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Der Tod des Herrn Belzer

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»Ja, Frau Emmerich, ich habe verstanden.« Unaufgeregt tönte die Stimme des Polizeibeamten aus der Hörmuschel. »Sie sind die Nachbarin und rufen aus der Wohnung von Herrn Belzer an, der mit dem gestohlenen Geld flüchten wollte und der jetzt krank ist … Ja, gewiss doch. Wir schicken umgehend jemand vorbei der sich der Sache annimmt.«

Aufgewühlt legte die kleinwüchsige rundliche Nachbarin den Hörer wieder auf. Hoffentlich kommt der Arzt bald, schoss es ihr fieberhaft durch den Kopf. Dann sah sie flüchtig ins Schlafzimmer, wo Herr Belzer lag. Aufgeregt begab sie sich zum Küchenfenster. Sie sah auf die spielenden Kinder vor der Haustür. Da bemerkte sie einen schick gekleideten Mittvierziger, der sich dem Eingang des Mietshauses näherte. Einem ruckartigen Reflex gehorchend drehte dieser sich auf einmal zur Seite. Schlagartig riss er schützend die Arme vor das Gesicht. Gleich darauf hielt er einen Fußball in den Händen. Abrupt brachen die Kinder ihr Spiel ab. Abwartend sahen sie zu dem Besucher hinüber.

»Hallo! Huhu! Hier oben! – Sind Sie der Doktor?«, rief Frau Emmerich fragend herunter. Noch bevor eine Antwort erfolgte, fuhr sie schluchzend fort. »Bitte, kommen Sie schnell …« Gleich darauf sah sie den Arzt im Treppenhaus verschwinden.

Eilig trippelte sie zur Wohnungstür, um dem Doktor dort zu erwarten. Nach einer flüchtigen Begrüßung führte sie ihn in das Zimmer, in dem Herr Belzer lag. Mit zitternden Gliedern beobachtete sie jede Bewegung des Mediziners.

Nahezu automatisch griff Doktor Jeremias die schlaff herunterhängende Hand, um den Puls zu tasten. Gleichzeitig presste er sein Ohr auf den Oberkörper. – Sekunden des Schweigens. Behutsam hob er ein Lid der verschlossenen Augen an. Eine extrem geweitete Pupille starrte geradlinig zur Decke. »Tut mir leid«, sprach er zu Frau Emmerich, »hier kommt jede Hilfe zu spät!«

Doktor Jeremias hatte den Totenschein ausgefüllt. Er hob die schwarze Arzttasche auf, die neben dem Bett stand. Dann öffnete sich die nur angelehnte Wohnungstür. Ein älterer und ein jüngerer Mann traten freundlich grüßend ein.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?«, fragte der Arzt barsch.

»Kriminalpolizei! Hartmann vom Raubdezernat …«

Doktor Jeremias fiel dem Kommissar schroff ins Wort. »Hier wurde nichts gestohlen. Hier ist jemand gestorben.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Wer hat Sie überhaupt herbestellt?«

»Äh … ich«, stammelte die Nachbarin zögernd.

»Also dann haben Sie angerufen?!«, stellte Kommissar Hartmann fest. »Mein Kollege berichtete uns, dass eine Frau etwas von geraubtem Geld erzählte, mit dem Herr Belzer flüchten wollte …«

»Was soll der Blödsinn?!«, unterbrach der Arzt wieder. »Herr Belzer ist seit langem mein Patient und leidet an einem zu schwachen Herzen. Wie kommen Sie darauf ihn als Dieb zu bezeichnen?«, wandte er sich an die Nachbarin. »Schon die geringste Aufregung konnte für ihn tödlich sein!«

Nun fing die rundliche Frau fürchterlich an zu Schluchzen. »Ich dachte doch nur wegen des vielen Geldes, das er bei sich hatte. Er besaß doch sonst kaum etwas. Als er mich heute Nachmittag zu sich herüberbat, habe ich es gesehen. Es befand sich in dem neuen Koffer, den er extra für seine Reise gekauft hatte.«

»Reise? Wohin?«, hakte der Kommissar nach. Dabei sahen die Augen wissbegierig zur Nachbarin hinüber.

