Читать книгу Der Zauber des Denkens - Siegfried Reusch - Страница 13

Philosophie oder die Liebe zu einer nicht vorhandenen Frau

Оглавление

Wir haben uns hier in Teisendorf getroffen, um über das zu reden, was Philosophie ist. Drei Studenten und ein Philosoph der Praxis; das macht doch schon sehr den Eindruck des platonischen Dialogs. Dill als Sokrates? Ist Ihre Philosophie die des Sokrates?

Hoffentlich nicht! Ich bin erstens der Überzeugung, dass Sokrates als Verderber der Jugend zu Recht hingerichtet wurde, und weiterhin bin ich davon überzeugt, dass der sogenannte sokratische Dialog nicht im entferntesten ein Dialog ist. Außer ein paar Universitätsdozenten sagt niemand, dass es sich hier um echte Dialoge handelt. Jedes Boris-Becker-Interview ist dialogischer als ein sokratischer Dialog. Wenn unser Dialog hier so werden sollte, dann kann ich mich gleich in den Universitäten begraben.

Welche Kriterien muss ein echter Dialog erfüllen? Wollen Sie Sokrates noch überbieten?

Höchstens in der paradoxen Intervention, die Sokrates und insbesondere Aristoteles mit seinem Satz des ausgeschlossenen Dritten verhindern. In der Tat kann eine paradoxe Intervention als Überbietung genauso heilsam sein wie eine Verhinderung des kleinlichen Argumentierens – intelligenter ist sie sicher. Dialog ist für mich Unberechenbarkeit, Unvorhersehbarkeit, Spontaneität, Provokation, Widerspruch, Paradoxie.

Inwieweit geht es im dillschen Dialog noch um Wahrheit? Ist Philosophie für Sie Habermas oder Diskursethik plus Polemik?

Um Wahrheit geht es nur in einer einzigen Form – in ihrer Infragestellung! Ansonsten ist Wahrheit uninteressant. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Wahrheit inzwischen als „Gültigkeit“ und „Plausibilität“ verkleidet, weshalb ich befürchte, dass Herr Habermas und Herr Apel an ihrer Infragestellung in dieser Verkleidung nicht interessiert sind. Deshalb führen sie auch keine Dialoge im Geist der vorhin beschriebenen Risiken. Man muss den Mut haben, im Dialog Wahrheit verlieren zu können.

Heißt das nun wiederum nicht, die Wahrheit um einer besseren Wahrheit willen in Frage zu stellen?

Wahrheit ist immer schlecht, es gibt keine gute Wahrheit. Wahrheit ist etwas Totes, etwas Statisches und Gewalttätiges, Gemeines und Hinterhältiges.

Aber erheben diese Aussagen ihrerseits nicht auch wieder einen Wahrheitsanspruch?

Natürlich, aber für mich sind Widersprüche kein Problem; zu einem echten Dialog gehören Paradoxien. Man muss den Mut haben, den unseligen Satz des ausgeschlossenen Dritten über Bord zu werfen. Der Widerspruch ist keine Wahrheit, denn er ist ja immer die Wahrheit und zugleich ihr Gegenteil. In der Paradoxie dagegen löst sich der Widerspruch auf.

Wie stellen Sie sich dann zu dem sokratischen Satz: „Ich weiß, dass ich nichts weiß?“

Eine Lüge, eine ganz freche Lüge! Sie tut in einem nihilistischen Zeitalter, in dem jeder stolz darauf ist, nichts zu wissen, nichts zu sein, nur zu suchen, nur zu fragen und verstehen zu wollen, allen gut und niemandem weh.

Es gibt keinen herrschaftsfreien Dialog oder Diskurs. Es geht immer darum, wer gewinnt. Was ich sage, sage ich immer aus Eigeninteresse und nicht für die Leute, weil ich es für richtig halte. Ich will Recht haben, und ich will gewinnen. Es gibt immer einen Gewinner im Dialog – im Falle des bewusst Paradoxen ausnahmsweise zwei.

Wie kann denn ein solcher Dialog noch konstruktiv sein? Ist er nicht vielmehr sinnlos?

Dialog soll nicht konstruktiv sein. Das, was sich konstruktiv nennt, ist die Verhärtung von männlichen Denk- und Machtstrukturen. Es ist die Folge einer männlichen Lebensangst, deren Resultat sogenannte Erkenntnis ist. Welchen Wert soll denn zum Beispiel die Richtigkeit haben? Richtigkeit ist doch nur eine Funktion der Entscheidung von Macht. Computer zum Beispiel können nur rechnen, weil sie sich permanent zwischen null und eins entscheiden.

