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Das Meer

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von Gregor Samsa

Mittag war vorüber. Die Schatten krochen wieder unter den Häusern hervor und glitten die Fassaden hinauf gleich feuchten schwarzen Polypen. Einsam ging ich durch die menschenleeren Straßen. Die blinden Fenster schauten trostlos auf mich herab, sodass ich für Sekunden glaubte, die Stadt sei ausgestorben, leergefegt durch eine unheimliche Seuche, die alle Bewohner dahingerafft hat.

Ich bin auf der Flucht. Ich muss die Adresse aufsuchen, die mir die Organisation genannt hat, damit ich mithilfe des Verbindungsmannes über das Meer entkommen kann.

Immer tiefer dringe ich ein in das Gewirr enger winkliger Gassen, die den Blick in die Ferne verwehren. Hohl schallt das Echo meiner Tritte auf dem holprigen Pflaster. Hoch über mir kreist eine Möwe. Ihre heiseren Schreie stehen unsichtbar in der Luft.

Ich durchschreite dunkle Toreinfahrten und winzige Höfe. Modriger Geruch wie von faulendem Tang schlägt mir entgegen. Die schmutzigen windschiefen Fassaden wirken bedrohlich in dem gespenstischen Mittagslicht. Was verbergen sie hinter den vernagelten Fenstern? Wer versteckt sich hier in dieser Geisterstadt, wo die Zeit scheinbar stillsteht und das Vergessen aus feuchten Kellern emporsteigt und die Einwohner lebend begräbt? Mir ist, als müsste sich jeden Augenblick eine Tür auftun, ein dürrer Arm nach mir greifen und mich für immer in die Finsternis sterbender Gemäuer reißen.

Ich bleibe stehen, halte den Atem an und lausche. Nichts regt sich. Die Häuser schweigen. Müde flattert vergilbte Wäsche auf den niedrigen Dächern. Irgendwo in der Ferne weint ein Kind. Ich vernehme auf einmal mein Herzklopfen. Unwillkürlich drücke ich mich in den Schatten der Haustür.

Ich gehe eine steile, halbverfaulte Holztreppe hinauf. Das Geländer fehlt. Laut knarren die Stufen wie der gequälte Aufschrei eines unsichtbaren Wesens. Ich steige bis unters Dach und klopfe. Alles wirkt verfallen. Ich kann noch immer nicht recht glauben, dass hier Menschen hausen. Da vernehme ich vorsichtige Schritte. Die Tür öffnet sich eine Handbreit, ein misstrauisches Gesicht schiebt sich in den Spalt. Ich sage das Kennwort. Der andere zögert einen Moment, dann lässt er mich eintreten.

Er führt mich durch einen dunklen Korridor in ein kleines Zimmer. Altmodische Möbel stehen umher. Der Putz an den Wänden ist teilweise schon abgebröckelt. Auf allem liegt eine Staubschicht, so als wäre der Raum seit Langem nicht mehr benutzt worden.

Ein ungutes Gefühl ergreift mich; irgendetwas stört mich. Dieser vierzigjährige Mann mit den sorgfältig gekämmten Haaren und dem aalglatten Gesicht passt nicht in diese Umgebung. Sein schäbiger Anzug wirkt künstlich wie ein schlechtes Theaterkostüm. Ob ich ihm trauen kann? Was bleibt mir anderes übrig. Allein kann ich es nicht schaffen, ich bin auf Hilfe angewiesen.

„Was wünschen Sie?“

„Ich brauche ein Boot. Ich muss übers Meer.“

Schweigen.

Es ist nicht zu erkennen, was hinter seinem Gesicht vorgeht.

„Seien Sie in einer Stunde in dem kleinen Fischerdorf, das am Straßenrand liegt. Ich will sehen, was ich tun kann.“

Ein gleichgültiges Lächeln entblößt seine Goldzähne. Er schiebt mich zur Tür hinaus, von der die letzten Reste Farbe abblättern.

Ich bin froh, wieder draußen zu sein. Rasch steige ich die steile, halsbrecherische Treppe hinunter und trete ins Freie. Die Sonne ist verschwunden. Doch ist keine Wolke zu sehen. Vielmehr ist es ein allgemeiner Dunst, der sich am ganzen Himmel ausgebreitet hat. Ich atme auf, als ich das düstere Viertel hinter mir gelassen habe.

