Читать книгу Die Krebs-WG - Sara M. Hudson - Страница 10

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Dienstag.

Ellens Chemotherapie sollte beginnen. Die vergangen Tage hatte Ellen Josephine täglich im Krankenhaus besucht. Die Mitpatientin von Josephine musste nicht das Zimmer wechseln. Das Personal hatte es wohl einfacher gefunden, Josephine, obwohl sie nur eine gewöhnliche Kassenpatientin war, ein Einzelzimmer zu geben. „Siehst du, ich zahl weniger für meine Versicherung und krieg trotzdem die Privilegien eines Privatpatienten. Man muss nur exzentrisch genug sein“, frotzelte sie.

Mit einem mulmigen Gefühl betrat Ellen das Sprechzimmer des Onkologen. „Guten Morgen, Frau Bleckmann“, begrüßte sie der Arzt und stellte sich, mit einem freundlichen Lächeln, als Dr. Degaussi vor. Er konnte nicht viel älter als dreißig sein, hatte dichtes schwarzes Haar und einen sehr kräftigen Händedruck. Fast schrie Ellen auf, weil sie das Gefühl hatte, dass er ihr bei der Begrüßung die Hand zerquetschte. „Wie geht es Ihnen heute?“ Ellen schaute auf sein Namensschild, fragte sich, ob der Name italienisch sei und zuckte auf die Frage des Arztes nur mit den Schultern, ohne darauf zu antworteten. Ob sie sich diesen Namen merken konnte?

„Sie wirken angespannt. Das ist aber nichts Außergewöhnliches beim ersten Mal. Aber seien Sie beruhigt. Die erste Gabe dieser Art von Chemo vertragen die Patientinnen im Allgemeinen gut. Außerdem sind unsere Schwestern hier ein Top- Team. Sie sind hier in den allerbesten Händen.“ Ohne weitere Umschweife gab ihr Doktor Degaussi einige Formulare zum Unterschreiben und meinte dann: „Schwester Sina wird Ihnen alles zeigen. Sie sind heute in Zimmer drei, Stuhl vier und wenn der Blutdruck stimmt, können wir auch gleich loslegen. Die Medikamente stehen schon für sie bereit. Wir sehen uns nachher zur Visite nochmal.“

Ellen fühlte sich wie in dem Moment, als sie ihre Diagnose bekommen hatte: Sie hörte alles wie aus weiter Ferne. Als Schwester Sina sie durch den Gang führte und ihr erklärte, wo sie sich Kaffee und Tee holen könne, sich Kissen und Decken befanden und sie schließlich das Behandlungszimmer betrat, ergriff sie die Panik. Was machte sie nur? Wollte sie sich wirklich dieser Tortur unterziehen? Würde die Chemo überhaupt etwas bringen?

In Zimmer drei waren vier Sessel, von denen alle bis auf einen bereits belegt waren. Die Patientinnen waren unterschiedlichen Alters. Eine Frau war etwa in Josephines Alter, vielleicht auch ein wenig älter. Sie trug ein Kopftuch und sah äußerst blass und ausgemergelt aus. Die Frau in der Mitte war ungefähr so alt wie Ellen selbst. Auch sie war blass, hatte aber noch Haare. Oder war es eine Perücke? Es war schwer zu sagen. Ellen hatte im Internet gelesen, dass Perücken manchmal täuschend echt aussahen und sich die Nebenwirkungen der Chemo nur an den fehlenden Wimpern oder Augenbrauen erkennen ließen. Ellen hatte sich bereits einige online-Tutorials zu Schminktipps angesehen, um, wenn es so weit war, dieses sichtbare Zeichen zu kaschieren. Der Stuhl neben der Frau mit der Perücke war Ellens Stuhl. Sie nahm Platz und sah nach links. Dort schlummerte eine deutlich jüngere Frau in ihrem Sessel. Sie war höchstens 30, schätzte Ellen. Auf ihrem Schoss lag ein iPod. Sie hatte ihre Augen geschlossen, war in eine dicke, kuschelige Decke gehüllt und rührte sich erst, als Ellen sie schon einige Zeit angeschaut hatte. Eigentlich wollte sie nicht starren, aber sie konnte nicht glauben, dass eine so junge Frau hier saß und so elend aussah.

Langsam öffnete die junge Frau ihre grünen Augen und sah Ellen eindringlich an. „Na, das erste Mal heute? Ich habe Sie hier noch nie gesehen.“ Ellen schaute verlegen zur Seite. „Ja, das erste Mal.“

„Sie müssen keine Angst haben. Die sind alle sehr nett hier. Die Chemo ist echt ätzend, aber die Ärzte und das Personal sind toll.“ Gerade als Ellen etwas erwidern wollte, betrat eine Schwester das Zimmer. Sie lief zu der jungen Frau, die bereits an einem Tropf hing. „So, die Vorbereitung ist durch. Dann können wir mit der Chemo starten. Geht es Ihnen gut heute?“ Sie strich ihr liebevoll über den Handrücken.