Kommen wir noch einmal auf Sokrates zurück. Was war denn das Verbrechen des Sokrates?

Sokrates verübte verschiedene Verbrechen. Ein Verbrechen war sicher das, in der Jugend die Illusion zu wecken, dass man durch rein kognitive Anstrengung und deren Regelmechanismen Macht gewinnen und das ersetzen könne, was damals schon Politik genannt wurde. Also eine kybernetische Utopie des Philosophenstaats.

Aber war sein Problem nicht eher das, dass er zu erfolgreich war?

Nein – aber es gibt ja von Woody Allen eine schöne Version des Todes des Sokrates. Dort ist es so, dass ihn seine Schüler in den Tod treiben. Sokrates sagt, dass er eigentlich gar keine Lust habe jetzt zu sterben, und darüber hinaus sei er in Sparta zum Essen verabredet, worauf seine Schüler ihn darauf hinweisen, dass es doch schließlich um die Wahrheit ginge, derentwillen man den Tod auf sich nehmen müsse. Sokrates sagt daraufhin, dass er es so absolut nicht gemeint hätte. Die Wahrheit – das zeigt dieser Dialog von Woody Allen – ist nur ein Mythos oder eine Ideologie jenes doppelten Missverständnisses, das man Philosophie nennt. Es handelt sich um ein philologisches und um ein soziologisches Missverständnis.

Bisher wurde Philosophie immer mit „Liebe zur Weisheit beziehungsweise Wahrheit“ übersetzt. Allerdings hatte sophia bei den Vorsokratikern vielmehr die Bedeutung eines Abwesenden oder, sagen wir genauer, einer Abwesenden. Sophia hat mit Weisheit oder Wahrheit im Prinzip überhaupt nichts zu tun. Das soziologische Missverständnis besteht darin, zu glauben, dass die Philosophen schlauer seien. Denn heute wissen wir, dass es keine Berechtigung dafür gibt, dass sich einige unter dem Titel des Philosophen als besonders schlau betrachten dürfen. Das hat natürlich mit dem Tod des Sokrates zu tun, da die Griechen vielleicht auch schon dieser Meinung waren. Die Philosophie hat dieses Missverständnis nur institutionalisiert.

Aber kann man es denn nicht auch so betrachten, dass der Philosoph derjenige ist, der nicht im Besitz der Wahrheit ist, sondern derjenige, der sich beständig darum bemüht, diese zu erreichen?

Aber das ist ja gerade das Schlimme. Subjektiv strebt doch jeder nach Wahrheit beziehungsweise glaubt jeder, das Richtige zu tun. Ist es überhaupt sinnvoll, nach Wahrheit zu streben? Was haben wir denn damit gewonnen? Philosophie ist die Liebe zu einer nicht vorhandenen Frau namens Sophia. Bevor wir die Sophia durch „Wahrheit“ oder gar „Weisheit“ ersetzen, sollten wir uns darüber wundern, dass bisher nur Männer diesen Titel für sich in Anspruch genommen haben. Frauen behelfen sich mit den Diotimas aus der Philosophiegeschichte und führen nur einen männlichen Diskurs fort. Sie philosophieren ausdrücklich nicht als Frauen, sondern als „Menschen“ oder „Subjekte“, aus Rollen heraus, die ihrerseits vollständig von der männlichen Philosophie vorgegeben wurden. Sprich: Es gibt bisher keine weibliche Philosophie. Und wenn es sie gäbe, bestünde sie in der Auflösung der Philosophie, die nichts weiter ist als eine im besten Fall selbstreflexive Tätigkeit des Mannes. Sie ist eine in Frage zu stellende Anmaßung, solange sie sich allgemein gibt. Sie ist aber auch eine große Chance, denn in keiner Wissenschaft erfahren wir mehr über den Mann, sein Denken, seine unterdrückten Gefühle und seine Ängste.

Warum fehlt dem Philosophen die Frau? Wofür steht die Frau?

Für das Abwesende, für das Fremde, dem „Mann“ nicht näher kommen kann. Das Andere ist aus anthropologischer Sicht für den Mann die Frau. Gott ist nur ein alternatives Anderes für den Fall, dass keine Frau vorhanden ist. Die Philosophie, die ja die abwesende Frau sucht, ist eine resignative Reaktion auf diese Abwesenheit: Vielleicht ist ja die Frau unauffindbar. Die Konsequenz heißt dann Homosexualität. Deshalb ist die männerbündische, homosexuelle Philosophie mit Sicherheit die selbstreferenziellste und ehrlichste, zugleich aber die verdorbenste, weil sie mit dem Ausschluss der Frau das Gelingen der Polis verhindert.