In der Luft kreischen die Möwen. Ich biege um eine Straßenecke und erblicke das Meer. Und plötzlich bricht die Sonne wieder durch und glitzert tausendfach auf den Wellen. Eine nie gekannte Sehnsucht schleicht sich in mein Herz. Ich wusste nicht, dass ich für solch tiefe Gefühle noch empfänglich bin. Das ständig gefährliche Leben stumpft ja so ab.

Ich gehe am Leuchtturm vorbei. Eine frische Brise weht. Die Seeluft schmeckt salzig. Fern am Horizont glaube ich Land zu erblicken, doch es kann auch eine Wolkenbank sein. Das Wasser leuchtet in unwirklichem Blau. Das freie Meer, wie ich es liebe! Auf einmal ist es meine Rettung geworden. Ich möchte am liebsten sofort das Land verlassen und nach Süden über das Meer ziehen. Wenn es doch schon bald Nacht wäre!

Langsam gehe ich am Strand entlang. Die Wellen rühren mein Gemüt auf und sind doch zugleich so beruhigend. Auf einmal bin ich sicher, dass alles klappen wird. Immer wieder schaue ich hinaus auf die unbegrenzte Wasserfläche. Die Brandung schlägt ans Ufer im Rhythmus zu einer ewigen Melodie. Alles Unbedeutende versinkt. Der Blick erfasst das Ganze und wird nicht abgelenkt von Einzelheiten.

Ich bin glücklich. Alles Bedrückende habe ich hinter mir gelassen. Morgen schon werde ich weit weg sein in einem fernen Land, wo alles Unschöne nur noch undeutliche Erinnerung ist. Ich hebe einen Stein auf und werfe ihn in weitem Bogen ins bewegte Wasser. Die Schaumkämme der Wellen verschlucken ihn ohne Spur.

Es ist Zeit zu handeln. Zuversichtlich gehe ich auf das kleine Dorf zu, wo sich die Fischerhütten in den Windschatten der zerzausten Bäume ducken. Einige struppige Hunde streunen ziellos zwischen den Behausungen umher. Langsam gehe ich die staubige Straße entlang. Schon von Weitem entdecke ich vor einem abseits stehenden Häuschen meinen Verbindungsmann mit einer jungen Frau. Als er mich kommen sieht, geht er mir wie zufällig entgegen.

„Sie haben Glück. Es hat geklappt“, zischt er mir im Vorübergehen zu.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verschwand er.

Gelassen schritt ich auf das Mädchen zu. Erwartungsvoll schaute sie mich an.

„Sie brauchen ein Boot?“

Ich nickte.

„Sie können unseres haben. Mein Großvater ist blind. Er kann nicht mehr fischen fahren. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo es festgemacht ist.“

Leichten Schrittes ging sie voran. Sie war noch jung. Sie mochte höchstens sechzehn sein. Was bewog sie, mir, einem völlig Fremden, zu helfen? Sicher, sie brauchten es nicht mehr, doch bestimmt hätten sie es verkaufen können.

In einer kleinen Bucht lag es angekettet im Schatten alter Bäume. Meine Rettung. Ich betrachtete es stumm. Warum freute ich mich nicht? Was war das für ein Gefühl, das mir fast den Hals zuschnürte? Erst jetzt, wo ich das Boot vor mir sah, kam mir zum Bewusstsein, was ich alles verlassen würde.

Das Mädchen stand hinter mir.

„Sie werden verfolgt? Wo wollen Sie bleiben, bis es Nacht wird?“

Ich schaue sie an. Sie ist schön.

„Wie heißt du?“

„Ich heiße Brigitte. Und du?“

„Mein Name spielt keine Rolle.“

Wir schweigen eine Weile.

„Komm zu uns nach Hause! Dort kannst du bleiben, bis es dunkel wird.“

In ihren Augen ist ein unaussprechliches Leuchten, dem ich nicht widerstehen kann.

Sie führt mich in ihre kleine Hütte. Ich schaue mich um. Überall hängen Netze und andere Fischereiutensilien. Eine Petroleumlampe hängt an der niedrigen Decke. Am Tisch sitzt ein weißhaariger alter Mann. Sein Gesicht ist zerfurcht, als seien die Wellen des Meeres in ihm erstarrt. Seine Augen sind unbewegt in die Ferne gerichtet, als sähen sie ein geheimnisvolles Land, das noch kein Sterblicher betreten hat.

