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Eins

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2. August 2004, auf den Tag genau vor vierzig Jahren, da hatte Peter Fabuschewski Cornelia kennengelernt. Ein Tag wie heute.

Schon drei Wochen lang hat es nicht mehr geregnet. Die Pflanzen in der Colchesteranlage sind nur deshalb noch nicht vertrocknet, weil die Leute vom Bauhof der Stadt ständig mit den Bewässerungswagen unterwegs sind. Die Lahn führt Niedrigwasser, und Bootstouristen können ihre Kanus trockenen Fußes das Wehr hinuntertragen.

Wie in jedem Jahr an diesem Tag will er seinen Sohn Alexander, der in Siegen lebt, besuchen. Diese Besuche sind inzwischen zu einer Tradition geworden, seit jenem Jahr, als Cornelia starb. Alexander Fabuschewski war nach der Scheidung bei seiner Mutter geblieben, hatte an der Uni Siegen Germanistik und Geschichte studiert und war, wie sein Vater, Journalist geworden.

Das Volontariat hatte er bei einer großen Dortmunder Zeitung absolviert, hatte danach in verschiedenen Abteilungen Berufserfahrungen gesammelt und war nun freier Mitarbeiter einiger Zeitungen und Zeitschriften geworden. Das hatte ihn, auch hinsichtlich seines Wohnortes, unabhängig gemacht. Trotzdem war er in Siegen geblieben.

Als Peter Fabuschewski seine Wohnung in der Wetzlarer Weißadlergasse verlässt, wundert er sich zunächst über die angenehme Kühle, die ihn empfängt. Beide Straßenseiten liegen im Schatten. Ein leichter Wind ist aufgekommen. Er schaut nach oben, sieht weiße Wolken, einige im Kern schon dunkel. Endlich, so denkt er, wird es regnen.

Er erreicht seinen Parkplatz bei der alten Post, öffnet beide Türen seines Autos, um den Zeitraum zu verkürzen, den die Klimaanlage benötigt, um eine gewisse Abkühlung des Innenraums zu erreichen.

Als er schon auf der Höhe des Wetzlarer Bahnhofs angekommen ist, fragt er sich plötzlich, ob er die Kaffeemaschine ausgeschaltet hat. Das passiert ihm nicht zum ersten Mal, und er weiß sofort, dass er zurückfahren wird.

Diese Marotte, so bezeichnet er sein Verhalten, ärgert ihn. Die Kontrolle war bisher immer negativ verlaufen, so oft er auch zurückgefahren war, die Maschine war immer ausgeschaltet gewesen. So auch heute. Das Zurückfahren und Nachschauen verzögert seine Abfahrt, weil er, bedingt durch einen Feuerwehreinsatz in der Innenstadt von Wetzlar, die Autobahn eine Stunde später als geplant erreicht.

Als er an der Abfahrt Ehringshausen vorbeifährt, beginnt es zu regnen. Er achtet nicht darauf, auch nicht, als der Regen stärker wird. Zwischen der Abfahrt Herborn-Süd und Herborn setzt er an, eine, wie es scheint, längere Lastwagenkolonne zu überholen. Als sein Auto nicht mehr auf die Lenkbewegungen reagiert, denkt er zunächst an Glatteis. Die Absurdität des Gedankens wird ihm erst bewusst, als der Wagen zum ersten Mal gegen die Leitplanke an der linken Fahrbahnseite prallt.

Von nun an bleibt er wie erstarrt sitzen, umklammert das Lenkrad und erlebt alles Weitere wie ein Zuschauer von außen.

Das Auto schleudert herum, schlägt mit dem Heck gegen die Leitplanke, schleudert noch einmal. Dann kommt es zum Stillstand.

Obwohl er nicht mehr fährt, ist er nun in der Situation eines Geisterfahrers.

Anstatt jetzt zu versuchen, den Wagen so dicht wie möglich an die inzwischen rechts von ihm sich befindende Leitplanke zu steuern, versucht er, den ursprünglich rechten Seitenstreifen zu erreichen.

Schon nach etwa einem Meter bleibt sein Auto stehen, der Motor ist ausgegangen. Er schaut in die eigentliche Gegenrichtung, noch immer wie ein unbeteiligter Zuschauer. Er sieht den ihm entgegenkommenden Wagen, reagiert nicht. Der Aufprall erfolgt augenblicklich. Erneut wird er zuerst nach vorne und dann zurück in den Sitz geschleudert. Mit dem Hinterkopf schlägt er gegen die Nackenstütze, erwacht aus einer Art Lethargie. Rechts neben sich sieht er die Leitplanke, die ihm wahrscheinlich das Leben gerettet hat. Die Autos, die jetzt auf ihn zukommen, können ausweichen, ohne die Fahrbahnseite wechseln zu müssen.

Er schaut in den Rückspiegel. Etwa zweihundert Meter in seiner ursprünglichen Fahrtrichtung steht auf dem rechten Standstreifen ein Auto mit eingeschalteter Warnblinkanlage. Das muss der Wagen sein, denkt er, dessen seitlicher Aufprall ihn in die lebensrettende Position gebracht hatte.

