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No Direction Home erschien erstmals im September 1986, zum 25. »Geburtstag« von Robert Sheltons berühmtem Artikel in der New York Times über »ein leuchtendes neues Gesicht in der Folk Music«[1]. Diese Neuausgabe trifft mit dem 50. Geburtstag des Artikels und dem 70. seines Gegenstands – Dylan – zusammen.

Sheltons Artikel, 400 Wörter mit der über vier Spalten reichenden Überschrift »Bob Dylan: Ein eigenwilliger Stilist«, beschrieb einen jungen Mann, der »vor Talent aus allen Nähten platzt« und dessen Vergangenheit weniger zählte als seine Zukunft. Diese Voraussicht war bemerkenswert, denn Dylans Talent war wirklich noch »roh«, und drei Plattenfirmen hatten sein Potenzial nicht erkannt. Die vierte, Columbia, bot ihm am Tag nach dem Erscheinen des Artikels einen Vertrag an, noch ehe man dort eine einzige Note von ihm gehört hatte.

Wie Suze Rotolo Jahre später feststellte: »Robert Sheltons Kritik hat ohne Zweifel Dylans Karriere ›gemacht‹ … Dieser Artikel war einzigartig. Ähnliches hatte Shelton bis dahin über niemanden geschrieben.«[2] In ihren Erinnerungen, A Freewheelin' Time, beschreibt Rotolo, wie sie und Dylan am Kiosk auf dem Sheridan Square sehr früh ein Exemplar der Times kauften und sich damit auf die andere Straßenseite in ein die ganze Nacht geöffnetes Deli begaben. »Dann sind wir zurückgegangen und haben noch mehr Exemplare gekauft.«[3]

Shelton hat jedoch nie behauptet, Dylan »entdeckt« zu haben (»er hat sich selbst entdeckt«), und als sein opus magnum erschien, begriffen viele seiner britischen Freunde und Kollegen zum ersten Mal, dass der stille Amerikaner aus ihrem Kreis erheblich mehr war als ein bloßer Provinz-Kritiker (zu dieser Zeit war Shelton, kaum zu glauben, Feuilletonredakteur des Brighton Evening Argus, einer Tageszeitung an der englischen Südküste). Ähnlich verblüfft waren neue Freunde aus der Guild of Regional Film Writers (die er mitbegründet hatte), als er nach einer weiteren Periode intensiver Tätigkeit als freier Journalist - diesmal als Filmkritiker der Birmingham Post - am 11. Dezember 1995 starb. Wie Michael Gray in seinem Nachruf im Guardian schrieb, verfügte Shelton »in seiner letzten Lebensphase über die gleichen seltenen Eigenschaften wie zu seiner Zeit in New York: Er war umgänglich, liebenswürdig, ein guter Zuhörer, überaus zurückhaltend hinsichtlich seiner bemerkenswerten Vergangenheit und voll und ganz den humanen Künsten ergeben.«[4]

Umgänglich, liebenswürdig, ein guter Zuhörer. Letzteres ist das sine qua non jedes seriösen Musikkritikers, aber die beiden erstgenannten Eigenschaften waren ebenso wichtig bei Sheltons Suche nach aufblühenden Talenten in den Clubs und Coffeehouses der 1960er-Jahre in Greenwich Village, New Yorks ewiger Boheme, und bei dem Versuch, Amerika insgesamt auf sie aufmerksam zu machen. Judy Collins erinnert sich an ihn als Freund und zugleich Kritiker »mit der Intelligenz, dem Scharfblick und der Fähigkeit, die Tatsache zu erfassen, dass in der Welt von Musik und gesellschaftlichem Bewusstsein etwas Seltenes und Wunderbares geschah«, und der darüber mit »frischer und einzigartiger Klarheit«[5] schrieb. Für Janis Ian, die schon vor langer Zeit die Rolle würdigte, die Shelton zu Beginn ihrer Karriere spielte, als er den Dirigenten und Komponisten Leonard Bernstein auf sie aufmerksam machte, war »Bob Shelton stilistisch, ethisch und moralisch ein Vorbild des Musikjournalismus. Indem er überaus gut hinhörte, sah er Trends voraus, und für viele von uns hat er sich weit aus dem Fenster gelehnt.«[6]

Robert Shelton Shapiro wurde am 28. Juni 1926 in Chicago als Sohn eines Chemikers und einer Hausfrau geboren. Nach Abschluss der High School im Juni 1943 ließ er mit Einwilligung seiner Eltern den Familiennamen fort, da alle drei der Meinung waren, es sei »kein Vorteil, sofort als Angehöriger irgendeiner Minderheit identifizierbar zu sein«. Bald fand er sich in der Armee wieder, und kurz nach der Landung in der Normandie wurde er nach Frankreich geschickt. So begann eine lebenslange Passion für die französische Kultur im Besonderen und für Europa allgemein. Als der Krieg vorüber war, kehrte er nach Chicago zurück und besuchte an der Northwestern University die School of Journalism, die er als Bachelor of Science verließ.