„Na ja, geht so“, erwiderte die junge Frau und hustete schwach. „Ich merke schon, dass ich schwächer werde.“ Darauf antwortete die Schwester nichts, stellte den Tropf geschäftig ein und wandte sich dann an Ellen.

„Aha, ein neues Gesicht. Guten Tag, ich bin Schwester Jessica. Wir beginnen bei Ihnen erst einmal mit der Vorbereitung. Dabei fließen etwas Kochsalzlösung und ein begleitendes Medikament durch ihre Venen. Einen Port haben Sie noch nicht?“ Ellen hatte keine Ahnung, was ein Port war, naja, außer natürlich den, den sie mit Josephine getrunken hatte. Aber das war hier sicherlich nicht gemeint. „Äh, nein, ich glaube nicht“, sagte sie verunsichert. „Darf ich fragen, was das ist?“

„Klar, dürfen Sie! Sie dürfen alles fragen! Sie müssen ja wissen, was wir hier mit Ihnen machen. Also, ein Port ist ein dauerhafter Zugang zu Ihren Venen. Er wird unter die Haut eingepflanzt, zum Beispiel an Ihrer Schulter. Somit können wir Ihnen Infusionen geben oder auch Blut abnehmen, ohne ihnen sämtliche Venen zu zerstechen. Das ist eine tolle Sache, wenn man über einen längeren Zeitraum regelmäßig angepikst wird. Heute machen wir das mal ohne, aber ich würde Ihnen auf jeden Fall empfehlen, mit Dr. Degaussi über die Einsetzung eines Ports zu sprechen. Er wird in circa einer Stunde zur Visite kommen.“

„Wie lange werde ich denn hier sitzen?“ wollte Ellen wissen.

„Alles in allem dauert diese Art von Chemo circa zweieinhalb Stunden. Das ist relativ kurz. Manche sitzen hier wesentlich länger. Es ist immer eine gute Idee, sich etwas zum Lesen mitzubringen. Wir haben natürlich auch Zeitschriften hier. Aber die Zeit vergeht einfach wesentlich schneller, wenn man beschäftigt ist. Sie dürfen natürlich auch schlummern, wenn Ihnen nicht nach Lesen ist. In diesem Schrank sind Decken und Kissen, damit Sie es sich so gemütlich wie möglich machen können.“

„Danke, das hat mir Schwester Sina schon gezeigt“, sagte Ellen.

„Na dann wissen Sie ja Bescheid. Sollten Sie auf die Toilette müssen, einfach den Infusionsständer hier ausstöpseln und vor sich herschieben. Er piept dann zwar wie verrückt, aber da müssen Sie sich keine Sorgen machen. Das läuft trotzdem alles.“ Ellen musste sehr hilflos aussehen, denn schon fuhr Schwester Jessica fort: „Keine Sorge, das erste Mal ist immer verwirrend. Wie gesagt, Sie dürfen gerne nachfragen und unsere Frau Seidel hier“, sie deutete zu Ellens jungen Nachbarin, „Frau Seidel wird Ihnen bestimmt auch einige Fragen beantworten können. Sie ist sozusagen schon ein alter Hase hier, stimmt’s Frau Seidel?“ Wieder strich sie der jungen Frau liebevoll über die Hand. Müde nickend zwang diese sich zu einem Lächeln.

Als Schwester Jessica das Zimmer verlassen hatte, begann Frau Seidel: „Schwester Jessica hat recht, Sie dürfen mich gerne fragen, wenn Sie etwas wissen wollen. Ich bin seit fünf Jahren hier in Behandlung und habe so ziemlich alles an Chemos durch, was es momentan auf dem Markt gibt. Ich bin sogar schon länger hier als Schwester Jessica.“

Ellen war erstaunt. Fünf Jahre schien ihr eine unendlich lange Zeit für eine solche Krankheit. „Was für eine Art Krebs haben Sie denn? Sie sind doch noch viel zu jung.“ Mitleidsvoll schaute Ellen die junge Frau an.

„Tja, für Brustkrebs ist man nie zu jung. Wurde mit 25 diagnostiziert. Damals war er schon sehr weit fortgeschritten, aber sie haben ihn weitgehend wieder in den Griff gekriegt. Naja, bis vor acht Monaten. Er ist wieder ausgebrochen und scheint nun nicht mehr zu stoppen zu sein. Trotzdem will ich noch nicht aufgeben.“ Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee, der vor ihr auf dem Tisch stand.

„Heißt das, dass Sie…“ Ellen konnte es nicht aussprechen.

„Dass ich den Kampf verloren habe?“ vervollständigte Frau Seidel den Satz. „Ja, sieht so aus. Aber aufgeben wollen sie hier noch nicht und ich auch nicht. Ich denke, es würde für sie komisch sein, wenn eine ihrer längsten Stammkundinnen nicht mehr alle zwei Wochen hier wäre.“ Sie lachte und fuhr dann fort: „Ich heiße übrigens Isabell.“ Als sie Ellen die Hand entgegenstreckte, sah diese, wie dünn Isabells Arm und wie durchsichtig ihre Haut war.