Wie kann ein Suchender, ein Student, das Abwesende – die Frau – finden? Was würden Sie jemandem empfehlen, der die Philosophie sucht?

Wer Philosophie sucht, sollte die Sophia suchen, nicht die Weisheit oder die Wahrheit. Noch besser ist es natürlich, direkt die Frau zu suchen. Sie, diese Andere, ist eine metaphysische Sache.

Auf wissenschaftlichem Wege kann er sie ganz bestimmt nicht finden. Der Platoniker wird sagen: „Ich will sie ja gar nicht finden“; wir nennen das dann „platonische“ Liebe. Aber selbst der Weg zur Weisheit führt nur über die Frau. Vielleicht ist die Weisheit ein Weib, schreibt Friedrich Nietzsche, das Gründe hat, sich nicht sehen zu lassen. Ein guter Grund wäre der Auftritt eines „Philosophen“.

Wenn ein Mann eine Frau gefunden hat, erübrigt sich die Suche nach der Sophia. Philosophie ist sozusagen eine Junggesellentätigkeit, die in der Universität als ewige Tertia institutionalisiert wird. In einer bestimmten Lebensphase kann es sehr hilfreich sein, sich mit der akademischen philosophischen Tradition zu beschäftigen. Ich kann jedoch immer nur hoffen, dass diese Phase vorübergeht. Man bleibt ja auch nicht sein ganzes Leben in der C-Jugend oder in der Rockband. Wer sein Leben lang nur in der Philosophie bleibt, ist gestört, wobei man in diesem Zusammenhang immer von der Störung der Beziehung von Mann und Frau sprechen sollte, sonst verfehlt man den Kern des Problems.

Ist Philosophie eine Therapie?

Wenn man damit meint, dass man sein Leben als Mann bewusst begleitet, dann kann sie eine Therapie sein.

Sie sprechen die Philosophie des Anderen an. Wie stehen Sie zur Philosophie von Emmanuel Levinas oder Martin Buber?

Das „Dialogische Prinzip“ ist einer von vielen männlichen Versuchen, das Andere zu abstrahieren. In der Theologie wird das Andere dann zu Gott. Diese Abstraktionen resultieren aus einer Angst der Männer vor der Frau.

Das Andere kann aber auch das „Denken des Außen“ sein, wie Michel Foucault es propagierte, im Grunde Astronautentum. In der Philosophie gab es zuerst die schwule Philosophie der Antike, dann kam der asexuelle, skurrile Hauslehrer wie René Descartes oder Immanuel Kant, bis dann endlich Nietzsche am Ende dieses Prozesses, den man Philosophiegeschichte nennt, sich nichts sehnlicher wünschte, als die Frau Lou Salome zu bekommen. Er bekam sie nicht. Aus dieser Enttäuschung heraus rekapituliert er die gesamte Philosophiegeschichte. Es reicht also völlig aus, Nietzsche zu kennen, um die gesamte Philosophiegeschichte zu kennen. Nietzsche hat die Philosophie als historischen Prozess abgeschlossen. Seine eigentliche Leistung besteht in der Aufhebung der Differenz zwischen Philosoph und Welt – sie besteht in der Umarmung eines Pferdes in Turin. Danach, so geht die offizielle Philosophiegeschichte, wurde er verrückt. Doch eigentlich passierte nichts anderes, als dass er von seiner männlichen Astronautenreise, die Philosophie hieß, in die Arme von Frauen zurückkehrte, die ihn die nächsten Jahre pflegten.

War es nicht vielmehr die Syphilis, die ihn in die Arme seiner Mutter und seiner Schwester zwang?

Wenn es wirklich Syphilis war, dann bliebe zu hoffen, dass er sie bei seiner vielleicht einzigen körperlichen Begegnung mit einer Frau bekam. Meines Erachtens blieb ihm das aber leider verwehrt. Wohl deshalb nahm er schließlich mit einem Pferd wenigstens irgendein anderes Lebewesen in den Arm. Wichtig ist dieser symbolische Akt, mit einem Tier zu verschmelzen, was für einen Philosophen das Schrecklichste wäre. Auf der Ebene eines Tieres zu landen, wo er doch so schlau sein wollte, und dann in die entmündigte Hilfsbedürftigkeit zurückzukehren, ist eine Konsequenz der Radikalität seines Denkens.