Ab Februar 1951 arbeitete er bei der New York Times als Laufbursche, dann als Korrekturleser und redigierte nebenher Nachrichten. In seiner Belegmappe finden sich kurze Meldungen über Stimmrecht, Lokalpolitik, Bildung und die Beendigung der Rassendiskriminierung am National Theatre in Washington. Bald schrieb er Beiträge für eine Reihe von Magazinen: für Colliers einen Artikel über ein von der Universität geleitetes landwirtschaftliches Experiment in New Jersey, für Modern Hi-Fi etwas darüber, wie wir hören, und 1959 einen langen Artikel in The Nation über das sommerliche Folk-Festival in Newport.

Der erste Namensartikel mit Angaben zum Verfasser scheint ein Beitrag in der New York Times vom 18. März 1956 gewesen zu sein, ein Stück über Hi-Fi-Jargon, Sheltons erster von mehreren Artikeln über Schallplatten und Musikaufnahmen überhaupt. Ab Januar 1958 folgten regelmäßig Artikel über so unterschiedliche Themen wie Folksongs in Südstaaten-Gefängnissen; irische, jüdische und afrikanische Musik; Bluegrass und Flamenco; eine Tournee des sowjetischen Moissejew-Ensembles; John Lomax; Oscar Brand (»Ein staatsbürgerlicher Troubadour«); Tradition contra Kunst in der Folk Music; »Folk Music in der ›Hitparade‹«. Am 17. November 1960 notierte Shelton: »Die Folk Music hinterlässt auf noch nie dagewesene Art die Abdrücke ihrer großen Country-Stiefel im New Yorker Nachtleben, von der schmierigsten Espresso-Kneipe in Greenwich Village bis zum Waldorf Astoria und seinen elegant abgespreizten kleinen Fingern.« Es kann also nicht überraschen, dass er ab 1960 mehr und mehr Besprechungen von Musiker-Auftritten verfasste: über Theodore Bikel und Odetta in der Town Hall, Lightin' Hopkins im Village Gate, Joan Baez im Y und im April 1961 über John Lee Hooker bei Gerde's. Bekanntlich schrieb Shelton bei dieser Gelegenheit nicht über den Musiker des Vorprogramms, aber Bob Dylan fand Gehör bei ihm anlässlich eines Montagabend-Hootenanny im Juni, und im Juli führte sein erster Konzertauftritt in New York bei einem Folk-Marathon in der Riverside Church zu einer Erwähnung in der Times.

Neben Kritiken schrieb Shelton auch über die Verbindungen zwischen der Musik und dem Alltagsleben - ein früher Artikel untersuchte die Bedeutung von »Freedom-Songs« für den Kampf um Bürgerrechte, ein anderer befasste sich mit der Frage, wie man Folksongs im Geschichtsunterricht einsetzen könne. Im Archiv der Times sind 408 Artikel verzeichnet, der letzte vom 24. März 1969 über die »derbe neue Aufführung« von Tosca in der Metropolitan Opera, nur eine von erstaunlich vielen Besprechungen klassischer Musik.

