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Die Ölmühle

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Vielleicht wäre es doch nicht so schlecht, im Frühjahr so eine weite Reise zu machen, überlegte sich Johann, als er über die Hochfläche in Richtung Gillersdorf lief. Die Sonne stand hoch am Himmel, der Himmel war zartblau, und die ersten Vögel sagen zaghaft frohe Frühlingslieder. Fast so frei wie ein Vogel könnte man sich da fühlen, überlegte der junge Mann. Einmal heraus aus der engen Werkstatt, stattdessen frische Luft und vor sich der weite Horizont. Möglicherweise war es doch nicht so schlecht, einmal aus Großbreitenbach wegzukommen. Einerseits war ihm auch ein bisschen bange vor den vielen Menschen, mit denen er es auf seinem Weg zu tun haben würde. Denn die Buckelapotheker versuchten natürlich auf ihren weiten Wegen immer möglichst viele Stationen zu besuchen, um ihre Waren anzubieten und gar zu verkaufen.

So viel gab es zu überlegen, dass für Johann die Zeit wie im Flug verging, weil sich seine Füße wie von selbst bewegten. Schon so oft war er diesen Weg gegangen, dass er ihn sowieso beinahe im Schlaf bewältigt hatte. Und jetzt zog es ihn schon allein Sophies wegen mit Macht weiter. Kurz vor Gillersdorf ging er von Großbreitenbach aus gesehen geradeaus weiter in Richtung Friedersdorf. Er hätte auch durch das kleine Dorf Wildenspring laufen können, in dem die schöne Ritterburg immer wieder eine besondere Sehenswürdigkeit war. Aber für sie hätte her heute sowieso keinen Blick gehabt. Früher hatte Johann diesen Weg oft gewählt, auf Rat seines Vaters hin. Aber da kannte er Sophie noch nicht näher. Die Gleichaltrige hatte sich meist bescheiden bei der Mutter aufgehalten und war dieser bei Hausarbeiten zur Hand gegangen. Dann allerdings war einmal der Müller, ihr Vater, nicht da gewesen. Da hatte ihm Sophie das Öl in kleine Fläschchen abgefüllt, und die beiden waren länger miteinander ins Gespräch gekommen. Es stellte sich heraus, dass Sophie ihrem Vater oft bei der Verarbeitung des Öls zur Hand ging und sich mit vielem fast genauso gut auskannte wie dieser. Wäre da nicht der große Altersunterschied gewesen, hätte sich Johann fast an seine kleine Schwester Anna erinnert fühlen können, die sich auch schon so gut im Handwerk ihres Vaters auskannte.

Damals war Johann gleich von Sophies gewinnendem Lächeln bezaubert gewesen. Er stellte auch weiterhin fest, dass Sophie gern lächelte und im Leben meist die positiven Seiten sah. Johann bewunderte die offene Art, mit der die junge Frau mit den braunen Haaren und den haselnussbraunen Augen auf alle Menschen zuging, die den Weg in das abgelegene Anwesen fanden. Wie gern hätte er Sophie mit auf seine große Reise nach Hamburg mitgenommen! Mit ihr wäre alles ganz leicht gewesen. Sie lernte so gern neue Menschen kennen und war so aufgeschlossen für neue Eindrücke. Ich werde mir einfach vorstellen, ich hätte Sophie bei mir, beschloss der junge Mann.

Unversehens fand sich Johann schon am Rande von Friedersdorf wieder und schlug rechts den Weg zur Ölschröte ein, die allein am kleinen Flüsschen unten unter dem Ort in einem idyllischen Tal lag.

Der junge Mann erschrak. Sonst war immer die Tür des Hauses einladend offen, heute aber sah alles abweisend und verschlossen aus. Schnell rannte er zum Haus hin. Es würde doch nichts passiert sein?

Heftig hämmerte er an die Tür. Zu seiner Erleichterung wurde schnell geöffnet, und Sophie stand im Türrahmen. „Wieso siehst du so traurig aus, Sophie?“, fragte Johann, als er in ihr sonst so fröhliches Gesicht sah. „Vater ist seit vorgestern krank. Gestern sah es so aus, als ob er nicht mehr lange zu leben hätte. Mutter und ich, wir haben die ganze Zeit an seinem Bett gewacht. Zum Glück scheint es ihm heute schon wieder etwas besser zu gehen. Er hat gerade ein bisschen Kräutertee getrunken. Zum Glück hatten wir noch welchen da. Jetzt ist der allerdings alle. Mutter und ich wissen gar nicht, was wir tun sollen. Wir dürfen Vater nicht alleine lassen. Er hatte sehr hohes Fieber und schwitzt sehr stark. Wir müssen dauernd sein Hemd wechseln, waschen und trocknen. Er hat immer gemeint, er braucht nur drei Hemden. Bei seiner Arbeit würde ihn ja sowieso niemand sehen. Wenn er einmal wieder gesund wird, braucht er unbedingt mehr Hemden. Der Tee schien ihm aber gut zu helfen, aber wir haben einfach keine Möglichkeit, nach Großbreitenbach zu gehen und bei einem Buckelapotheker Tee zu holen. Wir sind schon ganz verzweifelt.“