Die Umarmung des Pferdes ist für die Philosophie symbolisch vergleichbar mit der Kreuzigung Christi. Die Philosophie sollte einen Kult daraus entwickeln, Pferde zu umarmen.

Hat Philosophie auch eine überindividuelle Bedeutung? Steckt in der Philosophie auch eine verändernde Potenz?

Diese Illusion stimmt zum Glück nicht. Odo Marquard hat einmal gesagt: „Es kommt nicht darauf an, die Welt zu verändern, sondern sie zu verschonen“. Selbst in der DDR war der Einfluss der Philosophie so gering, dass sie gesellschaftlich keinen Schaden anrichten konnte.

Nehmen Sie zum Beispiel Sir Karl Popper. Es gab zwei wesentliche Leute, die sich auf ihn berufen haben, Alfred Herrhausen und Helmut Schmidt, aber das hatte auf ihre Politik nicht den geringsten Einfluss. Sie unterschieden sich in ihrem Handeln nicht von anderen, wie zum Beispiel Helmut Kohl oder Edzard Reuter. Das philosophische Gedankengut wurde immer nur als Rechtfertigung für ohnehin durchgeführte Politik herangezogen, wie zum Beispiel Karl Marx in der DDR oder Carl Schmitt von den Nazis. Politik wird von den Machthabern meist philosophisch begründet.

Dass Philosophie eine Auswirkung haben sollte, war ursprünglich die Idee meiner Philosophischen Praxis. Tatsächlich aber bekam eher die Auswirkung dieser Praxis eine Philosophie.

Wie sehen Sie denn dann die Philosophie der Aufklärung, die ja oft als Paradebeispiel der Wirkmächtigkeit von Philosophie angeführt wird?

Ich würde sie interpretieren in der Analogie zur Entwicklung der Atomkraft. Das heißt, man wollte eine Energiequelle finden, die die Bedürfnisse der Menschen befriedigt, aber man hat das Problem der Entsorgung vergessen. Genauso war es in der Aufklärung. Man hat Kräfte freigesetzt, Denkmobilität, das Wahlrecht, und ist nachher mit dem entstandenen Potenzial nicht mehr fertig geworden. Diese Überschüsse erleben wir heute zum Beispiel in Gestalt des Überkonsums, der Naturzerstörung und des Fundamentalismus. Man müsste alternative Energien entwickeln. Diese alternative Energie besteht in der Liebe zwischen Mann und Frau. Die Eigenart der weiblichen Philosophie ist, dass sie keine Diskurse will, dass sie immer bei der Infragestellung stehen bleibt. Wenn ich nicht zwanzig Jahre die Gefühlskälte und Gemeinheit der vermeintlichen Aufklärung in Berlin am eigenen Leib erfahren hätte, würde ich heute diese These nicht vertreten. Die Fragen nach der Wahrheit oder nach der Philosophie sind nur überlagerte, hinter denen sich immer nur die Frage nach der Beziehung von Mann und Frau verbirgt. Die eigentliche Aufgabe von Philosophie müsste es sein, die fundamentale Geschlechterfrage zu thematisieren, also über die Chance von Liebe und Begegnung, von Vereinigung und Zeugung aufzuklären. Es erstaunt mich, dass gerade die sich selbst für aufgeklärt haltende Gegenwartsphilosophie diese Frage ausklammert, obwohl hier doch die unmittelbarste und persönlichste Wirkung läge.

Denken Sie, dass die Vernunft im Leben eines Menschen eine Rolle spielt?

Ich befürchte das oft. Immer, wenn mir Gewalt angetan wird, stelle ich fest, dass das jemand ist, der vernünftig ist. Die Menschen, die Gewalt an anderen Menschen ausüben, sind vernünftige Menschen. Vernunft ist, wenn Menschen für alles, was sie tun, rationale Begründungen finden, mit denen sie es rechtfertigen. Die Folge der Aufklärung war, dass die Sprache immer auch zur Begründung von Gewalt dienen konnte. Man muss ja bedenken, dass wir heute nur noch Kriege zur Erhaltung des Friedens und nicht mehr zur Eroberung führen. Das sind die Folgen der Aufklärung – letztlich wurde die Vernunft erst durch die Aufklärung diskreditiert, so dass meine über- und zwangsaufgeklärte Generation immer mehr Freude daran gewinnt, die Entwertung der Begriffe ironisch vorzuführen.

