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Luthers letzte Reise Januar/Februar 1546

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Es war tiefer Winter, als Martin Luther zu seiner letzten Reise aufbrach. Mit ihr schloss sich der Kreis seines Lebens, denn Eisleben, die Geburtsstadt des Reformators, sollte zugleich seine Sterbestadt werden.

Der Zweiundsechzigjährige litt an einer ganzen Reihe körperlicher Gebrechen, als er sich in der letzten Januarwoche 1546 zum dritten Mal innerhalb weniger Monate von Wittenberg aus ins Mansfeldische aufmachte, weil er von den Mansfelder Grafen gebeten worden war, als Schiedsrichter in einem gräflichen Familienstreit zu fungieren, Erbstreitigkeiten, bei denen es letztlich auch um öffentliche Angelegenheiten ging, um Fragen des Schulwesens, um Kirchenfragen, um die Mansfelder Hüttenbetriebe, um das Montangewerbe insgesamt und folglich um die Wirtschaftsbedingungen in der Region. Da auch Verwandte Luthers davon betroffen waren, kam er der Bitte nach. Er hätte es so oder so getan, diesen Dienst an seinen weltlichen Fürsten, auch wenn die Mansfelder die Seinigen eigentlich gar nicht mehr waren. Aber sie waren die Landesherrn seiner Kindheit und Jugend, und er fühlte sich ihnen zeitlebens verpflichtet. Vielleicht fühlte er sich am Ende seines Lebens auch diesem Ursprungsort wieder nahe.

In Begleitung seiner drei Söhne Hans, Martin und Paul begann Luther am 23. Januar seine Reiseroute von Wittenberg über Bitterfeld und Halle nach Eisleben. Neben Herzproblemen, Folgen von Übergewicht, Nieren- und Blasenleiden, einer Schädigung des linken Auges, chronischen Kopfschmerzen und den immer virulenten Verdauungsstörungen war es gegenwärtig auch noch eine Wunde am Schenkel, die ihn beeinträchtigte. Unbequem war die Fahrt so oder so bei stürmischem Winterwetter in einem mehr oder weniger offenen Planwagen, in dem ihm der eisige Wind so in den Rücken fuhr, dass er sich auf der letzten Etappe der Wegstrecke schließlich noch eine Erkältung zuzog. In Halle verzögerte sich vorerst die Weiterreise wegen des Saale-Hochwassers, welches das Übersetzen mit der Fähre gefährdete, sodass die Reisegruppe schließlich drei Tage lang in der Saalestadt festsaß. Seiner Frau Käthe gegenüber kommentierte Luther diesen Umstand sarkastisch in einem Brief, „die große Wiedertäuferin“ bedrohe ihn und die Reisegruppe mit Wasserwogen und großen Eisschollen. Mit den Wiedertäufern und anderen Abweichlern, die seiner eigenen reformatorischen Denkrichtung Konkurrenz machten, hatte er zeitweise größere Probleme als mit den Altgläubigen, weil sie sich als die konsequenteren Erneuerer sahen, weil sie erhebliches subversives Potenzial hatten und weil ihr Treiben in letzter Konsequenz zur Auflösung der Volkskirche führen musste. Da war nach Luthers Meinung ebenso der Teufel im Spiel wie bei der Papstkirche und bei den Papisten. Im westfälischen Münster waren die Wiedertäufer, die Anabaptisten, 1534/35 in einer besonders radikalen Form in Erscheinung getreten. Da errichteten Täufer ein ‚neues Zion‘, plünderten Kirchen und Klöster und führten ein von den eigenen Idealen getragenes neues ‚Königtum‘ ein, nachdem sie die eingesessenen Machthaber in der Bischofsstadt kurzerhand in die Wüste geschickt hatten. Erst nach sechzehnmonatiger Belagerung wurde Münster zurückerobert und die Führer der Täufer öffentlich hingerichtet. So etwas war ein Albtraum für Luther, der Recht und Ordnung verteidigte und der seine Reformation im Bund mit den Herrschenden realisierte. Dass die Wiedertäufer die Kindertaufe ablehnten, da bei dem Säugling der Glaube noch nicht vorhanden sein könne, bewies Luther nur einmal mehr, wie falsch viele Menschen, und so auch diese Gruppe von Pseudo-Reformatoren, die göttliche Lehre verstanden. Wenn man den Glauben zur Voraussetzung machte, um taufen zu können, dann verwies das seiner Auffassung nach nur wieder auf eine latente Werkgläubigkeit, und er meinte doch, mit dieser sehr gründlich aufgeräumt zu haben in unzähligen Schriften. Für ihn war ganz klar: Die Gnade Gottes ist voraussetzungslos, sie kann nicht durch Werke erworben werden, und somit trägt die Taufe den Glauben, aber nicht der Glaube die Taufe. Der Glaube ist anfechtbar, wandelbar. Immer wieder fällt der Mensch im Laufe seines Lebens aus dem Glauben heraus, wie fromm er auch sein mag, das wusste Luther aus eigener Erfahrung auch nur zu gut. Aber die göttliche Gnade bleibt, und so bleibt auch die Taufe. Den Wiedertäufern rief Luther zu, sie sollten doch trefflicher einen „Wiederglauben“ als eine „Wiedertaufe“ ins Werk setzen. Er bedachte sie auch noch mit zahlreichen Grobheiten in seinen Schriften und Briefen. Der Grobianismus, das ungeschlachte Polemisieren war in der Spätphase des Reformators kaum noch zu überbieten. Aber bevor er ging, musste er einfach noch mit seinen zahlreichen Feinden abrechnen. Seine eigenen Anfänge waren indessen zugleich die Anfänge eines Epochenwandels gewesen, und in seinen inneren Kämpfen spiegelten sich in gewissem Sinne die Divergenzen der Zeit.

Die Reformationszeit fällt ins Zeitalter der Entdeckungen, eine Epoche, in der die Welt in Bewegung war, alte Sicherheiten obsolet, alte Weltbilder durch neue abgelöst wurden. Johannes Gutenberg hatte den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfunden, Kolumbus erreichte Amerika, Leonardo da Vinci entwickelte erste Flugmaschinen, Kopernikus entwarf das heliozentrische Weltbild, der Portugiese Magellhan vollbrachte die erste Weltumsegelung.

Diese Aufbruchstimmung, die freilich das Privileg einiger weniger blieb, war untermalt von einem tiefen Krisenbewusstsein im noch mittelalterlichen Frömmigkeitsempfinden der Menschen. Der Tod war allgegenwärtig, und entsprechend waren die Sorgen der Menschen ums ewige Seelenheil. Anderthalb Jahrtausende nach Christi Geburt stellte sich wieder einmal die Frage nach Christi Wiederkehr beziehungsweise nach dem Endschicksal der sündigen Menschheit. Allein schon die (halb-)runde Jahreszahl, in Millenniumsschritten gemessen, verwies auf ein mögliches tausendjähriges Reich, das seit dem Frühchristentum in regelmäßiger Wiederkehr prospektive Gestalt annahm, auch wenn die Dogmatik seit Augustinus ein solches verwarf. Um 1500 war ein allgemeines Empfinden verbreitet, in einer Spät- und Endzeit zu leben.