„Wen bringst du mit, mein Kind?“

„Einen Fremden. Er wird bis zum Abend bei uns bleiben.“

Ich setze mich an den blank gescheuerten Holztisch, während Brigitte das Abendbrot bereitet. Wir essen schweigend. Jeder hängt seinen Gedanken nach.

„Sie sind ein Fremder. Warum sind Sie in diese Gegend gekommen?“, fragt mich der Alte.

„Ich liebe das Meer.“

„Ja, das Meer“, meint er verträumt, „früher, da fuhr ich jeden Tag hinaus. Doch dann geschah das mit meinem Unfall. Eines Morgens fuhr ich wie gewohnt zum Fischen. Es tobte ein fürchterliches Gewitter. Ich warf meine Netze aus. Auf einmal breitete sich aus der Tiefe ein geheimnisvolles Leuchten aus. Immer heller strahlte es in den unwirklichsten Farben. Ich starrte wie gebannt auf dieses unerklärliche Schauspiel und fühlte mich so seltsam glücklich wie nie zuvor im Leben. Plötzlich zuckte ein greller Blitz, wie von einer Explosion. Ich war betäubt. Als ich erwachte, sah ich nichts mehr. Mehrere Tage trieb ich auf dem Meer, dann fand mich ein Frachter.“

Der Alte verfiel in ein tiefes Sinnen. Seine Züge verklärten sich. Er schien wieder das märchenhafte Leuchten zu sehen, das Letzte, was er im Leben erblickte.

Brigitte steht leise auf und schaut mich an. Wir steigen die Leiter empor zu ihrer Kammer unter dem Dach. Sie umarmt mich zärtlich. Ihr Haar duftet nach Salz und See. Ihre Lippen sind feucht.

„Es ist schon dunkel. Ich muss gehen.“

„Bleib! Nur ein paar Stunden. Die Nacht ist noch lang.“

Ich liege bei ihr. Ich müsste längst auf der Flucht sein, aber ein unerklärlicher Zauber hält mich hier fest. Ich schaue in ihre Augen und glaube, in ihnen das geheimnisvolle Leuchten aus der Meerestiefe zu entdecken.

Sie ist mir so unbeschreiblich nah. Ich fühle ihr Herz pochen. Werde ich jemals wieder so glücklich sein wie jetzt? Die kleine Fischerkate ist auf einmal für mich ein Schloss. Ich drücke Brigitte sanft an mich.

„Komm mit!“

„Es geht nicht. Ich muss bei meinem Großvater bleiben. Ohne mich wäre er hilflos.“

Mir fällt etwas ein. „Hast du keine Eltern?“

„Nein, sie sind beide in einer Sturmnacht im Meer ertrunken.“

Wir schweigen. Der Wind streicht um das Haus. In der Ferne bellt ein Hund; dann ist es still. Wir vernehmen nur ab und zu das unheimliche Knistern in den Hüttenwänden.

Allmählich schlummern wir ein. Ich träume.

Ich bin auf der Flucht. Ein junger Bursche führt mich durch die unbekannte Gegend. Die ganze Umgebung ist so merkwürdig. Wir gehen durch fremde Wälder. Ich habe solche Bäume noch nie gesehen. Oh Gott, wie weit bin ich schon geflohen?

Wir kommen an ein steiles Ufer. Im Wasser wimmelt es von seltsam leuchtenden Quallen. Wir beschließen, unseren Weg über eine Sandbank zu nehmen, die eine Bucht vom offenen Meer trennt. Wir gehen los. Das glasklare Wasser reicht uns bis an die Hüften. Rechts von uns ist das tiefe Wasser, links von uns die Bucht, die eine Art Sumpf ist.

Ich entdecke ein eigenartiges Wesen, eine Art Riesenkrebs. Wie eine Spinne stelzt er auf seinen meterlangen Beinen, sodass sein feuerroter Körper aus dem Wasser ragt. Uns wird unheimlich zumute. Wir gehen schneller. Ich blicke mich um und bemerke, dass der Krebs uns verfolgt. Seine Stielaugen starren uns an, während die fürchterlichen Scheren auf und zu klappen.

