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Falsche Erbschaften Das Aggregat der Freiheit ist eine Erbschaft.

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Man versteht die Geschichte der Aggregation der Freiheit nicht richtig, wenn man nicht an Erbschaften und Erbfolgen sowie an den Erben als einzelnen Menschen denkt.

Vordergründig spielt der Film über das Erben in der Oberschicht, jedenfalls wenn man dabei an materielles Erbe und materielle Güter denkt. Der Besitz des Verstorbenen wird wertmäßig an lebende Personen übertragen und weitergeführt. Die Errungenschaften ganzer Vermögensepochen werden als eine nachhaltige Werteübertragung vererbt. Mit der vom Erblasser hinterlassenen Situation und ihren Folgen muss sich die nachfolgende Generation, gewissermaßen die Wertenachfolger, befassen. Erbschaft ist Hinterlassenschaft. Nachlass ist Vermächtnis. Das Erbe ist ein Kulturerbe, bis in die allerkleinsten Erbschaften hinein. Das Welterbe gehört nicht der UNESCO, sondern den Menschen unmittelbar. Das Weltdokumentenerbe wird hoffentlich schon in naher Zukunft allen gehören.

Zum großen Erstaunen werden Erbschaften zuweilen auch ausgeschlagen. Ein Erbe muss nicht angetreten werden. Es ist selbstverständlich, dass Arme weniger geneigt sind, ein mögliches Erbe nicht anzutreten, weil sie meistens Minus statt Plus ererben oder die Sorgen und Nöte, statt den Reichtum, den Fortschritt und den Ruhm. Aber auch wenn man Fortschritt, Geld und Ruhm vererbt, ist das häufig ein falsches und vergiftetes Erbe. Es wirkt zunächst wie ein Plus, obwohl es ein Minus ist.

Das Erbe der Antike hingegen erscheint uns als allgegenwärtig gut, so sagt man. Was ist das eigentlich für ein Erbe, diese Antike? Sind es die vielen Säulen und Statuen, die Kunst der Rhetorik, die Stadtkultur, die Abwasserkanalisation, die Demokratie oder gar die Philosophie? Von allem ein Teil, würde ich sagen, wenn man den gemeinsamen Sinn der Lebensbereiche sucht und die Teile zusammenfügen will. Was bringt uns das Erbe der Antike ein? Man scheint dieses Erbe geradezu zu beschwören. Es scheint mir nicht weniger und nicht mehr sein, als die Suche nach dem Sinn der Kultur in der Vergangenheit. Es ist besser kulturell und universell die Antike zu erben, als die Traditionen der Steinzeitmenschen fortzuführen.

Das Aggregat der Erbschaftsfreiheit hat viel mit kleinen unmittelbaren Erbschaften zu tun. Der vererbte kleine Teil ist praktisch selbsterklärend. Er ist keine Erbschleicherei. Es geht mir aber mehr noch um die Vererbung als ein Regelbetrieb.

Das frühzeitige Ableben betuchter Personen passt gut in das Schema einer Krimi-Klamauk-Serie, wenn man an „Erben bringt Sterben“, einen Edgar Wallace-Krimi denkt. In der Realität bringen Erbschaften vermeintlich etwas Positives hervor, vererbtes Geld oder Machtzuwachs, aber eben auch den Tod.

Nach deutschem Erbrecht erben grundsätzlich nur Verwandte, also Personen, die familiäre Gemeinsamkeiten besitzen: Eltern, Eheleute, Großeltern, Urgroßeltern, Vor- und Nachfahren. Es sei denn, der Erblasser hat etwas anderes verfügt. Das Erbrecht ist im Wesentlichen ein Verwandtschaftssystem bzw. ein Familiensystem. So ist auch das Wirtschafts- und Steuersystem mit inbegriffen, weil die Familien darin leben. Der Fiskus partizipiert im Allgemeininteresse durch Erbschaftssteuer an jedem einzelnen Überlassungsakt.

Durch die Vererbung eines Familienbetriebs wird nicht nur der Betrieb vererbt, sondern auch die Struktur und Zweckhaftigkeit sowie die Art und Weise, wie der entstanden ist und wie man in ihm arbeitet. Das Volksvermögen ist sozusagen die Summe der vererbten Privatvermögen und der konkret-historischen Betriebsamkeit. Das Haus, welches mein Urgroßvater erbauen ließ, werde ich möglicherweise ganz direkt weiter nutzen. Wenn ich Anteile am Vermögen oder Aktien erbe, umso besser. Dann bin ich freier. Jedenfalls wird der Erblasser mir meinen Pflichtteil überlassen müssen.

Das politische Erbe ist ein interessantestes Erbe. Es ist ein kulturell geformtes Erbe. Mit dem politischen Erbe, ererbe ich Gesetze, Vorschriften, Verfahren, die Verwaltung, das Denken, die Freiheit, Kultur, Geschichte, Demokratie oder Diktatur und Sklaverei.

Wie gut, dass ich ein spätgeborener Deutscher bin, sage ich mir, wegen der Nazivergangenheit. Wie gut, dass das Knowhow der Krupp-Familie oder der Siemens-Familie gerettet wurde, werden auch viele Deutsche sagen. Die Deutschen im Osten hatten eben Pech mit ihrem Antifaschismus. Die Vererbung des politischen Aggregats ist wirtschaftlich und gesellschaftlich zweifellos hochkomplex. Es ist eine Jahrhundertaufgabe.