Die Reformation fiel nicht vom Himmel, sondern auf fruchtbaren Boden. Sie ereignete sich vor dem Hintergrund einer Entwicklung, durch die die Gesellschaften reif waren für eine Kirchen- und Glaubenserneuerung, welche sie schließlich in eine Zukunft unter zwar noch weitgehend undefinierten, aber ganz sicher neu ausgerichteten Vorzeichen trug. Sie war ein europäisches Ereignis, und zwar ebenso im Hinblick auf ihre Vorgeschichte(n), ihre unterschiedlichen regionalen und nationalen Ausprägungen wie auch in Bezug auf die Folgen, die für Europa enorm waren. Ohne die Reformationen und ihre Debatten (inklusive der vermeintlichen und tatsächlichen Gegenbewegungen) wäre keine europäische Aufklärung möglich gewesen, welche die Grundlage bildet für unser heutiges europäisches Selbstverständnis bis hin zu den Staatsverfassungen und politischen Institutionen. Ob die Initiatoren der reformatorischen Bewegungen diese Entwicklungen am Ende gewollt hätten, ist eine andere Frage. Im Falle Luthers wäre die Antwort wahrscheinlich ein ganz klares Nein. Die Familie hieß ursprünglich ‚Luder‘. Erst ab etwa 1512 schrieb der Augustinermönch seinen Namen in der heutigen Form – abgeleitet von dem griechischen Wort eleutherios („der Befreite“); befreit durch Christus. Aber der Freiheitsbegriff war für Luther ein gänzlich anderer als für uns Heutige oder auch für die meisten Generationen nach ihm und vor uns.

In Halle wohnte Luther bei Justus Jonas, der ihn die ganze Reise hindurch bis nach Eisleben begleitete. Der Mitstreiter hatte in Halle die Reformation eingeführt, nachdem Luthers Erzfeind, Erzbischof Albrecht von Brandenburg, aus seiner Residenzstadt verjagt worden war. „Wider den Abgott zu Halle“ hatte Luther einst erbittert gekämpft, und gemeint war mit dieser Anrede die umfangreiche Reliquiensammlung des Erzbischofs, gegen die Luther jetzt auch während seines verlängerten Aufenthaltes wegen des Saale-Hochwassers in der Hallensischen Marktkirche wetterte, im Zusammenhang mit einer Predigt über die Bekehrung des Paulus. Dass der Erzbischof im Vorjahr gestorben war, machte ihn nicht weniger zum Feind der reinen evangelischen Lehre, wie sie Luther verteidigte. Schlimm genug, dass sich in solchen Repräsentanten der Papstkirche wie Albrecht von Brandenburg die geistlichen und weltlichen Machträume auf eine unheilvolle Weise vermischten. Aber er musste sich eigentlich aktuell gar nicht so aufregen, denn die Reliquiensammlung, Sinnbild der Abgötterei, war längst außer Reichweite – überführt in die Aschaffenburger Residenz des Mainzer Erzbischofs.

Luthers letzte große Schrift war ebenfalls im Vorjahr erschienen, „Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet“, und das war eine letzte große Abrechnung mit dem sogenannten Heiligen Stuhl, in der Martin Luther nicht nur theologisch, sondern auch dezidiert historisch argumentierte, um zu belegen, dass der Primat des Papstes keinerlei biblische Grundlage habe und auf einer im Grunde willkürlichen Setzung beruhe. Auch die Sache mit der Schlüsselgewalt des Petrus-Nachfolgers war nach seinem Dafürhalten ein bewusstes Missverständnis einer Stelle in der Heiligen Schrift, die einschlägig interpretiert worden war. „Sehr leicht ists zu beweisen“, so fängt er an, „daß der Papst nicht der Oberste und das Haupt der Christenheit sei, oder Herr der Welt, über Kaiser, Konzile und alles, wie er in seinen Drecketalen (!) lügt, lästert, flucht und tobt, so wie ihn der höllische Satan treibt. Denn er selbst weiß wohl, und es ist so klar wie die liebe Sonne – aus allen Dekreten der alten Konzile, aus allen Historien und Schriften der heiligen Väter, des Hieronymus, Augustin, Cyprian und aller Christenheit, die vor dem ersten Papst, genannt Bonifatius III., gewesen ist –, daß der römische Bischof nicht mehr als ein Bischof gewesen ist und noch sein sollte.“ Luther weist darauf hin, dass es die Päpste in Rom erst seit den Zeiten des Kaisermörders Phokas gibt; vorher gab es keine Päpste, sondern nur Bischöfe von Rom. Dass ein weltlicher Herrscher den Bischof von Rom zum Papst erhöhte, spricht in seinen Augen schon für den unrechtmäßigen Tatbestand selbst, war dies doch ein durchaus kontingentes Ereignis, das mit göttlicher Erwählung absolut nichts zu tun hatte, und als solches war es auch jederzeit in einem säkularen Sinne zu widerrufen. Es handelte sich bei dem Besteller aber auch nicht um irgendeinen weltlichen Herrscher in einer Ahnenreihe, sondern der Überlieferung nach, wie auch Luther sie kannte, war Phokas, Kaiser des Oströmischen beziehungsweise Byzantinischen Reichs, eine Ausgeburt von Despotismus und Grausamkeit, nebenbei auch der erste erfolgreiche Usurpator der byzantinischen Geschichte. Fakt war: Die Päpste waren die Kreaturen eines kaiserlichen Despoten, und als solche traten sie im Laufe der Jahrhunderte, wie Luther auch beispielhaft vorführt, ein einschlägiges und beachtliches Erbe an. Diesen Machtanspruch der römischen Bischöfe aber gebe es nicht. Luther führt den Kirchenvater Hieronymus als Zeugen an, der von der Gleichheit aller Bischöfe sprach. Die biblische Schlüsselmetapher, auf die sich die Petrus-Nachfolge der römischen Kirche berufe, sei rein spirituell zu verstehen, als Schlüssel zum Glauben, zur Seligkeit, zur Vergebung der Sünden. Mit dem Bauen seiner Kirche auf den Felsen meine Christus nichts anderes als „den allgemeinen christlichen Glauben“. Luther legt dar, wie diese Schlüssel zum Himmelreich, die „Macht, Sünde zu binden und zu lösen, nicht den Aposteln und Heiligen zur Herrschaft über die Kirche gegeben sind, sondern allein den Sündern zum Guten und Nutzen.“ „Deshalb handelt es sich hier nicht um eine weltliche Gewalt, durch welche die Bischöfe sich über die Kirche brüsten und herrschen können, sondern eine geistliche Gewalt, den Sündern zum Guten und Heil gegeben, daß sie dieselbe bei den Bischöfen und bei der Kirche suchen und finden können, so oft es ihnen not tut, wodurch die Sünder selig und nicht die Bischöfe Herrn und Junker werden sollen.“

