Читать книгу Die Krebs-WG - Sara M. Hudson - Страница 9

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Mit einem kleinen Blumenstrauß und einer Flasche Port in der Hand betrat Ellen Zimmer 211. Auf ihr Klopfen hatte sie keine Antwort erhalten. Sie trat trotzdem ein. Das Zimmer war leer, aber Josephines Sachen waren noch da, wo sie waren, als Ellen sie gestern verlassen hatte. Vielleicht war sie in der Cafeteria oder im Bad. Das Bett neben ihr war nicht frisch bezogen, was hieß, dass entweder noch immer kein Zimmer frei war, in das die neue Patientin ausweichen konnte, oder, dass sie es mit Josephine aushalten konnte.

Ellen stellte den Strauß in eine Vase und den Port auf den Nachttisch. Dann setzte sie sich auf einen der Stühle, die für Besucher gedacht waren und wartete. Sie nahm eine Haarspange aus der Handtasche und steckte ihre halblangen, kastanienfarbenen Haare nach oben. Dann begann sie ihre Tweedjacke zu entfusseln. Als nach zehn Minuten noch niemand eingetroffen war, schielte sie zum Nachttisch hinüber. Konnte sie es wagen, noch einmal das Bild genauer anzuschauen, auf dem Josephine mit ihrem Mann zu sehen war? Sie fasste sich ein Herz und öffnete die Schublade. Das Strickzeug lag, wie beim letzten Mal, auf dem Bild. Allerdings war das Knäuel nicht mehr aufgewickelt, sondern schon fast wieder verstrickt und zwar zum gleichen Stück, an dem Josephine gestrickt hatte, als Ellen das Zimmer mit ihr geteilt hatte. Sie war wohl nicht zufrieden damit gewesen, hatte es wieder aufgetrennt um neu damit zu beginnen, schlussfolgerte Ellen und schob es zur Seite. Darunter lag das Bild, das Ellen noch einmal genauer ansehen wollte.

Auf ihm hatte sich Josephine bei ihrem Mann untergehakt und lächelte mit dem gleichen schelmischen Lächeln in die Kamera, das Ellen mittlerweile auch von ihr kannte. Ihre Haare waren zu diesem Zeitpunkt halblang und sie war dezent geschminkt. Ihr schickes, marinefarbenes Twinset, der eng anliegende Rock und die hohen Absätze betonten ihre zierliche Figur. Um den Hals trug sie eine schlichte Perlenkette. Ihr Mann, wenn es denn wirklich ihr Mann war, war weniger elegant gekleidet. Seine braune Strickjacke sah schon etwas abgetragen aus und passte so gar nicht zu dem eleganten, konservativen Stil seiner Frau. Trotzdem war er noch sehr attraktiv für sein Alter. Ellen schätzte ihn auf um die sechzig. Er hatte volles, grau meliertes Haar, war schlank, mittelgroß und sah ein bisschen aus wie Sean Connery, fand sie. Das Paar stand vor einem stattlichen Boot. Sie mussten sich wohl in einem Yachthafen befinden, denn im Hintergrund konnte man die Konturen von weiteren Booten erkennen. Ob das Boot wohl ihnen gehörte? fragte sich Ellen, als sich plötzlich die Zimmertür öffnete und Ellen zusammenzucken ließ. Hastig schob sie die Schublade zu. Eine fremde Frau im Nachthemd betrat das Zimmer. Gott sei Dank, es war nicht Josephine, dachte Ellen. Es wäre ihr peinlich gewesen, wenn sie sie dabei erwischt hätte, wie sie in ihren privaten Sachen stöberte. Sie hatte nur noch einmal sehen wollen, wie Josephine vor ihrer Krankheit ausgesehen hatte.

„Guten Tag“, sagte Ellen etwas verlegen. „Wissen Sie wo Josephine, ich meine Frau Althoff, ist?“ Ellen erkannte in ihr sofort die Frau, die ihr gestern auf dem Gang begegnet war.

„Nein. Ich bin aber auch nicht gerade traurig darüber, dass sie nicht da ist“, erwiderte die Frau entnervt und setzte sich auf ihr Bett. Aha, dachte Ellen. Sie hat die Udo-Jürgens-Marotte schon am eigenen Leib erfahren müssen.

„Ich weiß, ich weiß. Sie ist gewöhnungsbedürftig“. Ellen lächelte und dachte daran, wie sie reagiert hatte, als sie vorgestern den ersten Kontakt mit Josephine gehabt hatte.

