichts Besonderes zu Gesicht, nur voll beladene Wagen. Er brachte auch Männer mit, jung, doch vom langen Fußmarsch ermattet – wenn man sie angriff und ihnen alles wegzunehmen versuchte, fingen Gondas und seine Männer die Überlebenden ein und banden sie an einem Wagen an oder verkauften sie, einige opferte man auch der Göttermutter.

Er brachte Männer mit, jetzt aber hatte er eine Frau mitgebracht.

Kirnis drängte sich an Selija vorbei durch die Tür, wohl schon ganz blind, ging langsam über den Hof davon; er war bei der Reise nicht dabeigewesen, ihn konnte sie nicht fragen.

Das war noch gar keine Frau, sondern ein Kind. Er hatte sie auf dem letzten Wagen mitgebracht, Selija hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sie ausstieg. Mit einer Leichtigkeit, die zeigte, dass sie noch ganz jung war. Sie, Selija, könnte nicht mehr so vom Wagen springen, das entspräche weder ihrem Alter noch ihrer Stellung. Selija ballte die Faust, die Fingernägel bohrten sich in ihre Hand. Sie könnte nicht mehr so herunterspringen. Nicht mehr. Sie drückte die Faust noch stärker zusammen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie vier bogenförmige Abdrücke, die erst nach mehreren Stunden verschwanden – früher verschwanden sie sofort, jetzt nicht mehr.

Jene Frau aber, dieses Kind, schaute sich um, hielt sich am Wagen fest, als fiele sie zu Boden, wenn sie losließe. Vielleicht würde sie das ja wirklich, sie war so lange gefahren, wahrscheinlich ohne auszusteigen, niemand hatte sie rausgelassen. Sie schien verängstigt und zur Verteidigung bereit. Der Blick eines gefangenen Jungwolfs. Sollte sie sich ruhig fürchten, sie, Selija, aber hätte keine Angst, wovor auch?

Die Männer luden die Sachen auf, sie schenkten den beiden Frauen keine Aufmerksamkeit. Selija tat so, als würde sie die Ladung prüfen und kam dem letzten Wagen immer näher. Sie wollte das gar nicht, aber sie tat es. Man kann den Feind nicht besiegen, wenn man ihn nicht kennt. Die Männer riefen einander immer wieder etwas zu, mehr Helfer herbei; Gondas hatte viele Männer, die Krieger durften zu ihren Frauen und Kinder gehen, die Speere und Schilde an die Wänden stellen, sie hatten ihre Arbeit getan, die Ladungen und Gondas sicher nach Hause gebracht.

Gondas war ein guter Mann, er hatte Selija einen großen Silberarmreif mitgebracht, in der Mitte schmal, aber zu den Enden hin breiter; er hatte ihn ihr über die Hand gestreift, sein Gewicht ließ sie absinken. Selija berührte die Narbe, Gondas wich zurück. Er war noch nie vor ihr zurückgewichen, doch jetzt tat er das. Selija versuchte es noch einmal, aber Gondas wandte sich um und ging. Die Männer türmten die Waren zu riesigen Haufen auf, sie wussten, sie könnten später wiederkommen, um sich ihren Anteil zu nehmen, Gondas war gut, er würde alle gerecht entlohnen, sowohl die Mitgereisten als auch die Hiergebliebenen.

Die Frau, das Beinahe-Kind, war anders. Sie hatte kein strohfarbenes, sondern leuchtend braunes Haar, gewellt, und hellbraune, glasklare Augen.

»Das ist Glesum«, sagte Gondas.

Selija zuckte zusammen, sie hatte gar nicht gespürt, wie er nähergekommen war; der Name ließ sie zusammenzucken, so einen hatte sie noch nie gehört, solches Haar, solche Augen, diesen Blick eines verängstigten Wolfjungen noch nie gesehen.

»Sie ist stumm, niemand hat je ihre Stimme gehört, du kannst sie nichts fragen«, sagte Gondas.

»Das sehe ich selbst«, erwiderte Selija.

›Sie sollte besser nicht bei uns wohnen‹, dachte sie bei sich. Besser wäre, sie würde überhaupt nicht leben, dachte sie.

Das Pferd schüttelte sich, weil die Mücken es von allen Seiten angriffen, und stürzte den Bottich um, das Wasser ergoss sich immer weiter, endlos. Selija kam es so vor, als würde sich auch ihr Leben genauso ergießen, mir nichts, dir nichts im Boden versickern, während das Pferd dem Bottich einen Tritt versetzte und ihn in unbestimmte Weiten davonfliegen ließ.

Glesum klammerte sich fest an den Wagen, die Männer machten einen Bogen um sie, schubsten sie nicht herum. Sie beruhigte sich ein wenig, alle kamen zur Ruhe, und allmählich kehrte das Leben in seine gewohnten Bahnen zurück.

Kleines Bernstein

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