Es kam aber nun leider anders in der Geschichte, und nachdem die Päpste die Macht über die Kirche gewonnen hatten, mussten sie, so Luther, eine nachträgliche Legitimierung dafür erbringen, nicht vom Kaiser noch von Konzilien, sondern von Gott selbst zu dieser Oberhoheit berufen zu sein. Entsprechend interpretierte man die Stellen in Matth. 16,18 f. von den Schlüsseln zum Himmelreich beziehungsweise Joh. 21,15–17: „Weide meine Schafe“. Auf diese Weise habe man also den Teufel fürchten und ehren, anbeten und ihm sogar dienen gelernt, und zwar unter Gottes Namen, denn der Teufel selbst habe das Papsttum gestiftet, mit all seinen lasterhaften Begleiterscheinungen, und das alles trage noch das Etikett: römische Kirche, was eine Blasphemie sei, habe doch der erste römische Papst, Gregor I., ein frommer, gottesfürchtiger Mann, der sich aber nur als Bischof von Rom verstand, die Bezeichnung eines episkopus universalis für sich dezidiert abgelehnt. Was sich dann weitervererbt habe, sei das römische Sodom, nichts weiter. Rom sei kein Ehrenname mehr. „Sondern als päpstisch, spitzbübisch und teuflisch mußt du es verstehen, daß der Papst den Namen der heiligen römischen Kirche aufs schändlichste und lästerlichste braucht und damit seine Bubenschule, Huren- und Hermaphroditenkirche meint, des Teufels Grundsuppe.“ Abgesehen davon wisse man gar nicht genau, ob Petrus tatsächlich in Rom war oder ob er in Rom begraben liege. Er selbst habe vergeblich versucht, das in Rom auf seiner Pilgerreise in Erfahrung zu bringen. Auch habe Rom im Vergleich zu anderen Orten gar nicht über die Maßen viele Märtyrer gehabt, und ganz sicher habe Rom keine große Schule und keine herausragende Zahl großer Gelehrter hervorgebracht wie etwa Antiochia oder auch Alexandria, das zwar von keinem Apostel gegründet wurde, aber eine weit bedeutendere Kirche besessen habe als Rom, vor allem aber eben eine bedeutende Schule, aus der große Gelehrte hervorgingen. Oder das nordafrikanische Hippo, „eine Stadt, vielleicht so groß wie Wittenberg“, die habe einen großen Bischof gehabt, nämlich den Kirchenvater Augustin, und der habe mit seiner Gelehrsamkeit weit über den Erdkreis gewirkt, mehr als alle römischen Päpste und Bischöfe auf einem Haufen. Also in summa: Nicht Frömmigkeit oder Gelehrsamkeit habe den Ausschlag gegeben bei der Gründung einer, biblisch durch nichts gerechtfertigten, römischen Universalkirche mit den bekannten Rechtsbefugnissen über alle anderen Kirchen, sondern eine rein machtpolitische Willkür, und somit verkörpere sie ein der christlichen Botschaft nachgerade gegenläufiges Wertesystem. Im Papsttum und in allen Dekretalen gehe es im Wesentlichen darum, dass der Papst allein der Größte, Oberste, Mächtigste sei, „dem niemand gleich sei, den niemand urteilen noch richten solle.“ Dabei habe Christus gesagt (Matth. 20,25ff.): „Wer groß sein will unter euch, der sei der Geringste, und wer der Vornehmste sein will, sei euer Diener, gleichwie ich gekommen bin, nicht daß man mir dienen solle, sondern ich unter euch bin als ein Diener.“ Papst und Papsttum seien ein „Teufelsgespenst“, „aus Lügen, Gotteslästerungen, wie dem Teufel aus dem Hintern geboren.“ „Darum ist auch aus dem Papsttum nichts Gutes gekommen, sondern Zerstörung des Glaubens, Lügenden, lästerliche Abgötterei, unser eigenes Werk, auch Zerrüttung weltlichen Standes, Mord und aller Jammer, dazu so schändliche Unzucht, wie sie jetzt zu Rom öffentlich vor Augen ist; wofür Bistümer und alle Güter der Christenheit, schier auch der Könige dazu, geraubt wurden. Was hätte nun der Papst wohl verdient, der aus diesem seligen und tröstlichen Spruch vom Glauben Christi einen solchen Greuel und Wust aller Lügen und Abgötterei gemacht hat? Er gehört in jenes Gericht, alle Pein auf Erden wären viel zu gering.“ Das einzige Haupt der Christenheit, so Luther, sei der Sohn Gottes, Jesus Christus, und der habe Brief und Siegel, dass er nicht irren könne. Er brauche keine Dekretalen und keine Bischofssitze, und er sei weder an Rom gebunden noch an irgendeinen weltlichen Ort.

Damals Hippo, und jetzt Wittenberg. So dürfen wir den Reformator verstehen. Es gibt also doch noch Hoffnung für die auf teuflische Pfade geführte Menschheit in der verderbten Papstkirche. Doch Luther weiß, dass er sein Ziel nicht erreicht hat und dass seine Kraft vielleicht nicht mehr hinreichen wird, um seine Dinge in diesem Leben zu Ende zu führen. Immer noch gibt es den Papst. Immer noch muss er kämpfen – gegen Teufelswerke und Abgötterei, gegen Gottlosigkeit, falsche Lehrmeinungen, falsche Mächte und falsche Priester, also in summa: gegen den Fürsten der Welt. Im letzten Absatz der Schrift vermerkt der Autor: „Ich muß aufhören, ich mag nicht mehr in dem lästerlichen, höllischen Teufelssdreck und Gestank wühlen.“ Und: „Wer Gott reden hören will, der lese die heilige Schrift, wer den Teufel reden hören will, der lese des Papstes Dekrete und Bullen.“ Ausnahmsweise setzt Luther auch nicht ‚Amen‘ ans Ende seiner Schrift, sondern: „Weh dir, Papst!“ Sein letztes Wort an den Antichristen.