Dank einer Ironie der Zeitgeschichte scheint Shelton seine Karriere als Musikkritiker ausgerechnet dem Senator McCarthy zu verdanken. Im Januar 1956 wurde er unter Strafandrohung vor einen Unterausschuss des Senats bestellt, der die kommunistische Infiltration der Presse untersuchte. Tatsächlich handelte es sich um einen Namensirrtum (der so genannte Eastland-Ausschuss suchte einen in Washington arbeitenden Journalisten namens Willard Shelton), aber Robert Shelton verweigerte die Aussage mit der Begründung, der Ausschuss verstoße gegen die Pressefreiheit und veranstalte eine Schmutzkampagne gegen die Times. Statt auszusagen, verlas er die folgende Erklärung: »Keiner, der mich kennt, würde je meine Loyalität gegenüber der Regierung der Vereinigten Staaten bezweifeln. Aber gerade weil ich ein loyaler Amerikaner bin, muss ich grundsätzlich Fragen nach meinen politischen Überzeugungen und Verbindungen als Verletzung meiner Rechte unter dem Ersten Verfassungszusatz ablehnen.« Die linksliberale Times jedoch kniff: Sie bekräftigte zwar ihr Engagement für die Meinungsfreiheit, verpflichtete sich aber zugleich, jeden notorischen Kommunisten zu entlassen - und versetzte Shelton von der Politischen Redaktion zu Unterhaltung und Feuilleton. Shelton wurde zweimal verurteilt, legte Einspruch ein und wurde in seinem Kampf von der Amerikanischen Bürgerrechtsunion unterstützt. Ein Berufungsgericht entschied im September 1963 mit 2:1 Stimmen zu seinen Gunsten; endgültig aufgehoben wurden die Urteile durch einen 5:2-Spruch des Obersten Gerichtshofs.[7]

Inzwischen hatte Robert Shelton natürlich sein ganz eigenes Feld bestellt und war, wie John Pareles im Nachruf auf ihn in der Times schrieb, der »Katalysator und Chronist des Folk-Booms der 1960er«[8] geworden. Weitaus unbedeutendere Kritiker haben für sich größere Ansprüche erhoben. Neben Dylan und den erwähnten Collins und Ian schulden ihm zahllose weitere Künstler Dank, darunter Joan Baez, über die er anlässlich des Folkfestivals von Newport 1959 schrieb, und auch Phil Ochs, Buffy Sainte-Marie, Peter, Paul and Mary, Tom Paxton, Janis Joplin, Jose Feliciano und Frank Zappa.

Wie Dave Laing in seiner Studie über »Robert Sheltons Folkrevival-Journalismus« anmerkt, war New York die Hauptstadt dieses Revivals; »Greenwich Village war der Mittelpunkt der New Yorker Folkszene, bevölkert von einer sich ständig neu zusammensetzenden Gruppe von Musikern, Journalisten, Clubbesitzern und Musikunternehmern, die in häufigem persönlichen Kontakt standen. Anfang der 1960er war Shelton ein fester Bestandteil dieses Netzes, nicht zuletzt dank seines leidenschaftlichen Plädoyers für die Folk Music in einem Artikel in Village Voice 1960.«[9] Einige seiner aufmerksamsten Leser - darunter viele der Künstler, über die er schrieb - waren (oder wurden) seine Freunde, auch weil sie in der Nähe seiner Wohnung, 191 Waverley Place, lebten und arbeiteten, etwa gleich weit entfernt von Gerde's und der White Horse Tavern. Bei alledem schrieb Shelton aber weder für sie noch speziell für Fans der Folk Music, sondern für die gewöhnlichen Leser und Plattenkäufer, von denen die meisten weit weg vom Village wohnten; wenn es so etwas wie eine landesweit gelesene Tageszeitung überhaupt gab, dann war das die Times, und außerdem wurden viele ihrer Artikel unter der Hand verbreitet. So wurden zum ersten Mal Leser »von Kalifornien bis zu den New Yorker Inseln« von Shelton in ein verräuchertes Coffeehouse eingeladen, ähnlich wie der große Harold C. Schonberg sie in die Carnegie Hall mitnahm.

Es ist nicht klar, wann genau Shelton und Dylan beschlossen, das Projekt des vorliegenden Buchs in Angriff zu nehmen. Schon zu Silvester 1965 jedenfalls unterhielten sie sich bei einem Abendessen in The Clique in Manhattan über eine Biographie. Zu diesem Zeitpunkt hatte Shelton bereits eine ganze Reihe umfangreicher Projekte in Arbeit oder in Planung, darunter Born To Win -eine Sammlung von Texten Woody Guthries -, The Face Of Folk Music zusammen mit dem Fotografen David Gahr, The Country Music Story, dazu längere Essays in mehreren Songbüchern sowie unter dem Pseudonym Stacey Williams zahlreiche Texte für Plattenhüllen, z. B. für die Folk Box der Firma Elektra, für die er auch die einzelnen Musikstücke auswählte. Als Shelton im März 1966 zu Dylans Tour stieß, hatte er bereits reichhaltiges Material sowohl über Dylan als auch über die Folk-Bewegung gesammelt und kannte alle Beteiligten so gut wie sonst kaum einer. Von Beginn an strebte Shelton offenbar eine seriöse Studie, keinen schnellen »Renner« an; allerdings dürften beide kaum damit gerechnet haben, dass bis zur Fertigstellung zwanzig Jahre vergehen sollten. Nach einem kurzen Flirt mit Viking unterzeichnete Shelton einen Vertrag mit Doubleday; bald darauf verließ er New York und verbrachte einige Zeit in Irland, ehe er sich auf Dauer in England niederließ.