Plötzlich sehe ich überall um uns die gewaltigen Krebse auftauchen. Uns sträuben sich die Haare. Wir laufen um unser Leben. In langen Sätzen erreiche ich das rettende Ufer. Ich schaue mich um und sehe, wie der junge Bursche von den wütenden Krebsen zerrissen wird.

Ich wache auf. Draußen dämmert es schon. Wie spät ist es? Ich löse mich aus Brigittes Armen. Ich darf nicht länger bleiben. Schweigend verlassen wir die Hütte. Der Morgen ist kalt. Was wird der neue Tag mir bringen? Der Traum hat mich beunruhigt.

„Komm nicht mit zum Boot! Es könnte gefährlich sein. Ich traue dem Mann nicht, der mich herbestellt hatte.“

Brigitte nickt. „Ich werde zur Mole gehen und dir nachschauen.“

Die letzte Umarmung. Wir trennen uns für immer. Ein bitterer Geschmack liegt mir auf der Zunge. Mir wird auf einmal klar, dass ich alles aufgebe, was mein Leben glücklich machte. Reglos schaue ich Brigitte nach, bis sie verschwunden ist. Ich bin allein.

Es ist noch sehr früh. Ich friere. Die Sonne steckt in einer Dunstschicht. Ich gehe die Dünen hinauf. Gleich muss ich das Meer sehen, das endlose Meer.

Ich stehe sprachlos und kann es nicht fassen: Das Meer ist verschwunden. Einfach verschwunden. Statt dessen erstreckt sich eine breite Ebene. Schemenhaft erblicke ich Äcker und Wiesen. Die Ferne verschwimmt in feinen Nebelschleiern. Kein Mensch ist zu sehen. Alles wirkt tot und bedrückend.

Ich bin fassungslos. Was soll ich tun? Ich laufe zur Mole. Wo ist Brigitte? Sie ist nirgends zu sehen. War denn alles nur ein Traum? Ein schrecklicher Verdacht durchzuckt mich. Stand Brigitte mit meinen Feinden in Verbindung? Schließlich war sie es, die mich aufgehalten hatte. Warum bin ich nicht in der Nacht geflohen, als das Meer noch da war?

Ich bin mutlos. Wenn die Dinge so liegen, bin ich verloren. Die Gedanken jagen durch meinen Kopf. Dann müsste ja mein Verbindungsmann auch ein Verräter sein. Ich muss Gewissheit haben.

Ich mache mich wieder auf den Weg, den ich gestern schon einmal zurückgelegt habe. Es sind die gleichen Straßen. Es herrscht heute mehr Verkehr. Die Häuser haben nichts Bedrohliches mehr an sich. Sie wirken nur noch schmutzig und langweilig.

Ich steige die bekannte Treppe hoch. Die Tür ist frisch gestrichen. Daneben hängt das Schild eines Reisebüros. Der Verbindungsmann öffnet mir und lässt mich eintreten. Ist das alles nur Tarnung? Der andere lässt sich hinter seinem Schreibtisch nieder. Gleichgültig schaut er mich an.

„Sie wünschen?“

Offenbar will er mich nicht kennen. Was bezweckt er damit? „Erinnern Sie sich nicht mehr an mich?“

Er zwinkert nervös. „Ja, richtig. Sie hatten gestern bei mir eine Ausflugsreise zu den Sehenswürdigkeiten der Umgebung gebucht.“

Ich werde wütend. Er will mich nicht verstehen. Mir kommt eine Idee. „Wenn Sie Agent des Reisebüros sind, möchte ich bei Ihnen eine Seereise buchen.“

Er scheint überrascht. „Hier gibt es kein Meer.“

„Aber gestern war es noch da“, schreie ich, „ich will wissen, was hier los ist!“

Er schüttelt den Kopf. „Hier war noch nie ein Meer.“

Es wird mir zu viel.

„Haben Sie ein wenig Zeit? Kommen Sie, ich lade Sie ein. Ich werde Ihnen etwas zeigen, was Sie interessieren wird.“

Achselzuckend erhebt er sich. Er schließt sorgfältig die Tür hinter uns ab und folgt mir. Ich überlege fieberhaft. Wieso versucht der andere, mir etwas vorzumachen? Warum geht er andererseits einfach mit mir mit, wenn er Vertreter eines Reisebüros ist? Irgendetwas stimmt hier nicht. Aber gleich werde ich wissen, woran ich bin.