Peter Fabuschewski schaltet nun ebenfalls die Warnblinkanlage seines Autos ein. Er registriert ein schnelles Klicken und schließt daraus, dass zumindest eine der beiden Lampen blinkt. Nun öffnet er die Fahrertür, steigt aus und bleibt mitten auf der Fahrbahn stehen. Hinter sich hört er einen Schrei: „Weg von der Fahrbahn.“

Da wird er sich der Gefahr bewusst, in der er sich nun befindet. Er springt vor sein Auto, überklettert die Leitplanke, landet in einem Gebüsch, das zwischen den beiden Leitplanken wächst.

Die Stimme hinter ihm ruft laut, aber ohne zu brüllen: „Stellen Sie ihr Warndreieck auf, aber bleiben Sie bitte nahe der Leitplanke.“

Peter überklettert diese erneut, läuft hinter sein Auto, versucht den Kofferraum zu öffnen. Es gelingt ihm nicht, der Deckel lässt sich nicht bewegen. Er schaut nach vorn, erkennt in der Ferne ein ihm entgegenkommendes Auto. Die Entfernung reicht aus, denkt er und rennt über beide Fahrbahnen bis hin auf den Standstreifen. Erst jetzt sagt er dem Mann, der nun auf ihn zukommt, dass er den Kofferraum seines Wagens nicht öffnen kann. Der Mann bedeutet ihm, sich nicht von der Stelle zu rühren und zu warten. Er rennt zu seinem Fahrzeug und kommt kurz darauf zurück, ein Warndreieck in der Hand. Wieder ordnet er an, dass Peter seinen Standort nicht verlassen soll, läuft circa zweihundert Meter gegen die Fahrtrichtung.

Peter beobachtet, dass der Mann einen günstigen Moment abwartet, die Fahrbahnen überquert und das Warndreieck aufstellt. Kurz darauf ist er zurück. „Wie ich sehe, waren Sie alleine in ihrem Fahrzeug.“ Peter bestätigt das.

Erst jetzt beginnt er, die Situation zu erfassen. Gleichzeitig wird ihm schlecht. Er beugt sich über die Fahrbahnbegrenzung und erbricht sich. Dann setzt er sich auf die Straße und lehnt sich mit dem Rücken an die Planke.

„Haben Sie Schmerzen?“

„Nein, mir ist schwindlig.“

„Bleiben Sie sitzen, ich hole Hilfe.“

Der Mann greift in die Seitentasche seiner Weste, dann wählt er eine Nummer, wartet und macht die notwendigen Angaben. „Es wird gleich jemand hier sein, bleiben Sie am besten bis dahin sitzen.“

Kurz darauf hören sie die Sirene und sehen das Blaulicht. Später wird Peter erfahren, dass, beginnend mit dem ersten Aufprall auf die Leitplanke bis zum Eintreffen des Notarztwagens, knapp fünfzehn Minuten vergangen waren. Noch während beide erste Hilfe erhalten, erscheint der Abschleppdienst mit zwei Fahrzeugen.

Peter und sein Helfer werden zur weiteren ärztlichen Behandlung in das Dillenburger Krankenhaus gebracht. Er erfährt, dass der Mann Gerhard Braun heißt, Handlungsreisender für Klimaanlagen ist und auf der Fahrt nach Hause, nach Dortmund, war. Peter bedankt sich für die Hilfeleistung, als sie auch schon die Klinik erreicht haben.

Später hört Peter von einer Krankenpflegerin, dass Gerhard Braun das Krankenhaus noch am selben Tag verlassen konnte. Er selbst wird stationär aufgenommen und wieder, wie schon vor einigen Jahren, lautet die Diagnose des behandelnden Arztes Kommotio, also Gehirnerschütterung.

Auf die Frage, wer benachrichtigt werden soll, gibt er die Telefonnummer seines Sohnes, Alexander Fabuschewski, an. Der verspricht, so wird Peter übermittelt, so schnell wie möglich zu kommen.

Peter schläft ein, träumt, kann sich später nur erinnern, dass Cornelia in seinem Traum eine Rolle spielte. Plötzlich ist es dann aber Renate, die diese Rolle übernimmt. Als er wach wird, erkennt er Alexander, der neben seinem Bett steht und auf ihn herabschaut. Der bemerkt, dass sein Vater wach geworden ist.

„Hallo Peter, was ist passiert?“

„Schuld war die Kaffeemaschine“, beginnt Peter seinen Bericht. Alexander ist erschrocken und zugleich erleichtert, als er den Bericht seines Vaters hört.

Danach, Peter ist eingeschlafen, überlegt er, ob er heute noch nach Siegen zurückfahren soll, wozu er eigentlich keine Lust verspürt. Wieder einmal, wie so oft in letzter Zeit, denkt er darüber nach, seinen Wohnort zu wechseln. Jetzt hätte er einen konkreten Anlass dazu.