1987 stellte er in einem Interview fest, was er brauche, sei »Geld und ein verständnisvoller Verleger«[10]. Der Vorschuss war durchaus großzügig gewesen, »er reichte aber nicht weit« - und Shelton konnte nicht gut mit Geld umgehen. Jedenfalls waren seine Unkosten beträchtlich, und wie er selbst einräumte, übertrieb er die Recherche, kostspielig in der Zeit vor dem Internet. Er recherchierte nicht nur Dylan, sondern alles, was Dylans Leben und Werk sozial, politisch und kulturell geprägt hatte. Alles musste miteinander in Zusammenhang gebracht werden. Als er in den frühen 70ern zu schreiben begann, entstand (wie ein Kritiker es nennen sollte) eine »faszinierende Sozialgeschichte«, eine Studie »der amerikanischen Musikszene und von Dylans Stellung darin«. Aber das Ganze war lang, viel zu lang, und Shelton konnte nicht Schritt halten mit Dylan, der Mitte der 70er wieder Vollgas gab. 1976 war der Biograph gerade bis zum Jahr 1966 gekommen, mit Dylans Motorradunfall. Er hielt das für einen geeigneten Punkt, um den ersten Band einer von ihm nun angestrebten zweibändigen Darstellung abzuschließen, aber dieser Vorschlag blieb ohne Echo.

Um seine Miete bezahlen zu können, arbeitete er nun wieder als freier Journalist, schrieb aber weiter, und Ende 1977 stand Shelton mit seinem Dylan gerade am Beginn der '74er-Tour. Er schickte neue Kapitel und die Überarbeitungen von alten an seinen Verlag, aber der Korrespondenz lässt sich auf der Gegenseite nur Totenstille entnehmen, wiewohl der Erfolg von Dylans Welt-Tour 1978 eigentlich für ein günstiges Klima sorgte. Außerdem mehrte sich Sheltons Ansehen durch weithin beachtete Artikel und ein Interview anlässlich von Dylans umjubelten Londoner Konzerten. Im Februar 1979 schrieb Shelton an Doubleday, er habe zwar weiteres Material angesammelt, aber »kein einziges Wort mehr geschrieben«[11]. Ohne weiteres Geld sehe er kein Ende dieses trüben Status quo voraus. Es verging ein Jahr, bis man Shelton ein »überragend schlecht redigiertes Manuskript«[12] schickte, was ihn davon überzeugte, dass man bei Doubleday das Buch weder wollte noch verstand. Unter Hinweis auf die allgemeine Empörung über Albert Goldmans skandalöse Elvis-Presley-Biographie, »länger als mein redigiertes, verschandeltes Manuskript«, warf er Doubleday vor, man habe ihn dort »gedrängt, die Privatsphäre von Bob Dylan und Johnny Cash und vielen anderen, die in meinem Buch vorkommen«, zu verletzen und »unaufhörlich großen Druck auf mich ausgeübt, viele meiner in diesem Buch erwähnten Freunde aus kommerziellen Gründen zu verraten und zu verkaufen.«[13]

1983 trennte Shelton sich von Doubleday; der Vertrag ging über an die New English Library in London. Das finanzielle und juristische Fingerhakeln setzte sich jedoch fort, und die im neuen Verlag Zuständigen erhielten regelmäßig von Shelton nachts abgefasste Zeterbriefe. Als dann die amerikanischen Rechte an Morrow weiterverkauft wurden, hatte Shelton das Gefühl, dass das Manuskript endlich einen verständigen Verleger gefunden habe; dieses Gefühl wurde in einem Telegramm von seinem New Yorker Lektor bestätigt: »BIN ÜBERWÄLTIGT VON DER WUNDERBAREN ARBEIT, DIE SIE MIT IHREM BUCH VORGELEGT HABEN. GLÜCKWÜNSCHE UND DANK.« Einige Tage später schloss ein detaillierter Kommentar zum Manuskript mit der Bemerkung, die investierten 20 Jahre seien »voll und ganz gerechtfertigt.«[14]