»Er wollte für einige Zeit ins Ausland verschwinden«, heulte die Frau weiterhin. »In dem Koffer befand sich noch eine Tasche oder ein kleinerer Koffer. Daraus nahm er zwei Bündel mit Geldnoten und gab sie mir.«

»Wofür?«

»Ich sollte seine Wohnung in der Zwischenzeit in Ordnung halten.« Ein weiterer Heulschauer überkam sie. »Und als er mir das Geld gab, fiel mein Blick zufällig in den Koffer. Die andere Tasche da drin war randvoll mit Geldbündeln gefüllt.«

»Hat Herr Belzer bemerkt, dass Sie das Geld gesehen haben?«

»Nein, ich glaube nicht.«

Doktor Jeremias räusperte sich. »Mir scheint, ich kann hier etwas Licht ins Dunkel bringen. Seit dem Tod von Frau Belzer kam ihr Mann immer häufiger in meine Praxis. Er hatte scheinbar niemanden, mit dem er über seine privaten Sorgen sprechen konnte. So erfuhr ich auch, dass er eine ansehnliche Summe erspart hatte. Erst vorgestern, Dienstagvormittag, war Herr Belzer in meiner Praxis und erzählte mir, dass er jetzt das Geld abholen wolle, um sich im Ausland ein Häuschen zu kaufen.«

»Das wusste ich doch nicht«, schluchzte Frau Emmerich. »Mein Gott, und ich habe gedacht, er … weil …, sie haben doch immer so zurückhaltend gelebt …«

»Na ja«, sprach Doktor Jeremias, »damit wäre für Sie wohl die Sache erledigt, Herr Kommissar.«

»Noch nicht ganz. Suche doch mal das Geld«, wandte sich der Kriminalbeamte an seinen Assistenten. »Und lass vom Büro die Sache mit der Bank überprüfen. Und Sie, Frau Emmerich, können Sie mir sagen, ob Herr Belzer irgendwelche Verwandte hat, die man verständigen muss?«

»Ja, einen Neffen. Ich werde ihn nachher gleich anrufen.«

»Noch eine Frage, Doktor Jeremias«, sprach der Kommissar beiläufig. »Das Tablettenröhrchen auf dem Nachttisch …«

»Habe ich Herrn Belzer am Dienstag mitgegeben«, vollendete der Arzt den Satz. »Völlig harmlos die Dinger.«

»Dann scheint ja tatsächlich nur ein Missverständnis vorzuliegen.«

Kommissar Hartmanns Assistent suchte weiterhin nach dem Geld. Frau Emmerich hatte sich zwischenzeitlich ein wenig beruhigt. Sie berichtete abermals über alle Einzelheiten des Nachmittags. Den Kommissar verblüffte sie hierbei mit ihrer genauen Beobachtungsgabe. Scheinbar unwichtige Nebensächlichkeiten gab sie ebenfalls korrekt wieder.

Es dauerte eine gewisse Zeit, bis das jähe Läuten des Telefons das Gespräch unterbrach. Der Kommissar erhielt die Bestätigung, dass Herr Belzer heute Nachmittag sein Konto auflöste.

»Eigentlich seltsam«, grübelte Kommissar Hartmann halblaut vor sich hin. »Das Geld hätte er doch auch überweisen können.«

»Mich brauchen Sie jetzt sicherlich nicht mehr.« Doktor Jeremias ergriff die schwarze Arzttasche. Wohlwollend lächelnd begab er sich zur Wohnungstür.