„Da kann ich etwas für euch tun“, strahlte Johann. „Mutter hat mir einen Tee für euch mitgegeben. Sie war gerade auf dem Markt und hat ganz frisch welchen bei der Frau eines Buckelapothekers gekauft. Der hilft deinem Vater sicher, denn er wirkt besonders bei Erkältungskrankheiten und Fieber. Bei uns ist Anna immer wieder davon betroffen und leidet dann sehr. Mutter musste sowieso auf dem Markt etwas erledigen und hat bei dieser Gelegenheit gleich Tee mitgebracht.“

„Ach, das ist ja wunderbar“, rief Sophie und rief nach hinten in die Stube hinein. „Mutter, der Johann aus Großbreitenbach ist da. Er hat ganz frischen Tee für den Vater mitgebracht.“

„Du bist ja sicher wegen etwas anderem da“, flüsterte Sophie. „Aber es wird einen ganz tollen Eindruck auf die Eltern machen, wenn sie denken, du bist wegen Vater gekommen. Sie wissen ja nicht, dass du wegen mir da bist. So bald hätte ich dich ehrlich gesagt auch nicht erwartet. Aber ich freue mich riesig! Ich glaube, Mutter ahnt inzwischen etwas, dass wir zwei uns mögen. Sie hat auch nichts dagegen. Aber bei Vater bin ich mir nicht sicher. Er hat gestern im Fieber phantasiert und ganz böse über dich gesprochen.“

„Na ja, man weiß ja, was die Leute im Fieber alles so reden. Da können sie sich hinterher oft gar nicht mehr daran erinnern, was sie gesagt haben, als sie so krank waren. Aber meine Mutter ahnt inzwischen auch etwas“, flüsterte Johann zurück. „Sie meint, wir sollen uns mit allem noch etwas Zeit lassen. Aber ich glaube, sie mag dich ganz gern. Sonst hätte sie mir schließlich nicht den Tee mitgegeben.“

„Mutter, ich gehe gerade mal frischen Tee machen“, rief Sophie. Wie selbstverständlich folgte ihr Johann in die Waschküche, wo noch ein großer Topf mit heißem Wasser über dem großen Feuer stand. Sophie nahm eine Tonkanne, füllte von dem Tee etwas hinein und goss heißes Wasser darüber. „So, der muss jetzt eine Weile ziehen. Inzwischen erzählst du mir einmal, wieso du heute hier bist.“

„Das hat etwas damit zu tun, weshalb Mutter heute unbedingt auf den Markt musste.“ Johann wusste gar nicht recht, wie er seine Erzählung beginnen sollte. „Und wieso musste sie auf den Markt, das musst du mir schon erklären“, meinte Sophie und sah ihn forschend an. „Sie wollte mit der Frau eines Buckelapothekers reden. Der soll mich ein Stück mitnehmen auf seiner nächsten Verkaufsreise. Stell ´ dir vor, Sophie, die wollen mich nach Hamburg schicken!“ Johann sah seine Freundin ganz verzweifelt an. Endlich durfte er jemandem zeigen, wie ihm wirklich zumute war.

Auch Sophie sah ganz erschrocken drein. Schließlich bedeutete ihr Johann auch eine ganze Menge. „Ist es denn für lange? Und wann musst du abreisen?“ „Nein, so schrecklich lange wird es sicher nicht dauern. In Hamburg selbst werde ich nur ein paar Tage zu tun haben, aber dazu kommt dann noch die Wegezeit. Und aufbrechen muss ich so bald wie möglich. Vater hat einen ganz großen Auftrag für ein Cembalo bekommen. Der Auftraggeber ist ein gewisser Johann Sebastian Bach, ein junger Musiker, der gerade in Arnstadt seine Stelle angetreten hat. Er war gerade in Hamburg und hat jetzt erst erfahren, dass er die Stelle in Arnstadt wirklich behalten darf. Es gab da wohl Probleme mit seinem Arbeitgeber, weil er seinen Urlaub so lange überzogen hat. Nun weiß er aber sicher, dass er die Stelle sicher hat. Nun hat er genug Geld für ein eigenes Cembalo und will so schnell wie möglich sein Instrument haben. Mein Vater ist ihm wohl über Verwandte von uns in Gehren empfohlen worden. Sein Onkel ist dort Organist, und wir haben ja auch Verwandte dort.“