„Gewöhnungsbedürftig nennen Sie das? Ich würde es rücksichtslos nennen. Oder finden sie es normal, am laufenden Band „Griechischer Wein“ zu singen?“

„Griechischer Wein? Bei mir war’s hauptsächlich ‚Ich War Noch Niemals in New York‘, “ lachte Ellen in der Hoffnung, dass die Frau das auch lustig finden würde. Doch diese machte ihrem Ärger weiter Luft:

„Mein Gott! Sie waren auch mit der in einem Zimmer? Und Sie sind zurückgekommen, um sie zu besuchen? Das ist ja unglaublich! Ich kann es kaum erwarten, entlassen, oder zumindest verlegt zu werden. So kann man sich doch nicht erholen. Ich bin immerhin schwer krank.“

„Ich habe Sie gestern mit ihrem Mann weinend an mir vorbeilaufen sehen, als ich entlassen worden bin. Da habe ich mir gedacht, dass sie keine gute Diagnose bekommen haben. Brustkrebs?“

Die Frau schüttelte den Kopf und sagte dann nur kleinlaut: „Eierstockkrebs“. Dann begann sie zu schluchzen. Ellen kam es vor, als würde sie sich selbst beobachten. Sie empfand diese Szene wie ein Videoband, das in der Endlosschleife lief. Schließlich holte Ellen tief Luft, lief zu der schluchzenden Frau hinüber und legte tröstend den Arm um sie. „Metastasiert?“, fragte sie nach einem Moment der Anteilnahme.

„Weiß man noch nicht. Aber das mit dem Kind kann ich mir jetzt abschminken“. Ellen reichte ihr ein Taschentuch. Gestern hatte sie sie noch auf ihr eigenes Alter geschätzt, aber wenn sie von Kindern redete, konnte sie doch noch nicht so alt sein.

„Sie denken jetzt bestimmt, dass ich doch schon viel zu alt für Kinder bin.“ Ellen antwortete nicht und die Frau fuhr fort: „Mein Mann und ich haben uns erst vor zwei Jahren kennengelernt. Wir haben beide eine Ehe hinter uns und beide erwachsene Kinder. Wir wollten gemeinsam noch einmal von vorne anfangen und ein gemeinsames Kind haben. Als es nicht klappte, ging ich zum Arzt und dachte, dass es bestimmt damit zu tun hat, dass ich 44 bin. Der hat dann Krebs festgestellt.“ Sie schnäuzte sich ausgiebig und Ellen war einmal mehr darüber verwundert, wie offen manche Leute wurden, wenn sie verzweifelt waren. Sie kannten sich doch gar nicht und doch erzählte sie ihr ihre privatesten Dinge.

„Nun bin ich hier und muss mit meiner angeschlagenen Psyche diese Frau da ertragen. Ständig singt sie und wie sie über Krebs und übers Sterben redet… Einfach geschmacklos. Ich habe ja schon nach einem anderen Zimmer gefragt, aber die Schwester sagt, es wird erst morgen eins frei.“

„Ja, das kenne ich alles“, sagte Ellen und lächelte verständnisvoll. „Ich bin gestern entlassen worden, nachdem ich einen Tag und eine Nacht mit Josephine in diesem Zimmer verbringen musste. Mir ging es genauso wie Ihnen. Ich wollte mit meinem Schmerz alleine sein, wollte mich in Selbstmitleid flüchten und Josephine gab mir dazu keine Gelegenheit. Ihre Art, über das Leben, den Tod und den Krebs zu sprechen, ist tatsächlich etwas seltsam, aber ich muss sagen, sie gibt mir irgendwie Mut. Deshalb bin ich zurückgekommen.“

„Na, dann. Ich kann damit nichts anfangen“, antwortete die Frau verständnislos, holte ihr Smartphone aus dem Nachttisch, begann darauf herumzutippen und gab Ellen deutlich zu verstehen, dass dieses Gespräch für sie beendet war.

Als Ellen gerade gehen wollte, öffnete sich die Tür aufs Neue und Josephine, von einer Schwester begleitet, betrat das Zimmer. Sie sah etwas besser aus, als gestern.

„Schau mal einer an“, rief Josephine, sichtlich erfreut, Ellen zu sehen. „Du hast einen weiteren Rekord gebrochen: Du bist nicht nur die erste, die freiwillig bei mir im Zimmer geblieben ist, du bist auch die erste, die zurückkommt, um mich zu besuchen.“

„Hallo Josephine“, sagte Ellen und umarmte sie herzlich. Die Schwester, die Ellen auch kannte, schaute etwas verwirrt, verließ aber kurz darauf wieder das Zimmer, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass bei ihren beiden Patientinnen alles in Ordnung sei.

„Ich habe dir was mitgebracht“, sagte Ellen und deutete auf die Portflasche auf dem Nachttisch.

„Bist du verrückt? Den hättest du doch in eine Saftflasche umfüllen müssen. Wenn das die Schwestern sehen, krieg ich Ärger“, zischte Josephine.

„Man muss zu seinen Lastern stehen. Und darf man denn im Krankenhaus keinen Schlaftrunk nehmen?“ „Andere Patienten vielleicht. Aber mir kommen sie dann immer mit ‚in ihrem Zustand ist das nicht zu empfehlen, Frau Althoff‘. Ich denke mir dann immer: Was soll’s? Was kann schon passieren? Mehr als….“

„…sterben kann ich nicht“, ergänzte Ellen.