„Ellen“, stellte sie sich vor, konnte aber nicht umhin, ihr einen mitleidigen Blick zuzuwerfen. „Freut mich, Ellen. Aber bitte, schau nicht so mitleidsvoll. Ich glaube das mag niemand gerne, der schwerkrank ist.“

„Nein, das mag niemand!“ Dieser Satz kam nicht von Ellen, sondern von jemand ganz anderem. Als Ellen und Isabell Richtung Tür blickten, stand Josephine dort im Bademantel und mit Infusionsständer und grinste schelmisch.

„Josephine! Was machst du denn hier?“ rief Ellen erstaunt.

„Dir etwas moralische Unterstützung bei deinem verrückten Vorhaben geben.“ Josephine setzte sich auf den Stuhl neben Ellens Sessel. „Läuft das Gift schon?“ fragte sie und schaute auf Ellens Infusionsständer.

„Ich glaube, das ist noch die Vorbereitung zur Chemo, die da durchläuft“ antwortete Ellen und blickte auf den Infusionsbeutel, der nun schon halbleer war.

„Dann kannst du noch schnell wegrennen“, sagte Josephine und deutete zur Tür.

„Warum sollte sie das tun?“, mischte sich Isabell in das Gespräch. „Sie ist hier in den allerbesten Händen.“

„Ja, in den Händen der Pharmaindustrie“, antwortete Josephine bissig und grinste.

„Warum sagen Sie sowas? Immerhin hat der Fortschritt der Medizin mir schon ganze fünf Jahre geschenkt.“ Isabell klang gereizt. „Wenn man selbst nicht betroffen ist, ist es schwer zu verstehen, was das bedeutet.“ Oh je, dachte Ellen. Das musste ein neuer Rekord sein. Josephine hatte es innerhalb von wenigen Sekunden geschafft, eine weitere Person zu verärgern. Offensichtlich waren sich die beiden, trotzdem sie regelmäßig hier in Behandlung waren, noch nie begegnet. Josephine beugte sich zu Isabell herab und sagte leise: „Ich bin betroffen Kindchen, oder meinst du, ich schiebe das Ding hier zum Spaß vor mir her?“ Sie deutete auf ihren Infusionsständer. „Dann wundert es mich umso mehr, dass Sie so reden“, antwortete Isabell etwas lauter. Die ältere Frau neben Ellen schaute neugierig zu ihnen hinüber.

„Josephine, bitte. Nicht jetzt! Ich bin gerade erst hier eingetroffen“, bat Ellen verzweifelt.

„Nichts für ungut, Kindchen“, sagte Josephine entschuldigend zu Isabell. „Es scheint, dass ich, wo immer ich hinkomme, Unfrieden verbreite. Ich werde künftig versuchen, meine vorlaute Klappe zu halten.“ Isabell drehte ihren Kopf zu Seite, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

„Ist ja echt nett, dass du mir einen Besuch abstattest“, begann Ellen leicht verlegen nach dieser peinlichen Episode. „Aber musst du dich immer gleich wie ein Elefant im Porzellanladen aufführen? Es gibt schließlich auch Leute, die der konventionellen Krebstherapie nicht so zynisch gegenüber stehen wie du.“

„Ja, das soll es geben“, antwortete Josephine und fuhr dann fort: „Hör mal, ich sollte eigentlich gar nicht hier sein. Die wollen mich noch ein paar Tage dabehalten, weil sich die OP Wunde entzündet hat. Ich wollte nur kurz reinschauen, um sicherzustellen, dass du nicht alleine bist. Aber du scheinst ja schon Anschluss gefunden zu haben.“ Sie deutete zu Isabell hinüber, die sich wieder ihre Kopfhörer aufgesetzt und die Augen geschlossen hatte.

„Das ist echt nett von dir“, antwortete Ellen. „Haben sie dir noch gar nicht gesagt, wann du wieder heim kannst?“

„Das kommt eben ganz auf die Infektion an und, wann das Zeug da wegkann.“ Sei deutete auf ihren Tropf. „Antibiotika. Aber wer weiß, vielleicht hab ich ja so einen multiresistenten Krankenhauskeim und dann hat sich das alles sowieso schnell erledigt.“

„Ach, Josephine. Jetzt red‘ doch nicht immer solch negativen Quatsch“, Ellen schüttelte den Kopf.

„Ja, ja. Du hast recht. Also, wenn ich nächste Woche raus sein sollte, kommst du dann mal bei mir vorbei? Die Adresse hast du ja. Freitag ist immer ein guter Tag. Wir können ja nochmal telefonieren.“

Mit diesen Worten erhob sich Josephine und lief zur Tür. Bevor sie den Raum verließ, wandte sie sich noch einmal an Isabell. „Tut mir leid, Kindchen, dass ich dich so verärgert habe. War nicht so gemeint. Ich bin manchmal einfach etwas trampelig.“ Isabell öffnete ihre Augen, lächelte schwach und sah Josephine noch hinterher als sie mit ihrem Infusionsständer aus dem Zimmer lief.

„Eine seltsame Freundin hast du da“, sagte sie dann mit schwacher Stimme.

„Ja, das kannst du laut sagen“, erwiderte Ellen mit einem Lächeln.




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