„Ich verstehe aber nicht, wieso du dann auch nach Hamburg musst, wenn Bach doch erst selbst vor kurzem dort war. Da konnte er sich so ein Instrument doch schon ganz genau anschauen.“ „Ja schon“, antwortete Johann. „Aber da wusste er noch nicht, ob er die Stelle wirklich behalten darf. Deshalb hat er sich genau umgesehen, welches Instrument ihm vom Klang her am besten zusagen würde. Aber er ist ja schließlich kein Instrumentenbauer, deshalb hat er sich natürlich auch keine Bauanleitung mitgeben lassen.“

„Wieso kann er sich das Instrument nicht in Hamburg bauen lassen, wenn die ihm dort so gut gefallen?“, wollte Sophie wissen, die ihren Johann auch lieber bei sich in der Nähe hatte. Wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie Angst davor, dass er in Hamburg viele Mädchen sehen würde, von denen ihm womöglich eines besser gefiel als sie, ein einfaches Mädchen aus der Einsamkeit des Thüringer Waldes.

„Das wäre viel zu teuer, alles hierher zu transportieren. Man müsste ja alles wieder in Einzelteile zerlegen. Außerdem ist das Holz sehr empfindlich und könnte beim Transport leiden. Dann nützt der schönste Entwurf nichts. Außerdem wäre es viel zu aufwendig, wenn einmal etwas zu reparieren ist. Nein, da ist es viel besser, ich fahre hin, präge mir alles genau ein und zeichne es ab. Mein Vater hat schon recht, ich kann dort sicher eine Menge lernen. Es ist zwar sehr bequem, beim eigenen Vater zu lernen. Aber andere machen schließlich auch gute Instrumente, und es ist eine Gelegenheit, die ich vielleicht sonst nie wieder bekomme.“

„Ja, das kann ich jetzt schon irgendwie verstehen“, nickte Sophie. „Aber wie willst du denn nach Hamburg kommen?“ „Genau deshalb war meine Mutter ja heute morgen auf dem Markt. Da verkauft die Mutter von Sebastian, einem Schulfreund von Anna, Tees. Und ihr Mann ist Buckelapotheker. Wie es das Schicksal so will, ist er gerade für ein paar Tage zu Hause. Bald geht er aber wieder auf Tour. Seine Frau hat versprochen, ihn zu fragen, ob ich mit ihm mitgehen kann. Wenn ja, wäre das ganz ideal, denn er bereist immer Norddeutschland, und ich könnte fast bis Hamburg mit ihm mitkommen.“

„Ich wusste gar nicht, dass die Buckelapotheker so weit unterwegs sind“, staunte Sophie. „Kein Wunder, bei euch hier im Tal ist die Welt schon ziemlich klein, da bekommt ihr von der Welt draußen wenig mit“, lachte Johann. Er war sehr froh, dass Sophie ihn bei seinem Vorhaben unterstützte. „Doch, was meinst du, was die zu erzählen haben, wenn sie wieder zu Hause sind.“ „Dann bin ich schon ganz gespannt, was du alles erlebt hast“. Sophie schaute ihn zärtlich an.

„Sophie, ist der Tee endlich bald fertig? Das kann doch nicht so lange dauern!“ hörten die beiden die Stimme von Sophies Mutter. „Ach, den Tee hätte ich beinahe vergessen“, rief Sophie erschrocken. „Du, ich muss jetzt erst einmal zu den Eltern.“ „Ja sicher“, sagte Johann. „Aber vergiss nicht, mir noch ein paar kleine Flaschen Öl abzufüllen. Das war meine Ausrede für Vater, um hierherzukommen. Das mit dem Tee hat sich erst später mit Mutter so ergeben.“ „Bestimmt komme ich wieder zurück, ich will doch schließlich noch richtig Abschied von dir nehmen“.