Letzte Worte richtete Luther auch noch einmal an die anderen beiden Feinde des Evangeliums, also der ganzen Christenheit, an die Türken und an die Juden. Das hat er in seinen letzten Schriften getan, und das tat er in Äußerungen in seinen letzten Tagen und Wochen. Als er auf seiner letzten Reise durch das Dorf Rissdorf kurz vor Eisleben kam, in dem viele Juden lebten, da hatte er im Nachhinein die Idee, am Zielort angekommen, dass diese ihn „hart angeblasen“ hätten, als sein Wagen das Dorf passierte. An Käthe schrieb er: „Es ging mir ein solcher kalter Wind hinten zum Wagen hinein auf meinem Kopf durchs Barett, als wollt’s mir das Hirn zu Eis machen.“ Und: „Wenn Du wärest da gewesen, so hättest Du gesagt, es wäre der Juden oder ihres Gottes Schuld gewesen.“ Das bezog sich freilich auf die mutmaßliche Sicht seiner Frau, mit der er sich hier offensichtlich nicht völlig identifizierte. Luther selbst nahm aber in den letzten Jahren seines Lebens ebenfalls eine entschieden feindliche Sicht auf die Juden ein. Seine letzten Schriften über die Juden sind geradezu Hetzschriften. Angefangen hatte alles aber ganz anders. Der Augustinermönch Martin Luther forderte in seinen publizistischen Anfängen sogar die Obrigkeit und so auch die Christen im Ganzen zu Toleranz und Annahme der Juden auf, und zwar mit dem Argument, in Anlehnung an die Abrahamsverheißung liege es doch im Bereich des Möglichen, dass die Juden, wenn auch vielleicht nur einige von ihnen, zu Christus bekehrt würden. Er hegte lange die Hoffnung, im Zuge der reformatorischen Aufbruchstimmung durch die Neuentdeckung des Evangeliums die Juden in großer Zahl mitnehmen und zur Konversion animieren zu können. Sie seien doch, so Luther 1523 in seiner Schrift „Daß Jesus ein geborener Jude sei“, Jesu Blutsverwandte, die Gott vor allen Völkern ausgezeichnet und die er sogar mit der Bibel betraut hatte. Durch die Papstkirche und ihre „Eselsköpfe“ sei ihnen dieser Zugang zum Evangelium verschlossen gewesen, nun aber hätten sie die Chance, mit seiner Hilfe das helle Licht zu erblicken. Dass das nicht eintrat, verdross ihn zutiefst. Vielfach tatsächlich mitgerissen von der Aufbruchstimmung der Reformation, vollzogen die Juden vielmehr eine Erneuerungsbewegung in den eigenen Reihen, und so blieb die erwartete Konversionswelle aus – zu Luthers Verdruss. Im Gespräch mit rabbinischen Gelehrten, die ihn 1525/26 in Wittenberg aufsuchten, hatte Luther dann das bedrohliche Gefühl, er solle „judaisiert“ werden, und irgendwann traute er auch den Konvertiten nicht mehr, auch denen nicht, die sogar bei ihm studiert hatten. Seine späten Schmähschriften gegen die Juden gehen indessen ganz wesentlich zurück auf die Lektüre der Schriften konvertierter Juden, die ihrem abgelegten Glauben mit einer Art retrospektivem Selbsthass begegneten. So warnte der jüdische Konvertit Antonius Margaritha 1530 die Christen vor dem „Gebetsfrevel“ der Juden und ihren christenfeindlichen Praktiken. Ihr anmaßendes Erwählungsbewusstsein führe zu immer größerem Hochmut, der noch bestärkt werde, wenn man ihnen Duldung, also eine wirkliche wohlwollende Toleranz zukommen lasse. Um den Zorn Gottes gegen die Juden zu mildern, bleibe nur die Maßnahme der Zwangsarbeit, strenge Zucht, was in diesem Falle ein Akt der Barmherzigkeit sei; Schadensbegrenzung sei es in jedem Fall. Luther übernahm diese Ansicht zur Gänze in seinen Spätschriften über die Juden, und wenn er 1543 in „Von den Juden und ihren Lügen“ die Juden als rachsüchtig, blutdurstig und geldgierig charakterisierte, deren Trachten unter anderem darauf ausgerichtet sei, die christliche Jugend durch ihren Irrglauben zu verführen, dann war das nicht unwesentlich inspiriert von den Schriften getaufter Juden. Die „barmherzigen“ Zwangsmaßnahmen, die Luther in Anlehnung an den Sekundärautor vorschlug, gingen aber noch etwas weiter und waren eigentlich darauf angelegt, den Juden ihre Existenzgrundlage in einer christlichen Gesellschaft vollends zu entziehen: Ihre Synagogen sollten niedergebrannt und ihre Häuser sollten zerstört werden, sodass sie gezwungen sein würden, wie die Zigeuner in Scheunen und Ställen zu hausen, ihren Rabbinern solle man das Lehren bei Androhung der Todesstrafe verbieten, ihren Händlern solle man das Wegerecht entziehen, und die Geldgeschäfte (das „Wuchern“) solle verboten werden. Die jungen, kräftigen Juden solle man, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen, zu körperlicher Arbeit heranziehen, und selbstredend müsse man ihnen allen dann auch ihre Gebetsbücher wegnehmen, in denen ohnehin nur Abgötterei gelehrt werde. So Martin Luther. In seinen letzten Predigten forderte er von der Kanzel der Eislebener Andreaskirche die Mansfelder Grafen ausdrücklich dazu auf, die Juden aus ihrem Herrschaftsgebiet zu vertreiben, die bislang unter dem Schutz der Grafenfamilie standen.

Was die Türken anging, also die Feinde von außen, so entschloss sich Luther erst relativ spät zu einer umfassenden Äußerung, und zwar eigentlich erst, als die militärische Gefahr durch die türkischen Eroberungszüge in Europa virulent wurde und seine Stellungnahme auch politisch gefragt war. In seiner Schrift „Vom Kriege wider die Türken“, die im April 1529 erschien, also noch vor der Belagerung Wiens durch die türkischen Truppen im September desselben Jahres, macht Luther die mit einigem unbehaglichen Staunen durchsetzte Feststellung, wenn es auch große Reiche und große Eroberungen in der Geschichte gegeben habe, so sei doch keines innerhalb kürzester Zeit durch Raub und Mord so groß geworden wie das Osmanische Reich des türkischen Sultans. Luther erklärt sich diesen Tatbestand aus dem Koran, den er unter anderem in der lateinischen Textfassung des florentinischen Orientmissionars Ricoldus de Monte Crucis gelesen hatte. Ursprünglich eigentlich aufgeschlossen gegenüber orientalisch-islamischem Denken – die islamische Spiritualität hob er zum Beispiel lobend hervor oder die im Islam propagierte züchtige Lebensweise, die einige Lichtjahre entfernt war von der allgemein verbreiteten Lebensweise der katholischen Geistlichkeit, wie er sie ja auch kannte –, stieß er bei der Koranlektüre, durch Ricoldus de Monte Crucis vermittelt, auf eine brutale Welteroberungslehre, die er ohne Weiteres mit den militärischen Erfolgen des Sultans Suleiman in eine Korrelation brachte. Die Gotteslehre mit dem klar akzentuierten Auftrag, die Welt mit dem Schwert zu unterwerfen, sah er da umgesetzt, und seiner Meinung nach steckte hier natürlich ebenfalls der Teufel dahinter, wie bei der Papstkirche, wie bei den Wiedertäufern und anderen „Schwärmern“, wie bei den Juden und wie bei den Heiden. Da die Muslime aber Jesus als Sohn Gottes verleugneten, waren sie schon für diesen Tatbestand Feinde des Christentums und als solche eben nach Luthers Auffassung mit dem Teufel im Bunde. Kreuzzugsgedanken, wie sie zu seiner Zeit noch gelegentlich aufflammen mochten, hat Luther stets abgelehnt. Er war aber sehr wohl der Meinung, dass hier und jetzt gegen die Sultansheere ein Verteidigungskrieg notwendig sei, und dieser sei anzuführen von Kaiser „Carolus“ (auf der weltlichen Seite) sowie vom „Herrn Christianus“ (auf der geistlichen Seite). Was Letztere anging, da mochten Gebete und Buße helfen, ein Insichgehen. Überhaupt waren ja die Türkenkriege vielleicht eine Bestrafung Gottes für die sündhafte Christenheit, die nicht fromm genug war und kein gottgefälliges Leben führte. Die altgläubige Seite sah das mitunter auch so, aber für sie war auch das Luthertum und waren auch alle Ketzerauswüchse eine Gottesstrafe für eine sündhafte Menschheit. Kurz und gut: Man müsse dem Antichristen Trotz bieten und im Übrigen hoffen, man sei und bleibe in Gottes Hand. Niemals dürfe aber wieder, so Luther, in Christi Namen ein Krieg ausgehen. Die Kriegsführung sei grundsätzlich und auch ausnahmslos eine weltliche Sache, in diesem Fall der Verteidigung durch die Heere des römischen Kaisers.