Shelton antwortete, er könne »sehr viele der Vorschläge, Anregungen und Nachfragen akzeptieren«; allerdings gab er eine ätzende Antwort, als ein unseliger Korrektor eine Bestätigung dafür haben wollte, dass »Dylans Flugzeug wirklich acht Meilen hoch« geflogen sei während des berühmten Interviews in der Luft. Die Diskussionen über die Länge des Textes wurden giftiger, und Shelton sah sich gezwungen, den Forderungen des Verlags nachzukommen und das Buch zu aktualisieren - keine Rede von einem zweiten Band, stattdessen viele Kürzungen in den vorliegenden Teilen. Es kam zu einem Kompromiss: Shelton bekam weniger Geld und konnte mehr Text behalten.[15] Das Zitat zu Beginn des letzten Kapitels belegte seinen Kummer: »Ein Porträt kann man nie fertigstellen; man kann es nur aufgeben.« Bis zu seinem Tod hielt er das Buch für »abridged over troubled waters (»gekürzt über tosendem Wasser«).

Endlich aber erschien No Direction Home, und Shelton brach zu Touren durch England und die USA auf, was Dylan sehr amüsierte, als sich die beiden bei Filmaufnahmen für Hearts Of Fire in London trafen. Übersetzungen folgten; europäische Leser - vor allem die in Italien und Frankreich, wo das Buch es auf die Titelseite von Le Monde brachte - nahmen es besonders gut auf.

Sheltons Lebenswerk erhielt viel Beifall, aber auch einiges an Kritik, was angesichts des großen Erwartungsdrucks nicht überraschen kann. In den Jahren kurz nach der Veröffentlichung verblasste Dylans Stern ein wenig; einige Kritiker und Biographie-Rivalen hielten es für angebracht, Buch und Autor anzuschwärzen - ohne zu bedenken, dass ohne jene Kritik in der New York Times Dylans Karriere vielleicht nicht stattgefunden hätte und dass Shelton dabei gewesen war - Zeuge aller entscheidenden Momente: in Newport 1963 und beim gefeierten Konzert in der Philharmonic Hall an Halloween 1964; in Newport 1965, als Dylan »elektrisch« wurde; bei der Wende-Tour 1966 mit den Hawks; beim Gedächtniskonzert für Woody Guthrie 1968 und auf der Isle of Wight 1969. Und in all den Jahren verbrachten beide viel Zeit miteinander, manchmal einfach so in Kneipen, manchmal mit ihren Freundinnen - Suze Rotolo und Joan Baez auf Dylans Seite. 1971 in New York, während Dylans langer Bühnenabstinenz, und auf seiner Tournee 1978 redeten sie stunden- und nächtelang.

In den entscheidenden Jahren in Greenwich Village gehörte Shelton zu Dylans »Gang«. Dylans Freunde waren Sheltons Freunde. Wie Rotolo in ihren Erinnerungen schreibt, endeten manche Abende in Sheltons Apartment, wo Dylan einmal nach einer langen Nacht, die in der White Horse Tavern begonnen hatte, auf Sheltons Sofa einschlief. Auf diese Weise erhielt Shelton Zugang zu Vielen aus Dylans engstem Kreis, einschließlich seines Bruders David und seiner Eltern Abe und Beatty, mit denen sich kein anderer Journalist je ausgiebig unterhielt. Als sich im Juli 1966 die Nachricht von Dylans Motorradunfall verbreitete, war Shelton derjenige, den Abe Zimmermann anrief, um Genaueres zu erfahren. Shelton sprach auch mit Dylans Jugendfreunden aus Hibbing, darunter Echo Helstrom und Bonny Beecher - dem »Girl from the North Country« - sowie Mitstudenten und Freunden aus Minneapolis.

Und natürlich unterhielt er sich mit den Musikern, die Dylan am nächsten standen, wie Joan Baez, Peter Yarrow, Jack Elliott und Pete Seeger, ebenso mit seinem Manager Albert Grossman und Dylans Möchtegern-Produzenten Phil Spector, den er während der Sessions für »River Deep, Mountain High« interviewte. Viele dieser Zeitzeugen sind nicht mehr am Leben: Dylans Eltern natürlich, aber auch John Hammond, Johnny Cash, Mary Travers, Allen Ginsberg, Dave Van Ronk, Richard Farina und Phil Ochs. Ihre Beiträge zu Dylan leben weiter, dank Robert Sheltons emsiger Arbeit.