Im selben Augenblick betrat der Assistent wieder das Zimmer. »Tut mir leid, Chef, dass Geld ist nicht aufzufinden …«

Grübelnd ließ Kommissar Hartmann in seinen Gedanken die Aussage von Frau Emmerich noch einmal Punkt für Punkt Revue passieren. Mit einem Mal schien er die Lösung gefunden zu haben. Den weiterhin abwartend dastehenden Arzt fragte er: »Ist das Ihre Tasche, Doktor Jeremias?«

»Wenn sie zwischenzeitlich niemand ausgetauscht hat«, entgegnete dieser spöttisch.

»Komisch, Sie sind ohne Tasche gekommen und gehen jetzt mit Tasche.«

Der Arzt antwortete entrüstet. »Warum sollte ich ohne Tasche gekommen sein?!«

»Weil es aufgefallen wäre, wenn Sie das Haus mit zwei Taschen wieder verlassen hätten. Sie kamen aber bewusst ohne Arzttasche, um sich hier die Geldtasche anzueignen.« Der Kommissar begab sich in Richtung eines Regals. In diesem lag ein benutzter, mit vielen Unterschriften versehener Fußball. »Deshalb wurden Sie von Frau Emmerich auch nicht gleich als Arzt erkannt. Eben –, wegen der fehlenden Arzttasche!«

Doktor Jeremias stand weiterhin unbewegt im Türrahmen. »Die Frau hat die Tasche ganz einfach übersehen.«

Unverhofft für alle griff der Kommissar auf einmal den Fußball aus dem Regal. Kurz entschlossen warf er ihn dem Arzt entgegen. Dieser drehte zwar den Kopf zur Seite, konnte jedoch nicht verhindern, dass ihn der Ball streifte.

»Sind Sie wahnsinnig, Mann!«, fluchte er.

»Warum haben Sie ihn nicht gefangen?«

»Wie denn, verdammt noch mal?! Sie sehen doch, dass ich die Tasche trage. Mit einer Hand kann ich ihn schließlich nicht fangen.«

»Eben. Deshalb konnten Sie auch den Ball auffangen, den Ihnen die Kinder zuwarfen, als Sie das Haus betraten. Da hatten Sie nämlich beide Hände frei.«

Eisiges Schweigen herrschte im Raum.

Zögernd fing Doktor Jeremias zu sprechen an. »Es war die einzige Möglichkeit meine hohen Spielschulden abzutragen. Als Herr Belzer mir wieder mal vorjammerte, dass er nicht wisse was er mit dem vielen Geld machen solle, habe ich ihm von einem Schweizer Professor erzählt. Der könnte die Krankheit angeblich heilen. Vorausgesetzt, er würde seine Ersparnisse dafür opfern. Morgen früh, habe ich ihm vorgelogen, wollten wir fliegen …«

»Und um an das Geld heranzukommen«, sprach der Kommissar, »haben Sie die fünfte Tablette im Röhrchen vergiftet. Spätestens Donnerstagabend musste er das Geld haben. Davon sind Sie ausgegangen. Und spätestens dann musste er sterben.«

»Woher wissen Sie das mit der Tablette?«

»Wie hätten Sie ihn sonst unauffällig umbringen sollen? Je eine Tablette vor dem Frühstück und eine nachmittags. So steht es in der Beschreibung. Die fünfte Tablette war heute Nachmittag fällig. Um ganz sicher zu gehen, vermute ich, haben Sie Herrn Belzer angehalten sich für das Geld eine arztähnliche Tasche zu besorgen. Und die vorgetäuschte Idee mit dem Hauskauf stammt von Ihnen. Sollte die Polizei jemals nach dem verschwundenen Geld suchen, hätte sie mit Frau Emmerich und dem Neffen auch zwei Tatverdächtige. Ist es so?«

Doktor Jeremias nickte. Er übergab dem Kriminalbeamten die Tasche mit dem Geld. Gleich darauf klickte es zweimal metallisch.

An seinen Assistenten gewandt sprach Kommissar Hartmann: »Noch so ein Fall und ich lass mich zum Morddezernat versetzen.«

Grüße von Charon

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