Die exorbitanten Erfolge der türkischen Heere führt Luther übrigens unter anderem auf die muslimische Lebensweise zurück, die ein größerer Garant für Militärerfolge zu sein schien als die Lebensweise im christlichen Abendland (nicht zuletzt auch der Söldnertruppen aus Deutschland). „Sie trinken nicht wein, sauffen und fressen nicht so, wie wir thun, kleiden sich nicht so leichtfertiglich, bawen nicht so prechtig, prangen auch nicht so, schwören und fluchen nicht so, haben großen, trefflichen gehorsam, zucht und ehre gegen ihren kaiser und herrn, und haben yhr regiment eusserlich gefasset und im schwang, wie wirs gerne haben wolten ynn Deutschen landen.“ Sultan Suleiman, auch genannt Suleiman der Prächtige, stand mit seinen Truppen am 27. September 1529 vor Wien. Drei Jahre zuvor hatte er in der Schlacht von Mohács einen Teil Ungarns erobert, was zur Entwicklung der österreichisch-ungarischen Monarchie führte. Das Luthertum konnte dem Sultan eigentlich nur zupass kommen, war es doch ein weiterer Beweis für die Zerstrittenheit der abendländischen Welt. Gute Voraussetzungen für einen Welteroberer. Suleiman musste dennoch nach wochenlanger Belagerung infolge heftiger Gegenwehr unverrichteter Dinge aus Wien wieder abziehen. Sein Vorstoß von außen hatte dann aber auch einen gewissen Einfluss auf die uneinigen Europäer und ihre unsäglichen Religionsstreitigkeiten, war Kaiser Karl V. doch nach der Belagerung Wiens notgedrungen bemüht, eine gewisse Einigkeit zu erzeugen, damit dergleichen in seinem Reich nicht wieder vorkam. Um die Unterstützung der protestantischen Reichsstände für die Verteidigung zu gewinnen, machte er ihnen weitreichende Konzessionen, was 1532 zum Nürnberger Religionsfrieden führte. So hatte die Türkengefahr auch eine einigende Komponente für das alte und häufig krisenhafte Europa.


Kaiser Karl V. (1500–1558), unbekannter Künstler nach Tizian, um 1603.

Für Martin Luther war der Antichrist überall gleichermaßen am Werke, ob nun in Gestalt der Türken, der Juden, der Papstkirche oder all der anderen zahlreichen Ungläubigen. Seine letzten Lebensjahre tragen zunehmend die Züge eines Endkampfes gegen alle, getragen von der immer stärker werdenden Angst, seine evangelische Lehre werde sich gegen ihre zahlreichen Feinde am Ende nicht durchsetzen können, mit fatalen Folgen für das Seelenheil der Christusgemeinde. Das alles stand im Rahmen seiner eschatologischen Endzeitbetrachtungen sowie im Rahmen der Vorstellung, dass der „Fürst dieser Welt“, der allgegenwärtige Teufel, Gottes und sein offenbar höchst persönlicher Gegenspieler, am Ende doch siegen könnte, wenn er, Martin Luther, nun zu schwach wurde, um das Feld zu verteidigen. Dass der Gegner das Feld behält; diese Gefahr war für Martin Luther immer gegeben. Und als der Augustinermönch Martin Luther in seinem Turmstübchen des Wittenberger Konvents vor nahezu dreißig Jahren auf die Stelle im Römerbrief stieß, die schließlich seine sola fide-Lehre begründete, war dies das vorläufige Ende eines jahrelangen verzweifelten Ringens. Er war ins Kloster gegangen, um Antworten auf seine Fragen und Ängste zu finden, und als er schließlich die Erkenntnis erlangte, der Weg zur Gnade erfolge allein durch den Glauben und nicht durch Verdienste, da war dies für ihn mit einer großen Gewissheit und Klarheit verbunden, ohne dass dieses Ringen aber jemals ganz aufhörte. Bis in seine letzten Predigten in den Eislebener Tagen wird das ganz deutlich.

