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6. Tränen

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Wie jeden Frühling würde auch dieses Jahr der Tag kommen, an dem sich alle freuten, tanzten und sangen, der richtige Tag, um den Willen der Göttermutter zu erfahren, um sie um Gefallen zu bitten. Das war Frauenarbeit, die Männer mischten sich nicht ein, sie hatten ihre eigenen Pflichten, als Soldaten und Händler, die Frauen hätten sie auch gar nicht teilnehmen lassen, es überstieg die Kräfte der Männer, sich um Geburt, Fruchtbarkeit, Ernte und ähnliche Angelegenheiten zu kümmern, mit der Natur zu beraten.

Wenn der Schnee langsam schmolz und die Tage länger wurden, sahen sich die Frauen allmählich rastlos um, schienen stets auf etwas zu warten, aber keine ahnte, worauf – nur die Alte mit den Wolfsbissen am Bein wusste es, sie rief plötzlich alle zusammen, sagte, es sei Zeit; und alle Frauen, ob jung oder alt, ob voller Kraft oder kränkelnd, wenn die Beine sie nur trugen, die Wohlhabenden und sogar die Sklavinnen, flochten, bevor die Dämmerung hereinbrach, ihre Zöpfe, wuschen das Haar mit Kräutersuden, damit es im Abendrot so richtig glänzte, hüllten sich in ihre schönsten Schleier, ließen Kinder und Männer zurück und eilten auf den Lindenhügel, fröhlich und außer Atem; alle liefen sie hin, die jungen und die alten, als wären sie jung, sie spürten keinen Schmerz, sie spürten weder das Knirschen der Gelenke noch die Alltagsmüdigkeit noch irgendeine Art von Furcht: Du bist am Leben, solange du auf den Frauenberg steigen kannst, und wenn du das nicht mehr kannst, wozu dann leben?

Sie mussten auf den richtigen Augenblick warten, wenn Tag und Nacht gleichlang waren; nur die alte Frau wusste Bescheid, sie bereitete sich vor, kochte Trünke für alle und Tollkirschensalbe für die Greisinnen: Die Zutaten waren jetzt vorhanden, die dünnen Frühlingskräuter hatte sie schon in den Kessel geworfen, das Quellwasser und der Zauber der Alten entzogen ihnen ihre Essenz; nur in den Händen der Alten wurden sie so, sonst grünten sie nutzlos, auch die anderen alten Frauen wussten viel über Kräuter, die Hexen, sie wussten zu heilen und zu verzaubern, doch nur die Alte mit den Wolfsbissen am Bein wusste, wie sie sich mit der Göttermutter unterhalten musste, sie um Gnade und Erlaubnis bittend, ihr die auf der Zunge liegenden Fragen stellend; nur sie kannte die Sterne und sah, wann der Tag lang genug war zum Feiern und Bitten.

Ihre Geheimnisse hütete die Alte wie ihren Augapfel. Aber sie war schon alt – was wäre nach ihrem Tod? »Seid beruhigt, habt keine Angst, die alte Frau mit den Wolfsbissen am Bein lässt euch nicht allein, sie weiß viel besser als ihr, wann der Tod kommt, und wird ganz sicher nicht von euch gehen, ohne eine von euch in ihre Geheimnisse eingeweiht zu haben.« Keine der Frauen wusste, wen von ihnen sie im Sinn hatte, alle wollten diejenige sein und warteten voller Ungeduld, aber es war nicht an ihnen zu wählen, die Alte würde die Geeignetste nennen, die Göttermutter würde sie auswählen, und ihr könnt nicht anders, als ihrem Willen zu folgen.