„So ist es“, bestätigte Josephine und goss sich gleich einen guten Schluck des Ports in ihr Glas.

Die Frau im Nebenbett tippte wild auf ihrem Smartphone herum und blickte immer wieder genervt zu den beiden hinüber.

„Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?“ fragte Ellen, die sah, dass die andere Patientin gerne ihre Ruhe haben wollte.

„Ja, gerne. Aber zuerst füllen wir das Zeug hier in meine Saftflasche und die nehmen wir dann mit“, antwortete Josephine mit einem Zwinkern.

Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster in der Cafeteria. „Warum bist du eigentlich schon wieder hier?“ wollte Josephine wissen. „Du bist doch gestern erst entlassen worden.“

„Mir ist die Decke auf den Kopf gefallen. Ich habe die ganze Nacht über Chemos und Brustkrebs recherchiert. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.“ „Und dann kommst du zu mir? Ich sagte dir doch bereits, was ich tun würde, beziehungsweise was ich nicht tun würde, aber das wolltest du nicht hören.“

„Ich bin total durcheinander. In vier Tagen soll es losgehen und nun bin ich hin- und hergerissen. Die Nebenwirkungen scheinen heftig zu sein. Auf der anderen Seite hänge ich am Leben, es war mir bisher gar nicht bewusst, wie sehr.“

„Das ist ganz natürlich. Jeder Mensch hat einen natürlichen Überlebenstrieb“, antwortet Josephine. „Wäre ja komisch, wenn du sagen würdest: Ich nehm die sechs Monate und kratz dann ab.“

„Aber gestern hattest du doch gesagt, dass…“

„Ich habe gesagt, ich würde dir zu den sechs Monaten ohne Chemo raten, weil ich die Nebenwirkungen kenne und weiß, wie man sich fühlt. Es gibt Tage, da sehnst du dir den Tod herbei, weil es dir so beschissen geht. Du liegst da wie ein Häufchen Elend, dir ist schlecht, du musst dich am laufenden Band übergeben, deine Finger und Zehen fühlen sich taub und kalt an, du siehst beschissen aus, weil deine Haare ausgefallen sind und alles, was du isst, schmeckt nach überhaupt nichts mehr. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist es, gut zu essen und zu trinken. Wenn du nichts mehr schmeckst, und keinen Appetit mehr hast, hat es meiner Meinung nach keinen Wert, wenn du ein paar Monate länger lebst. Nicht bei so einer Diagnose. Wenn es Chancen auf Heilung gäbe, sähe die Sache wieder anders aus.“ Josephine wartete auf Ellens Reaktion. Als keine kam, fuhr sie fort: „ Aber ich kann auch verstehen, wenn man denkt: Ich versuch’s. Vielleicht werde ich geheilt. Vielleicht gibt es gerade für mich eine Chance. Vielleicht bin ich der Wunderpatient, von dem die Medien berichten werden. Ich selber würde es nur nicht mehr machen. Das ist alles.“

Ellen schwieg. Ihre Gedanken spielten verrückt. Sie war gekommen, um einen konkreten Rat von Josephine zu bekommen, eigentlich wäre ihr noch lieber gewesen, wenn sie gesagt hätte: „Nein, das machst du nicht.“ Nun wusste sie immer noch nicht, was sie tun sollte.

„Hier, trink erst mal ein Schluck von diesem leckeren Saft“, grinste Josephine, und machte Ellens Glas halbvoll. Als Ellen immer noch nichts erwiderte, rief Josephine schließlich: „Kindchen, das ist alleine deine Entscheidung. Du musst damit leben können. Wie auch immer du dich entscheidest. Natürlich besteht jederzeit die Möglichkeit, die Chemo abzubrechen, wenn du nicht mehr kannst. Die Ärzte werden aber von dir erwarten, dass du sie durchziehst. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie nur den Tod als Grund für einen Abbruch akzeptieren würden und auch das nur sehr widerwillig.“ Sie kicherte vor sich hin. Ellen nahm einen kräftigen Schluck Port und sagte dann: „Danke. Ich glaube, du hast mir geholfen. Ich denke, ich habe mich entschieden.“ Josephine fragte nicht nach, für welche Variante und Ellen sagte es auch nicht. Diese Frau war schon eine seltsame Nummer, dachte sie, aber trotzdem ging es ihr nach diesem Gespräch wesentlich besser.

„Weißt du schon, wann du wieder nach Hause darfst?“ wollte Ellen wissen.

„Na, das wird schon noch ein paar Tage dauern. Ich bin ja erst gestern operiert worden“, meinte Josephine.

„Ich werde dich besuchen. Auch wenn du zu Hause bist“, versprach Ellen mit einem Lächeln.

„Das würde mich freuen, denn außer Port trinke ich auch gerne Champagner und Rotwein und alleine macht das nur halb so viel Spaß“, erwiderte Josephine mit einem verschmitzten Lächeln und goss sich noch etwas Port nach. „Ach ja, und das mit dem guten Essen hatte ich ja auch erwähnt, nicht wahr?“


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