Während Sophie sich darum kümmerte, ihrem Vater den Tee zu trinken zu geben, setzte sich Johann auf die Bank vor dem Haus, von der aus man einen schönen Blick auf die Talwiese hatte, die im Schein der Nachmittagssonne eine große Ruhe ausstrahlte. In diesem Licht nahmen sich die Bäume des umliegenden Waldes aus wie stumme Freunde, die das Leben in ihrer Mitte aufmerksam bewachten. Ewig hätte Johann so da sitzen können. Im quirligen Haushalt in Großbreitenbach blieb für so etwas viel zu wenig Zeit. Kein Wunder: in der Werkstatt gab es immer etwas zu tun, auch wenn gerade kein Auftrag anstand. Gleiches galt für die Küche und den ganzen Haushalt, denn eine fünfköpfige Familie wollte verköstigt und versorgt sein, genauso wie die Tiere und der Garten. Dank der Lage in der Ortsmitte kam oft jemand auf einen Schwatz vorbei. Oft kehrte erst lange nach Anbruch der Dunkelheit Ruhe ein, wenn der Vater und Magdalena über ihren Entwürfen saßen, die Mutter Kleidung flickte und Johann ein Püppchen für Anna aus den kleinen Holzresten schnitzte, die für keinen Teil des Instrumentes zu brauchen waren.

Auch jetzt hatte Johann solch ein kleines Stück Holz in der Hand, an dem er mit einem scharfen Messer arbeitete. Diesmal hatte er sich etwas besonders Schwieriges vorgenommen. Er arbeitete an einem kleinen Herz, das er seiner geliebten Sophie als Erinnerung und Beweis seiner Liebe da lassen wollte. Nun kann ich meine Liebste überraschen, dachte er glücklich, als Sophie noch nicht wieder zurück, er aber mit seiner Liebesgabe fertig war. Erst dann fiel dem jungen Mann auf, dass die Sonne nur noch seine Beine beschien, weil sie schon so tief am Horizont stand. Schon so spät, dachte er erschrocken. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, stand unvermittelt Sophie vor ihm. „Entschuldige, dass es so lange gedauert hat“, rief sie. „Vater wollte erst gar nicht trinken, aber Mutter und ich konnten ihn schließlich überreden. Aber er hat dann doch gemerkt, dass ihm der Tee gut tut. Er schwitzt zwar immer noch sehr stark, aber sein Kopf fühlt sich nicht mehr so heiß an. Er schläft jetzt ganz ruhig und fest. Wenn wir Glück haben, ist das Schlimmste überstanden.“

„Das wäre ja wunderbar“, freute sich Johann. „Und schau, ich war inzwischen auch nicht untätig. Das habe ich für dich gemacht, damit du mich nicht vergisst, wenn ich unterwegs bin. Weißt du, was das ist?“ fragte er die junge Frau. „Das sieht man doch, ein Herz“, lachte die. „Ja, aber nicht irgendein Herz“, erwiderte Johann und sah Sophie tief in die Augen. „Das ist mein Herz. Es gehört nur dir.“ Er legte das kleine Holzherz behutsam in ihre offene Hand, und sie schlug verlegen die Augen nieder. „Ich werde es hüten wie einen Goldschatz, das verspreche ich dir“, flüsterte sie.

„Na, ihr zwei Turteltauben“, rief Sophies Mutter von der Haustür her. „Sollte sich Johann nicht allmählich auf den Weg nach Hause machen, bevor es vollends dunkel wird? Sicher machen sie sich zu Hause schon Sorgen um dich.“

„Um Himmels willen, ich muss gehen“, rief Johann erschrocken. „Sophie, machst du mir bitte noch schnell die Ölfläschchen fertig? Hier sind sie.“ Sophie eilte in den dunklen Raum an der Seite des Hauses, wo das Öl aufbewahrt wurde. Im Nu war sie wieder da und hatte die kleinen Flaschen schon in Johanns Beutel untergebracht. „Was bin ich euch schuldig?“, fragte Johann Sophies Mutter.

„Heute überhaupt nichts“, antwortete die. „Du hast uns den heilsamen Tee mitgebracht. Wenn Vaters Fieber sich weiterhin bessert, ist das mit Geld überhaupt nicht aufzuwiegen. Es wäre nicht auszudenken, wenn Vater die Ölmühle nicht mehr führen könnte. Unsere beiden älteren Töchter müssen sich um ihre eigenen Familien kümmern, und Sophie und ich könnten sie nie und nimmer allein führen.“

„Ja, dann danke ich recht herzlich“, antwortete Johann. „Entschuldigt, wenn ich jetzt so schnell aufbreche. Aber ihr wisst, ich habe noch einen langen Weg vor mir. Ach, wie gern würde ich noch viel mehr mit euch reden. Aber das müssen wir auf ein andermal verschieben. Lebt wohl, lebt wohl“, rief er und nahm Sophies rechte Hand zum Abschied fest in seine beiden Hände.


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