So tanzten jetzt alle ihre Reigen, flochten die ersten Kränze, ganz kleine noch aus kurzen Gräslein, gerade erst hervorgesprossenen, setzten sie sich oder eine der anderen auf, spritzten mit frischem Wasser um sich, nicht eine von ihnen sah nach, ob die andere ihr eine Freundin oder verhasst war, sie gaben sich so, wie sie es nur ohne Männer taten, sangen Lieder, traurige und auch fröhliche, wie sie gerade an die Reihe kamen, wie die Alte sie anstimmte, die anderen begleiteten sie nur, machten Feuer, erbaten bald die eine bald die andere, was ihr Herz begehrte oder woran es in ihrem Heim mangelte, baten um eine gute Ernte, um Weizen, Gerste und Hafer, dazu ein wenig Roggen und Hirse, dass die Kinder nicht hungrig wären, baten darum, dass weder wilde Tiere noch Krankheiten sie heimsuchten, baten um Kampferfolg für ihre Männer, baten um Silber und andere wunderschöne Dinge, baten um Kinder, wenn sie keine hatten, baten um Ruhe, wenn sie schon von allem reichlich hatten. Sie hörten nicht auf zu bitten, so wollte es der Tag, so wollte es das Fest, die Göttermutter erhörte eine jede, sah jede Träne, man durfte sie selbst wegen des kleinsten Begehrens stören. So sagte es die Alte mit den Wolfsbissen am Bein, wer sollte es auch besser wissen als sie?

Sie tranken, was die Alten für sie zubereitet hatte, für jede einen eigenen Trunk, die Alte achtete genau darauf, dass sie nicht verwechselt würden. Auch Selija schlürfte den ihren, die Alte reichte ihr eine rote Flüssigkeit zur Reinigung, so eine würde nicht einmal die Göttermutter erhören, aber was soll’s, Selija wusste, was sie wollte und bekam es auch. Und auch Glesum trank, die anderen hatten sie gegen ihren Willen hergebracht, völlig verängstigt hierher gezerrt; sie stand starr vor Angst da, glaubte vermutlich, man würde sie opfern, aber nein, du Dummerchen, dieses Fest ist nicht von dieser Art, keine Opfer, der Weihrauch, den die Alte aus Bernsteinstaub gemischt und ein wenig weiter weg von den Tänzerinnen unter der Linde mit den meisten Ästen entzündet hat, um die Göttermutter zu betören und ihr Herz zu erweichen, damit keine der einfachen Frauen verletzt würde, ist genug. Die Alte reichte Glesum ihren Trank, damit sie sich beruhigte, sie würde noch lange hier weilen, wie sollte sie alles aushalten, die Ärmste – sie musste zu Kräften kommen, um für all das bereit zu sein, was sie erwartete. Die Alte mit den Wolfsbissen am Bein streichelte Glesums Haar: »Mein Kind, womit hast du das alles verdient, der Sturm wird sich legen, alles wird gut, du wirst leben.« Und wirklich, Glesum kam zur Ruhe, eine starke Friedlichkeit löste den Blick des verängstigten Wolfswelpen ab.

Auch die anderen tranken, bis die alte Frau zum Abschiedstanz lud, zum allerschönsten; eine nahm die andere an der Hand, und so bildeten sie einen riesigen Kreis, beugten sich vor und wieder zurück wie im Fieberwahn, wussten nicht mehr, wer sie waren, in ihrer Weiblichkeit erstarkt, zu einer Einheit, zur unteilbaren FRAU geworden, deren Stärke für Nöte erforderlich war. Als der Gesang verstummt war, eilten alle nach Hause, noch benommen, überglücklich, zurück blieben nur einige der Ältesten und die Alte mit den Wolfsbissen am Bein.

Wer bleiben durfte, wusste es selbst, sie setzten sich unter die alte Linde, der Bernsteinstaub war schon aufgebraucht, und strichen sich Achselhöhlen und Knöchel mit Tollkirschensalbe ein, murmelten halblaut wer weiß was, die Alte mit den Wolfsbissen am Bein führte sie – sie verwandelten sich in Kolkraben oder schwarze Wolken, erhoben sich in die Lüfte und flogen davon, um sich mit den Alten der anderen Stämme zu treffen, landeten auf den Ästen der Linden, schnatterten und erfuhren so den wahren Willen der Göttermutter, die dieses Jahr dies und das versprach, sowohl Besseres als auch Schlechteres. »Das Leben wird nicht so, wie ihr es gerne hättet, aber es wird zum Aushalten sein, wie immer.«

Kleines Bernstein

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