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Sechs

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Als er am Morgen seine Wohnung verlässt, sieht es dort noch sehr nach Umzug aus. Das Wetter erleichtert ihm den Abschied. Abschied denkt er, tatsächlich fühlt er sich hier schon zu Hause. Die Menschen sind es auch, denkt er, die ein Zuhause ausmachen. Dabei sind es nicht viele. Sein Vater, mit dem er sich, anders als früher, gut versteht. Sicher haben sie nicht zu allen Fragen des Lebens dieselben Ansichten. Gemeinsam aber sind sie gegen bestimmte gesellschaftspolitische Entwicklungen in diesem Land. Sie sind empört darüber, dass sich Deutschland auf der Weltbühne erneut militärisch gebärdet. Alexander hat seinen Vater dafür bewundert, dass dieser, nach langjähriger Mitgliedschaft in der sozialdemokratischen Partei, dort seinen Austritt erklärte, als die von dieser Partei geführte Regierung die Aggression gegen Jugoslawien mitgetragen hatte.

Er erinnert sich noch genau an den Brief, den Peter seinerzeit an die Partei geschickt hatte:

Betrifft: Beendigung meiner Mitgliedschaft in der SPD

Sehr geehrte Damen und Herren,

lange habe ich überlegt, aber nun steht mein Entschluss fest, die SPD zu verlassen.

Begründung:

Der Beschluss, an dem Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien teilzunehmen, verstößt in meinen Augen gegen Völkerrecht und Grundgesetz.

Die neoliberale Wirtschaftspolitik der jetzigen Bundesregierung widerspricht guten sozialdemokratischen Traditionen und Wahlkampfäußerungen von SPD-Politikern, die eine gerechte Umverteilung versprachen.

Zusammengenommen entspricht die Programmatik der heutigen SPD nicht mehr dem Charakter der Partei, der ich am 11.08.1972 beigetreten bin, als im Parteiprogramm stand:

Nur durch eine neue und bessere Ordnung der Gesellschaft öffnet der Mensch den Weg in seine Freiheit. Diese neue und bessere Ordnung erstrebt der demokratische Sozialismus.”

Ich beende daher mit sofortiger Wirkung meine Mitgliedschaft in der SPD.

Und wie sich Peter geärgert hatte, als er dann Wochen später von der Parteileitung einen Brief bekam, in dem sinngemäß zu lesen war, dass man die Entscheidung, aus der Partei auszutreten, sehr bedauere, zumal keine Austrittsgründe erkennbar seien.

Obwohl Alexander also gegen vieles ist, gegen das auch sein Vater angeht, sind sie sich oft uneinig, wenn es um die Frage geht, wie bestimmte Dinge zu verändern seien. So würde Alexander sofort die Aussage unterschreiben, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg, sondern nur noch Frieden ausgehen darf, obwohl diese Forderung in der DDR erhoben wurde. Es muss wohl am Wetter liegen, dass er, anstatt an einen sonnigen Urlaub zu denken, derartige Gedanken hegt.

Seitdem er Kalteiche hinter sich gelassen hat, regnet es in Wetzlar. Ein unangenehmer Regen, Fisselregen, wie man ihn hier nennt. Passend dazu grauer Himmel und Tagestemperaturen um die zehn Grad. Vorsichtshalber hat er seinen Winterparka angezogen.

Renate wollte auf dem von ihr so genannten „Katholischen Parkplatz“ hinter dem Gebäude der katholischen Domgemeinde, das sich gegenüber des Doms befindet, auf ihn warten. Von dort aus wollen sie gemeinsam zum Flughafen Köln-Bonn fahren.

Er wird bereits erwartet. Renate steigt aus und hilft ihm beim Verladen des Gepäcks in den Kofferraum ihres Autos. Sie beeilen sich, ins Trockene zu gelangen. Erst jetzt begrüßen sie sich.

Alexander schlägt vor, dass er die zweite Hälfte der Strecke fahren kann, zumal er den Weg zum Flughafen, allerdings aus der Richtung Olpe kommend, kennt. Renate ist einverstanden. Sie fährt auf die B49 in Richtung Limburg auf, um, wie sie erklärt, dort die A3 in Richtung Köln zu nehmen.

Renate scheint die Reise mit optimistischen Gedanken angetreten zu sein, denn anders als er trägt sie Sommerliches, flache Turnschuhe, sogenannte Sneaker, einen recht kurzen Rock und ein T-Shirt. Die Regenjacke liegt auf der Rückbank. Typisch Mann, denkt er, von unten nach oben gemustert. Er rechtfertigt seine Blickweise für sich mit der Begründung, dass, vom Beifahrersitz aus gesehen, ihre schönen Beine einen die Blickrichtung leitenden Blickfang bilden.