Bis Luther auftrat, war Deutschland ein weitgehend ketzerfreies Terrain. Es gab andere europäische Gegenden, in denen der römischen Kirche schon vor Jahrhunderten durch Alternativmodelle Konkurrenz gemacht wurde, nicht aber Deutschland, dessen Bewohner als arbeitsam und als fromm galten, ihren jeweiligen Landesherren treu und untertänig ergeben. Den Ruf nach Erneuerung im Sinne des apostolischen Urchristentums und der unmittelbaren, authentischen Christusnachfolge hatte es in der Geschichte des Christentums indes immer gegeben – je mehr die Kirche sich als Machtinstitution von diesen christlichen Ursätzen und Initiationen entfernte. Die Gründung des franziskanischen Bettelordens durch Franz von Assisi im frühen 12. Jahrhundert ist dafür beispielhaft. Noch früher datiert ist die Kirchenreform von Cluny im 10. und 11. Jahrhundert. Cluny war im Mittelalter das größte Kloster des christlichen Abendlandes und das spirituelle Zentrum der Zeit. Hier und da stand die Forderung nach einer Loslösung der Kirche und erst recht des Mönchswesens von der Sphäre der weltlichen Macht, mit der diese spätestens seit der Zeit Karls des Großen aufs Engste verwoben war. Diese mittelalterlichen Reformbestrebungen ereigneten sich aber alle noch innerhalb des Systems. Sie stellten nie die Institution selbst infrage, ihr Selbstverständnis, ihre Verfassung, ihre Glaubensgrundlagen und ihre Praktiken. Das geschah erst im geistig äußerst regen und offenen 12. Jahrhundert und dann wieder zwei bis drei Generationen vor Martin Luther. Eine sehr frühe Ketzerhochburg wurde der Süden und der Südwesten Frankreichs. Die Katharer, eine der größten religiösen Laienbewegungen des Mittelalters, mit Vorläuferbewegungen unter anderem in Orléans und Toulouse, siedelten sich hauptsächlich im Languedoc (Okzitanien) an, wo sie vier Diozösen gründeten und vom okzitanischen Adel gestützt wurden, der sich auf diese Weise vom französischen Königreich abgrenzen konnte. Die Katharer lehnten das Alte Testament ab und beriefen sich vor allem auf das neutestamentliche Evangelium. Ihrer Meinung nach war es inakzeptabel, dass ein allmächtiger und ewiger Gott die bestehende materielle Welt mit all ihren Unvollkommenheiten geschaffen haben sollte. Ein solcher Gott konnte nur ein vom Himmelreich abgefallenes Wesen sein, ein Luzifer gewissermaßen, ein gefallener Engel. Auch glaubten die Katharer nicht an die Menschwerdung Gottes. Die katharischen Priester (Männer und Frauen!) predigten in der Volkssprache und legten ebenso viel Wert auf die lebendige Auslegung und Verbreitung des Evangeliums wie die Waldenser, die dann tatsächlich von der Nachwelt mit einigem Recht das Prädikat „Vorreformatoren“ erhielten. Von den Katharern abgeleitet ist auch das deutsche Wort „Ketzer“. In einem immerhin zähen Kampf, da diese Gegenkirche sich mächtig ausgedehnt hatte und sich auch militärisch als wehrhaft erwies, wurden die Katharer um 1340 endgültig von der päpstlichen Inquisition ausgerottet.


Der türkische Sultan Suleiman der Prächtige (1495–1566), venezianischer Maler aus dem Umkreis Tizians, um 1530/40.

Unmittelbarer Vorgänger Luthers und, wenn man so will, ein Bruder im Geiste war der Prager Gelehrte Jan Hus und die von ihm initiierte Hussitenbewegung. Hus selbst, der 1415 in Konstanz als Ketzer verbrannt wurde, berief sich auf den Oxforder Theologen John Wyclif, der den politischen Machtanspruch des Papstes bestritt, die Bibel als einzige Autorität in Glaubensfragen bezeichnete und eine Gnadenlehre verbreitete, die der Luther’schen (später entworfen) sehr ähnlich war. Luther kannte anscheinend weder die Schriften John Wyclifs noch die von Hus, als er zu seinen reformatorischen Durchbrüchen kam. Den „Tractatus de ecclesia“ des Jan Hus las er erst im Rahmen seiner Dispute mit dem Ingolstädter Theologen Johannes Eck, worauf er bekennen musste: „Wir sind alle Hussiten.“ Da der Böhme auf dem Scheiterhaufen geendet ist, obwohl man ihm auch – so wie ihm, Luther – freies Geleit zugesagt hatte, war die Nähe zu ihm und ein öffentliches Bekenntnis für seinen Nachfolger auch nicht sonderlich vertrauenerweckend. Ein neues Frömmigkeitsideal hatte sich aber auch im 14. und 15. Jahrhundert im Nordwesten Europas entwickelt. Der niederländische Buß- und Reformprediger Geert Grote predigte eine neue Innerlichkeit in der Glaubenserfahrung, verbunden mit einer tätigen und helfenden Liebe in der Nachfolge Christi. In Grotes Geburtsstadt Deventer stand das Haus der „Brüder vom gemeinsamen Leben“, zu denen aber auch Frauen gehörten. Hier wurde meditiert und gepredigt, diskutiert und gemeinsame geistliche Lektüre gepflegt. Das Ganze hatte große Ähnlichkeit mit dem später von Luther postulierten Priestertum aller Gläubigen und propagierte (wie Luther) eine individuelle Gotteserfahrung. Hier ist auch ganz interessant, dass Martin Luther als Vierzehnjähriger selbst eine Zeitlang eine solche Schule der ordensähnlichen „Brüder vom gemeinsamen Leben“ besucht hat, und zwar in Magdeburg. Die devotia moderna zog weite Kreise in Europa, bis nach Italien und Spanien, verbreitete sich aber, ausgehend von den Niederlanden, vor allem im Rheinland und im Elsass. Auch der Gründer des Jesuitenordens Ignatio de Loyola wurde davon inspiriert – wie man ja überhaupt heute auch von einer katholischen Reformation spricht.

Auf der Insel – es wurde schon angedeutet – war man, wie schon so oft, auch in punkto reformatorische Lehren und Umtriebigkeiten in der theologisch-akademischen Welt früher zugange als auf dem Kontinent. Der bereits erwähnte Oxforder Theologe John Wyclif, der lange Zeit unbehelligt, mit beträchtlichem Rückhalt in der Bevölkerung und zeitweise sogar mit der Unterstützung des Königs seine progressiven, im Grunde Rom-feindlichen Lehren vertrat, nahm verblüffend vieles von dem vorweg, was die lutherische Reformation später in Fakten goss. Wyclif übte Kritik an der römischen Kurie und bestritt den politischen Machtanspruch des Papstes. Christus allein, so Wyclif, sei das Oberhaupt der Kirche, Wahrheit und Richtschnur gebe ausschließlich die Bibel. Auch den Ablasshandel kritisierte John Wyclif. Macht ereigne sich einzig und allein durch die göttliche Gnade. Was den englischen König Edward III. für Wyclif erwärmte, war die Tatsache, dass der „doctor evangelicus“ einen Primat der weltlichen Herrscher über die Kirche aus seinen theologischen Lehren ableitete. Das kam dem König zupass, und es bezeichnet zugleich einen roten Faden durch die lange Geschichte der englischen Reformation bis hin zu Heinrich VIII. und seinen Nachfolgern. König Edward versuchte herrscherlichen Profit aus den Lehren Wyclifs zu schlagen, und er setzte seinen „doctor evangelicus“ ein, um Klagen gegen den Heiligen Stuhl, unter anderem wegen vermeintlich unrechtmäßiger Zahlungsforderungen seitens Roms zu erheben. Einer der Vorwürfe, die auch Teil von Wyclifs fundamentaler Papstkritik waren, lautete Simonie, Ämterschacher. Beflügelt von seinen Unterhandlungserfolgen, ging Wyclif noch weiter und nannte den Papst schließlich den „Antichristen“. Gefährlich wurde es für ihn aber erst, als er die Transsubstantiationslehre ablehnte, als seine Kritik also nicht mehr die Machtansprüche von Papst und Kurie, sondern die Sakramente berührte. Bezeichnenderweise war dies rund einhundertfünfzig Jahre später dann auch der Punkt, an dem König Heinrich VIII. die Umtriebe eines Martin Luther geißelte – einige Jahre bevor er dann selbst eine widerwillige Reformation initiierte. Wyclif also verlor einen Großteil seiner Ämter und wurde aus dem Universitätsdienst entlassen, lebte aber ab 1383 unbehelligt auf einer kleinen Pfarrstelle in Lutterworth/Leicestershire, wo er unter anderem die Bibel ins Englische übersetzte. Schon die Tatsache, dass man ihn da in Ruhe leben und wirken ließ, obwohl er von erzbischöflichen Gerichten verurteilt und von Rom schon vor Jahren mit einem Ketzerprozess bedacht worden war, der aber aufgrund seiner Protektoren und seines Ansehens sowie aus Angst vor einem Volksaufstand im Sande verlief, ist bezeichnend genug. Im Königreich England würde man die reformatorischen Kerngedanken von monarchischer Seite noch einmal gut brauchen können, und man hatte dann eine traditionsreiche Anknüpfungsmöglichkeit im eigenen Land; die kontinentalen Anleihen hielten sich damit in Grenzen.