Zu dem, was ich wirtschaftlich erbe, bekomme ich stets noch etwas anderes, nämlich etwas politisches hinzu. Die Vererbung des Politischen und des wirtschaftlich-politischen Schuldmobils ist ein hochphilosophischer Akt. Einige Länder der Erde ersparen sich die Aufführung dieser Erbschaft als ein ehrliches Theaterstück: die Japaner nach dem Zweiten Weltkrieg, die Holländer und Spanier nach der Kolonialzeit, die Israelis im Umgang mit den Palästinensern, die US-Amerikaner nach den Kriegen oder die Engländer durch ihre ganze Geschichte hindurch. Na, wenigstens wir Deutsche haben uns nach der größten Katastrophe der jüngeren Weltgeschichte, nach Hitlers Diktatur, große Mühe bei der Aufarbeitung unseres Erbes gegeben. Das Erbe von Katastrophen, Kriegsschuld und Menschenverachtung ist immer ein sehr fragwürdiges Erbe. Nichts hast du davon persönlich, schon eine Generation später, vermeintlich zu verantworten. Gleichwohl musst du gesellschaftliche und gemeinschaftliche Trauerarbeit leisten. Wenn du keinerlei Reparaturarbeit leistest, kannst du allerdings ebenso schuldig wie deine Vorfahren werden. Du hast stets einen kulturellen Pflichtteil, der Erinnerung heißt, den du ererbst und für die du auch Gemeindesteuern zahlen solltest.

Ein Erbe kann in vielerlei Hinsicht ein falsches Erbe sein, wenn ich zum Beispiel den Pflichtteil sinnlos verprasse, wenn ich des Erbens nicht würdig bin oder durch die Erbschaft in einen Pfad eingebunden werde, auf dem Ungerechtigkeit und Unglück fortgeschrieben werden, einen Pfad, den lieber verlassen würde, wenn ich denn könnte.

So wird schließlich alles in der Weltgeschichte vererbt: die Vergangenheit, die Gegenwart und sogar die Zukunft, die als Vergangenheit fortgeschrieben wird. Das Volksvermögen wird vererbt, auch wenn ich nur in die Fußstapfen des eigenen Vaters trete, sein Handwerk erlerne, den väterlichen Betrieb übernehme und Kuckucksuhren fabriziere. Wenn mein Vater ein Mediziner war und ich mich an der medizinischen Fakultät einer Universität einschreibe, führe ich etwas ganz Besonderes fort, was ich schon kenne und schätze. Ich werde dann möglicherweise der Nachfolger in einer Familiendynastie. Auch Arbeitslosigkeit und Unvermögen werden vererbt, wenn ich mich, wie der Vater, jeden Abend betrinke und dem Alkohol verfalle. Man muss leider allgemein feststellen, dass viele Menschen häufig das Falsche erben: mangelnde Bildung und Selbstbewusstsein oder sogar falsche Kreativität. Man müsste eigentlich viel häufiger die Erbschaft gegen den Erblasser und seine Traditionen ausschlagen.

Die Antike wird, wie schon gesagt, in Gänze vererbt. Das ist weitgehend ungefährlich. Nicht einmal von einem Kunstwerk, das ich auf dem Markt erwerbe, kann ich mir sicher sein, dass es nicht von Amerikanern in Bagdad aus dem Museum geraubt wurde. Wenn ich es wüsste, würde ich ein großes Problem kaufen. Das Erbschaftsaggregat ist eine Frage nach dem Kauf krimineller Erbschaftsgüter. Diese könnten mit übermenschlichen Problemen verbunden sein. So viel Moral, Provenienz-Forschung und Akzeptanzuntersuchungen wie wünschenswert wären, können niemals in Auftrag gegeben werden.

Provenienz-Forschung ist die wissenschaftliche Erforschung der Herkunft und der wechselnden Besitzverhältnisse eines Kunstwerks. Die Klärung von Besitzfragen bei den Kulturgütern, die in Museen, Bibliotheken, Archiven stehen oder im Kunst- und Antiquitätenhandel verhökert werden, ist eine große Herausforderung. Geschichte, Daten und Biografien müssten ausgewertet und dann möglicherweise rechtliche Schritte eingeleitet werden. Wenn man Glück hat, befinden sich am Gemälde einige rückseitige Beschriftungen oder Künstler- und Eigentümerkürzel. Handschriftliche Vermerke, Marginalien, Widmungen, Initialen, Stempel oder Exlibris bei Büchern und Archivalien können ausgewertet werden. Akten und Verkaufsunterlagen des Kunsthandels, Auktions- und Ausstellungskataloge, Archivalien und Briefe mit Hinweise auf frühere Besitzer müssen untersucht werden, um dem Ursprungsrecht Geltung zu verschaffen. Ein Jahrtausendwerk! Durch die Erforschung früherer Obhutsverhältnisse erlange ich eine Bestätigung für das, was ich Original nennen kann.

In Kriegszeiten finden die allermeisten Besitzwechsel statt. Das Original gilt nur noch wenig im Krieg. In Kriegen sterben die Erbschaftsregeln, und erst sukzessive entsteht die neue Konstruktion der Gelehrtenbibliothek, entstehen die neuen Museen oder die rechtschaffenen Autobiografien. Immer geht es dabei um die Feststellung von Eigentum und Besitz. Das Aggregat der Freiheit ist also ein komplizierter Vererbungsmechanismus von Eigentümern und Besitzansprüchen.

Nur einen Endpunkt können wir vielleicht voraussehen. Er lautet: Noch ewig wird man darüber streiten, ob Jesus und Mohammed nun menschlich oder göttlich gewesen sind.

Die Aggregate der Freiheit und Der Traum vom Ich und Ich

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