Renate erzählt von Sardinien. Sie war schon einmal dort gewesen. Von Rom aus kommend, sei sie mit der Autofähre von Civitavecchia nach Cagliari übergesetzt. Sie habe die Insel einmal umrundet. Den Norden Sardiniens hätte sie als besonders schön empfunden und seinerzeit beschlossen, irgendwann wiederzukommen. Aus beruflichen Gründen hatte sie in diesem Jahr in den Sommermonaten keinen Urlaub nehmen können.

Alexander fragt sie nach der Art ihrer beruflichen Tätigkeit. Renate erklärt, dass sie im Staatsdienst stehe, genauer, bei der Polizei beschäftigt sei, fügt aber sofort hinzu, dass es ihr untersagt sei, Näheres zu erläutern. Dann fragt sie Alexander nach den Gründen für seinen Umzug nach Wetzlar.

Er beantwortet die Frage ähnlich, wie er es Peter gegenüber getan hatte. Ausführlich berichtet er über die drei Begebenheiten, die dann den letzten Ausschlag für seine Entscheidung gegeben hätten. Sie lächelt verschmitzt, als sie sich nach Michelle Carladis erkundigt.

Da sei nichts weiter, verteidigt sich Alexander und erzählt vom Umzugstag und Michelles Freund Klaus.

„Verstehe“, und wieder lächelt sie, wie zuvor. Sie fährt damit fort, dass sie von dem Fall gehört habe, einer seltsamen Geschichte, die da während einer Klassenfahrt passiert sei. Sie selbst hätte sich zu ihrer Schulzeit in einen Mitschüler verliebt, der dann aber ihre beste Freundin ihr vorgezogen habe. Sie sei aber auch in ihren Klassenlehrer verliebt gewesen.

Alexander stutzt, als sie sagt, „auch“ und fragt sofort nach.

„Ich habe vergessen, dass du Journalist bist, dieses Wort hat aber zu bedeuten, dass ich zudem in meinen Klassenlehrer verliebt war.“ Alexander gibt sich mit ihrer Erklärung zufrieden.

An einem Rasthof verlässt Renate die Autobahn und hält vor der Raststätte. Sie steigen aus, um dort eine Tasse Kaffee zu trinken. Danach fahren sie weiter, jetzt lenkt Alexander, wie verabredet, das Auto.

Knapp vier Stunden später hält Renate den Leihwagen vor dem Gittertor der Ferienanlage Centro Vacanca Isuledda, bittet Alexander um seinen Reisepass und begibt sich zum Informationsbüro. Den Winterparka hatte er schon am Flughafen Costa Smeralda von Olbia in seinen Rucksack verpackt. Wolkenloser Himmel über Sardinien, fünfundzwanzig Grad im Schatten.

Renate kommt zurück, klebt einen Aufkleber in die Ecke der Frontscheibe und setzt sich wieder hinter das Steuer. Das Gittertor öffnet sich, ein Angestellter der Ferienanlage steigt in ein Elektromobil und geleitet sie zum Bungalow Nummer 74.

Über einen schmalen Weg durch Macchiagestrüpp erreichen sie eine auf einer Anhöhe gelegene Terrasse, die zu dem Bungalow gehört. Der Angestellte schließt die Tür des runden Gebäudes auf und weist sie kurz in die Kücheneinrichtung, die Heizung und die Klimaanlage ein. Gewichtig weist er darauf hin, dass es nachts manchmal schon recht kühl sein könne. Er übergibt Alexander den Schlüssel und verabschiedet sich mit einem freundlichen „Arrivederci“.

Alexander geht auf die Terrasse und genießt die herrliche Aussicht auf das Meer. Renate kommt ebenfalls heraus. Spontan geht Alexander auf sie zu, umarmt sie und bedankt sich für die Einladung. Renate erwidert die Umarmung und wünscht ihnen beiden einen schönen Urlaub. Gemeinsam gehen sie wieder hinein, um die Räumlichkeiten näher zu inspizieren.