Dass in Deutschland ein Mönch auf der Suche nach einem gnädigen Gott seinem Orden und seinem obersten Bischof in Rom, der sich als Stellvertreter Christi auf Erden verstand, die Gefolgschaft verweigerte und das seit Jahrhunderten etablierte System aus den Angeln hob, ist nur die prominenteste Einzelgeschichte der europäischen Reformationen, weil sie tief ins Geflecht staatlicher, territorialer, machtpolitischer, klerikaler, gesellschaftlicher und kultureller Interessensphären hineinreichte und dadurch Epoche machte; epochal wurde sie eben auch durch ihren glücklichen Ausgang. Denn im Grunde war es eine Ungeheuerlichkeit, bislang einmalig in der Geschichte: Ein unbelehrbarer Ketzer wurde von seinem Landesfürsten vor der Überführung nach Rom geschützt, er erhielt mehrfach öffentliches Gehör, eine Bühne geradezu, wenn man den Wormser Reichstag betrachtet, und als dann nicht nur die Exkommunikation durch den Papst, sondern auch die kaiserliche Reichsacht ausgesprochen war, nach wiederholter Weigerung des Betreffenden zum Widerruf seiner Lehren, da wurde diese nirgends vollstreckt, weil der Landesfürst, für dessen Untertan sie gedacht war, sie de facto niemals erhielt und sich daher auch nicht verpflichtet fühlte, die Sache innerhalb seines Territoriums zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn zu vollziehen. Der Kaiser haderte später mit seiner Entscheidung von einst, den Fall Luther nicht weiter verfolgt zu haben. (Vielleicht war es auch zunächst nur eine Nachlässigkeit, weil andere Dinge gerade dringlicher waren, und dann war einfach der passende Zeitpunkt verpasst.) Dass er damals den Luther nicht umbrachte, so Karl V. am Ende eines langen Regentenlebens, habe dazu geführt, dass die ketzerischen Krebsgeschwüre sich überall ausbreiten konnten, trotz schärfster Maßnahmen der Inquisition in seinem Riesenreich. Das hätte er verhindern können, so Kaiser Karl. Aber da war es tatsächlich zu spät. Der Kurfürst von Sachsen hingegen – von der Nachwelt „Friedrich der Weise“ genannt – protegierte Luther nicht aus theologischem oder persönlichem Wohlwollen. Er blieb bis zum Lebensende katholisch, und seinem splendiden Theologieprofessor an der von ihm, Friedrich, gegründeten Wittenberger Universität, der zu so großer Berühmtheit gelangte, ist er wohl – außer beim Reichstag in Worms – nie persönlich begegnet. Indem er aber von Anfang an allen Beteiligten klarmachte, dass der Fall Luther nach Landesrecht zu behandeln sei und nicht nach römischem Kirchenrecht, betonte Friedrich auch die Souveränität und die Ständefreiheit der deutschen Reichsfürsten. Günstig für Luthers Sache war in diesem Zusammenhang die territoriale Zersplitterung im Heiligen Römischen Reich, die demzufolge komplexe Rechtslage durch unterschiedliche Interessensphären und Befugnisverquickungen, ausgehend vom immerwährenden Dualismus zwischen Kaiser und Reichsständen. In einem zentral regierten Nationalstaat wie England, Frankreich oder Spanien wäre der Ketzer umgehend seinem inquisitorischen Schicksal entgegengegangen. Dass am Ende so viele Reichsfürsten dem Luthertum beitraten, hatte viel mit diesen regionalen Autonomiebestrebungen zu tun, denen Luthers Reformation neuen Schwung gab, da sich die Fürsten auf diese Weise von der päpstlichen und kaiserlichen Zentralgewalt emanzipierten. Zu Beginn der Angelegenheit um den widerborstigen Mönch im sächsischen Kurfürstentum wollte Papst Leo X. den sächsischen Kurfürsten, Luthers Landesherrn, nicht verärgern, da er ihn als Alternativkandidaten für den Kaiserthron vorgesehen hatte. Als die Kaiserwahl schließlich doch für den Habsburger Karl V. entschieden war, hatte Friedrich von Sachsen genügend diplomatische Volten vollzogen, dass sich auch Habsburg und Rom in der Luthersache nicht mehr offen gegen ihn stellten. Nicht nur Gott schützte also die Mission Martin Luthers – je nach Sicht auf die Dinge –, sondern auch einige weltliche Mächte und eine ganze Reihe glücklicher Umstände.

Das war lange her. Der Reformator, der seine eigene evangelische Landeskirche gegründet hatte, mithilfe der Landesfürsten, auf die er sich bei seinem Unterfangen ziemlich weitgehend verließ, war zu einer Institution geworden, und zwar weit über Deutschland hinaus. Die Landkarte der Konfessionen, wie wir sie heute deutschlandweit und europaweit kennen (der katholische Süden und der protestantische Norden), entstand nicht ganz so naturgemäß, wie es im Rückblick gerne gesehen wurde, sondern war ganz häufig die Folge relativ zufälliger macht- und geopolitischer Konstellationen. Offiziell gab es nun zwei Konfessionen im christlichen Abendland. In Deutschland, wo das Motto galt: Cujus regio, ejus religio, führte dieses Nebeneinander-Bestehen der Konfessionen gewissermaßen zu einem frühen gelebten Pluralismus, im Gegensatz zu den von einer einzigen Religion getragenen Nationalstaaten, wie es ja auch unter anderem die Bedingung der Kleinstaaterei im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation war, die Luthers Erfolg möglich machte, allein schon durch die Realität einer quasi-Pressefreiheit, konnte man doch in den verschachtelten Kleinstaaten den Druck der kursierenden Schriften großflächig kaum kontrollieren. Trotz einiger Vorläufer und der früheren Initiationen in anderen Ländern wurde am Ende Deutschland das Land der prominentesten Reformation. Unter anderem liegt das wohl auch an der Halsstarrigkeit ihres Repräsentanten, die auch im Endkampf der letzten Jahre, Monate, Wochen und Tage zweifelsohne noch nicht aufgebraucht war.