Wir kommen zur Mole. Triumphierend weise ich auf den Leuchtturm. Der Mann lacht. „Ach so. Stellen Sie sich vor, dieser verrückte Kneipenwirt hat mitten im Land einen Leuchtturm gebaut. Er war früher einmal Kapitän. Natürlich ist die Gaststätte ‚Zum Leuchtturm‘ eine Attraktion in dieser Gegend.“

Wir gehen in die Ebene hinein. Der Boden ist feucht, der Schlamm bleibt an unseren Schuhen kleben. „Es hat in den letzten Tagen viel geregnet“, erklärt mein Begleiter und weicht einer großen Pfütze aus.

Ich bleibe stehen und schaue mich um. Kein Baum und kein Strauch ist zu sehen. Nur umgepflügte Äcker erstrecken sich, so weit das Auge reicht. Irgendwie wirkt die Gegend bedrückend.

Vielleicht, weil man nirgendwo hinkommt, wenn man hier entlanggeht. Immer nur die gleiche eintönige Landschaft fände man vor, so weit man auch ginge.

Im Grase am Wegrand liegen tote Fische herum. Manche sind noch frisch, andere wiederum schon halb verfault. Ich weise meinen Begleiter darauf hin.

„Das sind Abfälle von der Fischfabrik, die hier in der Nähe steht“, ist die Antwort.

Wenn ich bloß wüsste, was geschehen ist! Ich bin jetzt sicher, dass der Verbindungsmann ein Verräter ist. Ich muss ihn loswerden. Wir kehren um.

„Wie wäre es mit einer kleinen Stärkung?“ Wir betreten das Strandhotel. Das Stimmengewirr der Badegäste erfüllt den Raum. Während der Kellner uns das Gewünschte bringt, erhebe ich mich und gehe langsam in Richtung Toilette. Blitzschnell bin ich durch die Küche über den Hof verschwunden. So leicht lasse ich mich nicht fassen.

Ich gehe durch die Stadt. Lachend kommen mir einige Matrosen entgegen. Ich stehe vor einem großen Haus. Neben der Tür ist eine Tafel: ‚Museum für Meereskunde‘. Also doch! Ich gehe hinein. Verwirrt schaue ich mich um. Entsetzliche Ungeheuer starren mich von allen Seiten an.

Ein älterer Herr tritt freundlich auf mich zu. „Sie sind wohl das erste Mal hier? Darf ich Sie herumführen? Gestatten, mein Name ist Professor Bronstein.“

Ich nicke. „Sagen Sie, leben diese Bestien alle hier im Meer?“

Er schüttelt lächelnd den Kopf über so viel Unwissenheit. „Nein, sie sind schon lange ausgestorben. Vor langen Zeiten haben sie hier gelebt.“

„Also gab es hier früher einmal ein Meer?“

„Ja, freilich, aber das ist schon etwa 100 Millionen Jahre her. Damals erstreckte sich hier eine große Bucht, das sogenannte Zechsteinmeer, das dann vom Ozean abgeschnitten wurde und verdunstete. So entstanden die großen Salzlager. Daher finden Sie in dieser Gegend so viele Salinen.“

„Herr Professor, kann es vorkommen, dass ein Meer ganz plötzlich, sagen wir über Nacht, verschwindet?“

Er lächelt wieder. „Das ist ganz unmöglich. Solche Prozesse spielen sich nicht so rasch ab. Denken Sie an das große Alter der Erde! Die Natur hat Zeit. Was sind schon einige Tausend Jahre? Ein Meer kann nicht auf einmal verschwinden. Überlegen Sie sich, wie lange es dauert, bis so eine riesige Wassermasse verdunstet. Oder denken Sie an die Po-Ebene, die in Jahrmillionen aufgeschwemmt wurde.“

„Aber ist es nicht möglich, dass sich die Oberfläche der Erde ganz plötzlich durch ein Erdbeben verändert?“

„Nein, sehen Sie, so ein Erdbeben, wie verheerend es auch sein mag, betrifft immer nur ein relativ kleines Gebiet. Es ist undenkbar, dass ein großes Meer durch tektonische Beben verdrängt wird. Wir kennen allerdings Fälle – die Endogenese – wo das Land aus dem Meer herausgehoben wird oder darin untergeht – denken Sie zum Beispiel an Venedig, das unaufhaltsam in der Adria versinkt – aber das sind zeitlich sehr lang sich erstreckende Prozesse, die Jahrtausende benötigen, um größere Veränderungen hervorzurufen.“