Die Ursachen sind vielfältig: Die Landschaft, das Tal der Sieg, ist nicht sehr breit, Hauberge auf beiden Seiten. Viele dieser Birken- und Buchenwälder werden auch heute noch holzwirtschaftlich genutzt. Deshalb werden die meisten der Bäume nicht älter als etwa achtzehn Jahre. Dementsprechend wirken die Wälder etwas eintönig. Die Seitentäler der Sieg sind noch enger und dunkler und sind bewachsen mit Bäumen derselben Art.

Das Wetter besteht aus vielen Regentagen. Oft ziehen Tiefdruckgebiete von Westen her bis zur sogenannten Wetterscheide, einem Mittelgebirgszug mit seiner höchsten Erhebung von etwa fünfhundert Metern bei Kalteiche, bleiben hängen und regnen ab. Oft, wenn er mit seinem Vater in Wetzlar telefoniert, beschreibt dieser das Wetter in Wetzlar als sonnig und ergänzt ironisch: „Ich weiß, bei dir regnet es.“

Auch heute war es so gewesen, Dauerregen. Als er auf der A45 die Abfahrt Haiger-Burbach hinter sich gelassen hatte, klarte es auf, und die Sonne schaute durch die schon etwas helleren Wolken.

Die Menschen in Siegen waren geprägt durch die abseits der großen Verkehrswege gelegenen Städte und Ortschaften, oft konservativ in ihrer Weltanschauung und meist stolz auf ihre Heimat, das Siegerland.

Als die Gesamthochschule gegründet wurde, soll der Siegener Bürgermeister gesagt haben, dass man nun seine Söhne und Töchter vor dem Sumpf der großen Städte bewahren könne.

Während seines Studiums an dieser Hochschule hörte er oft von Siegener Studenten, wie ihm schien, eigentümliche Aussagen. So zum Beispiel in einem Seminar zum Thema Industrialisierung im Siegerland. Ein Student, bekannt als Linker, referierte zum Thema Marxismus. Als er den marxistischen Klassenbegriff definierte, meldete sich ein Student und protestierte. Klassenunterschiede, so erläuterte er, gebe es wohl im Ruhrgebiet, jedoch nicht im Siegerland. Hier hätten die Industriearbeiter meist eigenes Land besessen und seien demzufolge nicht arm gewesen und konnten somit nicht zur Arbeiterklasse gehört haben. Jetzt meldet sich Alexanders innere Stimme: „Achtung Alexander, alles nur Vorurteile.“ „Ich weiß“, entgegnet er, „trotzdem.“

Jetzt gäbe es einen Anlass zu gehen. Erika hat ihn verlassen. Sein Vater weiß noch nichts davon, der mag Erika. Heute wollte er erzählen. Nun war es anders gekommen.

Als Peter Fabuschewski wach wird, fragt er ihn, welche Dinge aus seiner Wohnung er ihm bringen solle. Sein Vater erklärt, dass er heute nichts mehr benötige. Alexander könne in Wetzlar übernachten und auf dem Rückweg nach Siegen mit den Sachen vorbeikommen. Alexander stimmt zu und verabschiedet sich.

Er fährt nach Wetzlar, vorbei an Peters Unglücksstelle. Auf dem Parkplatz Lahninsel stellt er sein Auto ab und geht zu Fuß in die Weißadlergasse. Bevor er die Wohnung seines Vaters erreicht, biegt er rechts ab, geht in Richtung Domplatz, will noch auf ein Bier ins Bistro. Er kennt die Kneipe, hat dort schon öfter mit seinem Vater gesessen.

In der Schwarzadlergasse, im Schaufenster eines Friseursalons, entdeckt er die Annonce:

Wohnung zu vermieten, hier im Haus. 115 Quadratmeter, drei Zimmer, Küche, Bad, Abstellraum, im dritten Obergeschoss. Miete: 560,– plus Nebenkosten.

Nicht schlecht, denkt Alexander Fabuschewski und nimmt sich vor, am folgenden Tag eine Besichtigung vorzunehmen.

Er findet einen Platz in der Fensterecke. Linker Hand schaut er in die Schwarzadlergasse, durch das Fenster ihm gegenüber sieht er den Dom. Vor ihm auf dem Tisch liegt die heutige Ausgabe der Regionalzeitung.

Gedankenlos greift er danach, würde sich viel lieber mit jemandem unterhalten, aber außer ihm sitzen noch fünf Personen an drei Tischen, die mit sich selbst oder ihrem Tischnachbarn beschäftigt sind.

Pressevielfalt, denkt er, als er dieselben Artikel erkennt, die er auch auf den ersten Seiten der Dillenburger Regionalzeitung gesehen hatte. Er ist sich ziemlich sicher, dass die Siegener Zeitung denselben Inhalt aufweist.

Dann fällt sein Blick auf einen Artikel im Regionalteil.

Drei Begebenheiten an einem Tag, die sein Leben verändern sollten.

Morina

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