In Unterrissdorf, kurz vor dem Ziel, Eisleben, erlitt Martin Luther im Wagen einen Schwächeanfall, einen leichteren Herzinfarkt. Die zweieinhalb Wochen, die er in seiner Geburtsstadt im Dienste ‚seiner‘ Mansfelder Grafen verbrachte, fühlte er dann auch so manches Mal den Tod an die Tür klopfen. „Ich bin hie zu Eisleben geboren und getauft“, äußerte er in den letzten Eislebener Tagen, „wie, wenn ich hier bleiben sollte?“ Er hatte Quartier genommen im Haus des Stadtschreibers Johann Albrecht am Markt, und er predigte mehrmals in dieser Zeit in der Andreaskirche, wo er auch noch zwei junge Pfarrer ins Amt einführte. Die Verhandlungen in der gräflichen Angelegenheit verliefen zähfließend, aber am Ende erfolgreich. Da es dem Schlichter nicht gut ging, erschien er immer nur ein bis zwei Stunden auf dem gräflichen Schloss, und das auch nur alle zwei bis drei Tage. Er ereiferte sich ein letztes Mal über die Juristen, die „Ränkeschmiede“ seien, „Sophisten“, also auch „schlechte Christen“, wie er früher schon einmal gesagt hatte. (Letzteres war wahrscheinlich bereits ein Bonmot vor Luthers Zeit.) Er musste das wissen, denn er hatte ja in seinem ersten Leben die Juristerei studiert, auf Wunsch seines Vaters. „Der Vater ist der Sohn eines Bauern aus Möhra gewesen, jener zog mit Weib und Sohn nach Mansfeld und ist ein Hüttenmann geworden“, so Martin Luther, auf seine Herkunft zurückblickend und auf den Bergmann und Unternehmer Hans Luder. Wenigstens war dem Sohn die Versöhnung mit seinem Vater, den er enttäuscht hatte mit seinem Klostergang, noch zu dessen Lebzeiten möglich geworden. Mehrmals in seinen letzten Predigten in der Andreaskirche zu Eisleben sprach Luther vom großen Widersacher, dem Teufel. Nicht zuletzt stand der große Versucher auch für die Gefahr, Opfer der eigenen Selbsterhöhung zu werden. Je weiter man indessen im Glauben voranschreite, da war sich Luther ganz sicher, umso stärkeres Arsenal fuhr der Weltenfürst auf, Luzifer, der gefallene Engel. Aber er ist ein Todesbote, so weiß er, und Gott ist das Leben.


Luthers Totenmaske, abgenommen von Wilhelm Furtenagel, 1546.

Da er am 17. Februar einen erneuten Schwächeanfall erlitt, ließ Luther die abschließenden Vertragsverhandlungen mit den Grafen von den anderen Schlichtern, darunter auch Justus Jonas, ausführen. Er spürte eine Enge in der Brust, Schmerzen und Atemnot, nahm aber dennoch später an der gemeinsamen Abendmahlzeit teil, in der gewohnten Runde der Freunde. Nachts ließ er die Stube einheizen, weil er anfing zu frieren, derweil das Engegefühl in der Brust wieder schlimmer wurde. Seine beiden jüngeren Söhne Martin (vierzehn) und Paul (dreizehn), Justus Jonas, der Schlossprediger Coelius und seine Wirtsleute versammelten sich noch in der Nacht um sein Krankenlager. Weil aber das Engegefühl in der Brust ihn so quälte, lief er zwischendurch unruhig in der Stube hin und her. Dann rief man die beiden Ärzte der Stadt, und selbst der Graf und die Gräfin erschienen persönlich am Sterbebett Martin Luthers. Der Schlossprediger Michael Coelius berichtet: „Nachdem wir ihn mit Lavendelwasser, Rosenessig und anderen Stärkungsmitteln eingerieben haben, fing er an zu beten.“ Justus Jonas berichtete diese letzten Szenen später haarklein der harrenden Öffentlichkeit, da alle wissen sollten und wollten, wie Luther starb: friedlich und in Gottes Hand, nicht, wie es eventuell kolportiert werden sollte, mit den Flüchen und Qualen der Ketzer. Laut Justus Jonas bezogen sich Luthers letzte Worte auf Jesus Christus: „Den hab’ ich geliebt, den hab’ ich bekannt, den lieb’ ich und den ehre ich für meinen lieben Heiland.“ Außerdem fand man auf seinem Schreibtisch in der Eislebener Stube eine Notiz mit folgendem Wortlaut: „Die Heilige Schrift meine niemand genug geschmeckt zu haben, wenn er nicht hundert Jahre mit den Propheten die Kirche regiert hat. Deshalb ist es ein schwer zu fassendes Wunder 1. mit Johannes dem Täufer, 2. mit Christus, 3. mit den Aposteln. Du versuche nicht diese göttliche Aeneis zu erforschen, sondern beuge dich nieder und bete ihre Spuren an. Wir sind Bettler, hoc est verum.“ Der ganze Text war auf Lateinisch geschrieben; nur der Satz: „Wir sind Bettler“ auf Deutsch. Ohne Rosenkranz, ohne Anrufung der Heiligen und ohne die Letzte Ölung wurde der Sterbende von den anwesenden Geistlichen nur mit Gebeten begleitet. Der Tod infolge eines Herzinfarkts trat zwischen zwei Uhr und drei Uhr in der Nacht auf den 18. Februar ein. Justus Jonas, der Hallische Reformator und langjährige Weggefährte, hielt am folgenden Nachmittag in der Andreaskirche die Leichenpredigt, nachdem man den Leichnam unter Glockengeläut und begleitet von zahlreichen gräflichen Herrschaften in den Chor der Kirche getragen hatte. Der Verstorbene selbst wäre vermutlich lieber in Eisleben, in der Heimat begraben worden, aber der sächsische Kurfürst bestand darauf, ihn nach Wittenberg überführen zu lassen. Kein elender Ketzertod mit Flüchen und Höllenschwefel, wie ihn vielleicht seine Gegner erwarteten, hatte hier offenbar stattgefunden, sondern, so scheint es, ein ruhiges Sterben „in Christo“; und ein bescheidener Satz begleitete dieses Sterben am Ende eines eher unbescheidenen Lebens: „Wir sind Bettler, das ist wahr.“

Matth. 16,18 f.: „Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen./Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.“

König Heinz und Junker Jörg

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