Wie es Renate schon in Dillenburg beschrieben hatte, führt die Terrassentür direkt in einen großen Wohn- Schlaf- und Küchenraum, in dessen Zentrum sich ein großes Doppelbett befindet. Zwischen dem Bett und der Küchenecke, die durch eine Essbar vom Wohnraum abgetrennt ist, steht eine gemütlich aussehende Sessel-Tischgruppe. Durch eine Tür neben der Küchenecke gelangt man in das Bad mit Toilette, Bidet und Dusche. Eine weitere Tür in der gegenüberliegenden Wand des großen Raumes führt in das zweite Schlafzimmer, in dem sich ein Etagenbett mit Nachttisch und ein Kleiderschrank befinden.

Alexander nimmt seinen Koffer, geht in das Kinderzimmer und räumt seine Sachen in den Kleiderschrank ein.

„Hast du etwas dagegen, wenn ich die Klimaanlage einschalte?“, fragt ihn Renate aus dem Wohnzimmer heraus.

„Nein, im Gegenteil“, Alexander geht ins Wohnzimmer, wie er den großen Raum inzwischen nennt, setzt sich in einen der Sessel und schaut Renate zu, wie sie die kleine Küche in Augenschein nimmt.

„Heute Abend können wir essen gehen, es gibt ein Restaurant unten in der Nähe des kleinen Hafens. Danach können wir einen Plan machen, wie wir die Mahlzeiten und das Einkaufen organisieren. Ich schlage vor, wir legen eine gemeinsame Einkaufs- und Restaurantkasse an, einhundert Euro pro Person werden fürs Erste genügen.“

Alexander ist einverstanden, froh darüber, dass Renate diese Fragen anspricht. Sogleich holt er zwei Fünfzigeuroscheine und legt sie in eine Obstschale, die auf dem kleinen Tisch steht.

„Ich würde gerne noch etwas an Planungsarbeit leisten, ich meine die Grobgliederung für den Roman.“

„In Ordnung, es reicht, wenn wir gegen acht Uhr losgehen. Ich will noch duschen und ein wenig relaxen, lass dich durch mich nicht stören“, sagt sie und beginnt, sich auszuziehen.

Alexander steht auf, geht in sein Zimmer und danach, mit Schreibzeug ausgerüstet, auf die Terrasse. Auch dort steht ein Tisch und vier Stühle. Er setzt sich so, dass er aufs Meer hinaus schauen kann. Bevor er anfängt zu arbeiten, blickt er zurück ins Wohnzimmer und sieht gerade noch, wie Renate im Bad verschwindet, nackt. Schauen verpflichtet zu nichts, denkt er und beginnt mit der Arbeit an einer möglichen Gliederung.

Später ruft Renate: „Ich bin fertig, du kannst ins Bad.“ Renate kommt heraus. Sie hat ein kurzes, leicht gemustertes Sommerkleid angezogen. Alexander gefällt es. Er geht in sein Zimmer, zieht sich aus und geht ins Bad.

Als er danach auf die Terrasse tritt, sieht er die südlich gelegene Bergkette auf der anderen Seite der Bucht in rotes Licht getaucht. Auch Renate hat sich so gesetzt, dass sie dieses Naturschauspiel beobachten kann. Sie dreht sich zu ihm hin. „Schön, nicht wahr?“

Alexander nickt zustimmend.

„Dann lass uns gehen.“

Über den schmalen Weg durch die Macchia gelangen sie auf einen breiten, bereits beleuchteten Weg. Diesem folgen sie entlang der Küste. Nach circa dreihundert Metern erreichen sie den Restaurantkomplex. Auf einer Terrasse finden sie einen freien Tisch unter Pinien. Beide entschließen sich für Pizza. „Typisch Touristen“, sagt Renate.

Nach dem Essen, sie trinken Rotwein aus Dorgali, schaut ihn Renate länger an, als wolle sie etwas Wichtiges sagen.

„Nur zu, Renate, was gibt es, das dich so nachdenklich schauen lässt?“

Sie zögert zunächst. „Ich glaube, wir müssen da etwas regeln.“

„Ja?“

„Es ist mir vorhin bewusst geworden, als ich ins Bad ging. Wir leben hier auf ziemlich engem Raum zusammen, und da bleibt es nicht aus, dass wir uns wenig bekleidet oder gar unbekleidet sehen, weißt du, was ich meine?“

„Renate, du bist die Freundin meines Vaters, ich gebe zu, dass ich dich gesehen habe, denke aber, dass ich Grenzen setzen kann.“

„Gut, Alexander, warum sollen wir uns einengen oder demonstrativ wegschauen, auch ich kann Grenzen setzen.“

Na ja, denken beide.

Morina

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