Trotz des Zugangs und der Nähe wahrte Shelton die Objektivität des Journalisten, und sein Umzug nach Europa diente sowohl dazu, Distanz zwischen sich und denen zu schaffen, über die er schrieb, als auch der Flucht aus dem, was er als die Hässlichkeit von Nixons Amerika empfand. Wenn beklagt wurde, Dylan bleibe ungreifbar und viele Fragen blieben unbeantwortet, sagte Shelton oft, »es ist alles da, wenn man den Code zu knacken versteht«. Rufe nach »mehr Blut« ignorierte er standhaft. Zwar stand er häufig kurz vor der Pleite, aber keine noch so erhebliche Summe hätte ihn dazu gebracht, »die Reliquien eines Freundes zu verkaufen«.

Von Beginn an war Shelton entschlossen, Dylan als bedeutende Gestalt für die Kultur des 20. Jahrhunderts zu etablieren, dessen Werk gleichrangig neben dem von Picasso, Chaplin, Welles und Brando zu diskutieren sei. Manchmal geht er in seiner intellektuellen Argumentation zu weit, aber auch wenn einige seiner Song-Analysen heute überzogen oder manche literarische Vergleiche übertrieben wirken, sollten wir nicht vergessen, Shelton verfocht seine Sache viele Jahre bevor populäre Musik allgemein und Dylan speziell zu Gegenständen akademischer Studien wurden. Die Zeiten haben sich wirklich geändert -und Shelton und sein Buch haben dazu beigetragen.

Natürlich konnte Shelton schwierig sein und hat Briefe produziert, die besser nie abgeschickt worden wären. Aber manchmal - oft - war er aus guten Gründen schwierig, weil es um ein Prinzip ging. Leider hat er das neue Interesse für die 1960er Jahre und ihre Musik nicht mehr erlebt, ebensowenig das glänzende Comeback des Dichters, Sängers und Songschreibers, der die Ära geprägt hat. Wie er schrieb, hätte Dylan »1966 oder bald darauf sterben können, und dennoch hätte er das Gesicht der populären Musik und ihren ganzen Stoffwechsel verändert.«[16] Auch die Neueinschätzung seines Werks hat Shelton nicht mehr erlebt, das alle Dylan-Autoren seither genutzt und zuweilen geplündert haben. Inzwischen gilt es zunehmend als Klassiker des Genres, verfasst von einem, den man den Vater des seriösen Musikjournalismus nennen könnte. In den Worten des Kulturhistorikers Dr. Lawrence J. Epstein ist No Direction Home »unorganisiert, aber faszinierend, voll wunderbarer Anekdoten … ein authentisches und wertvolles Porträt, so weit es reicht … ein großartiges Buch.«

Diese neue Ausgabe ist, wie wir glauben, besser ediert und organisiert; etwa 20.000 Wörter neuen Texts - authentische Anekdoten und Details - wurden nach Sheltons Manuskript von 1977 eingefügt. Die wichtigsten Zusätze finden sich in den Kapiteln 1, 4 und 10, die allesamt Wendepunkte von Dylans Laufbahn schildern: Hibbing und Greenwich Village und das berühmte Interview von 1966, unterwegs von Lincoln nach Denver. Abschnitte, die inzwischen veraltet sind, wurden entfernt. Das gilt auch für einen Teil der fahrigen und unbefriedigenden alten Erweiterungen; das Buch schließt jetzt 1978 nach den triumphalen Konzerten in London. Dylans Werdegang seit 1979 wird im Anhang in einer ausführlichen Chronologie dokumentiert, und eine aktualisierte Diskographie belegt seine musikalische Produktion bis ins Jahr 2010.

»Such etwas, was dich wirklich bewegt, und schreibe darüber«, hatte Dylan Shelton geraten, als sie eines Abends im Gaslight zusammenhockten, vier Jahre nach jener alles verändernden Kritik in der New York Times. Ein Rat, den der Kritiker sich zu Herzen nahm. Binnen weniger Wochen hatte er sein Thema gefunden.

Elizabeth Thomson und Patrick Humphries,

London, November 2010

Bob Dylan - No Direction Home

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