„Also ist es möglich, dass es hier wieder ein Meer geben wird?“

„Ja, vielleicht in hundert Millionen Jahren.“

Ich starre den Professor an, schaue in sein altes Gesicht, das wie versteinert wirkt. Mir kommt es vor, als sei er Millionen Jahre alt. Und plötzlich sehe ich nicht mehr den Professor, sondern eine der versteinerten Fischbestien auf mich zukommen. Entsetzt fliehe ich ins Freie. Ich schaue mich ängstlich um, aber da ist gar kein Museum; nur ein ganz gewöhnliches Mietshaus.

In mir reift ein Entschluss. Ich glaube nicht mehr, was mir die anderen erzählen. Ich habe das Meer mit eigenen Augen gesehen, also war es gestern da. Ja, gestern. Da schien alles so glatt zu laufen. Ich hatte sogar schon ein Boot.

Das Boot! Dass ich daran nicht eher gedacht habe! Ich laufe zu der kleinen Bucht. Schon kommen die alten Bäume in Sicht. Darunter liegt das Boot. Es schwimmt im schwarzen Wasser eines kleinen Tümpels.

Ich lasse mich jetzt nicht mehr beirren. Wenn es dieses Boot gibt, existiert auch Brigitte. Sie kann kein Traum gewesen sein.

Ich stoße die Tür auf. Der blinde Alte sitzt am Tisch.

„Wo ist Brigitte?“

„Sie ist zur Mole gegangen. Aber sie ist schon lange weg. Sicher geht sie am Meer spazieren.“

„Also gibt es hier doch ein Meer.“

„Ei, freilich, ich bin doch fast mein ganzes Leben hinausgefahren, bis der Unfall kam und ich das Augenlicht verlor. Doch das ist schon lange her.“

„Vielleicht gibt es das Meer gar nicht mehr.“

„Willst du einen Blinden verspotten? Erst gestern war ich am Strand. Sei still! Hörst du nicht die Wellen rauschen?“

„Ich höre nichts.“

Er lächelt still. „Blinde hören besser als Sehende. Meine Ohren täuschen sich nicht. Glaub mir, da ist das Meer. Wie könnte ich denn ohne das Meer leben?“

Er lächelt immer noch vor sich hin und ist ganz in Gedanken verloren. Ich gehe leise.

Wenn es den Alten gibt, ist auch Brigitte Wirklichkeit. Doch wo ist sie? Sie wollte zur Mole gehen. Plötzlich erfasst mich eine entsetzliche Angst. Ich laufe wieder zur Mole, schaue mich nach allen Seiten um. Die endlose Weite ist leer. Ich rufe Brigittes Namen. Die Ebene schweigt. Nur einige Raben fliegen krächzend hoch. Brigitte antwortet nicht.

Da entdecke ich sie im Gras. Sie ist tot. Kleine Muscheln sind in ihrem schwarzen Haar. Äußerlich ist kein Zeichen von Gewaltanwendung zu sehen. Ich nehme ihren leblosen Körper und trage ihn zur Hütte des alten Fischers. Er sitzt auf der Bank vor seiner Behausung und lauscht.

„Ich bin`s“, sage ich und will an ihm vorbei.

„Brigitte ist noch nicht nach Hause gekommen“, meint er. Ich antworte nicht. „Du trägst schwer. Deine Schritte setzen schwer auf.“ Ich schweige.

Ich trage Brigittes Körper in ihre Kammer und bette sie. Die Hütte erscheint mir auf einmal so eng.

„Verlässt du mich? Wohin gehst du?“

Ich bleibe stumm. Was sollte ich auch antworten?

Ich gehe an der Mole vorbei. Schaue ein letztes Mal zurück. Dann wandere ich in das flache Land hinein, an den Äckern vorüber. Vielleicht wird in Millionen Jahren hier wieder ein Meer sein.

Wie die Wesen wohl aussehen mögen, die es bevölkern werden?

Doch wer weiß, ob die Erde dann überhaupt noch existiert. Vielleicht ist auch sie plötzlich über Nacht ganz einfach verschwunden – wie das Meer.

Nachtkerzen Phantastische Geschichten

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