Kann die akademische Philosophie nicht eine beratende Funktion einnehmen?

Wer in der Lage wäre, Wirtschaftsführern, Arbeitslosen oder Politikern einen vernünftigen Rat – und jetzt benutze ich einmal den Sinn des Wortes – zu geben, hätte sich nicht so lange an der Universität aufhalten dürfen. Ethikkommissionen sind etwas Lächerliches. Ich war selbst in solchen und habe dann durch Fachvorträge über die Arbeitszeitverkürzung bei VW überrascht. Ich habe auch einen Begriff für die akademischen Berater gefunden: Ethisches Sandmännchen.

Denken Sie nicht, dass es so etwas gibt wie ethische Probleme?

Ethische Probleme? Gibt es nicht. Die Ethik ist ein riesiges Missverständnis, denn subjektiv strebt doch jeder nach Wahrheit, beziehungsweise glaubt zumindest jeder, das Richtige zu denken und zu tun. Zeigt das nicht die Sinnlosigkeit der Ethik?

Ob jemand hilfsbereit ist oder ein KZ betreibt, in jeweils subjektiv bester Absicht, würde also objektiv auf der gleichen Stufe stehen?

Wir sind in Deutschland, also ist die KZ-Frage erlaubt. Ich antworte also: Ja, wer bester Absicht ist, steht objektiv auf gleicher Stufe. Die Frage ist, welche Konsequenz ich daraus ziehe. Sicher ist die Anerkenntnis des subjektiven Rechthabens eine Folge der Aufklärung. Wenn ich aber jemanden überzeugen soll, nämlich das, was ich für richtiger und politisch korrekter halte, sollte ich das nicht „Ethik“ nennen, sondern „Rhetorik“. Ich überzeuge nämlich nicht dadurch, dass ich mich selbst für besser und reflektierter halte, sondern durch meine rhetorischen Fähigkeiten. Es handelt sich um eine Machtkonkurrenz: Will ich meine Inhalte durchsetzen, brauche ich vor allem Rhetorik.

Heißt das, Hitler hätte recht gehabt, wenn er den Krieg gewonnen hätte?

Ganz genau. Es gibt immer einen Gewinner im Wettstreit. Recht setzt letztlich, wer gewinnt. Genau das macht ja das Unternehmen „Ethik“ so aussichtslos. Traurig ist nur, dass es 1933 nicht mehr so begabte Rhetoriker gab – dann hätte Hitler bei 5 % rumgekrebst. Sechzig Jahre nach der Wahl Hitlers zum Reichskanzler ethisch über ihn Recht zu sprechen, ist sicher leichter, als ihn von 1923 bis 1945 rhetorisch zu überbieten.

Haben Sie einen konkreten Vorschlag, wie man Ihre Vorstellung von Philosophie in die Tat umsetzen könnte?

Ja, eine Denkpause für die akademische Philosophie, in der die Institute ersatzlos aufgelöst werden. Wir, die wir unter dem komischen Attribut „Philosoph“ angetreten sind, können uns dann überlegen, wie wir das auf andere Art fortführen. Es könnte eine Offenheit entstehen, in der Fragen diskutiert würden wie: Wer bin ich? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Zugegeben, diese Fragen kennen wir schon – aber eben nur als Philosophiegeschichte. Und was hat Philosophie mit dem Mann-Sein zu tun? Was wollen inzwischen die Frauen von der Philosophie? Oder gar von uns? Die Verwaltung von Texten sollte aber nicht mehr die einzig förderungsfähige Form von Liebe zur Sophia sein. Die analytischen Philosophen könnten sich um Lyrikstipendien bewerben, der Rest geht in die Geschichte und Germanistik.

In der DDR hat man die philosophischen Institute abgewickelt, aber dort ist ja offensichtlich auch nichts Neues entstanden.

Ja, aber was ist denn da passiert? Man hat die Institute aufgelöst und dann die westdeutschen Privatdozenten der Endlagerung zugeführt. Im Land Brandenburg hat man ein Schulfach „Lebensgestaltung-Ethik-Religion“ eingeführt, für das ich philosophischer Berater war. Die Lehrer waren sehr motiviert, aber ihre Weiterbildner waren derart ethisch infiziert, dass die Lebensgestaltung und lustigerweise auch die Religion auf der Strecke blieben. Und die Schüler natürlich auch.

Was sollen die Studenten Ihrer Meinung nach tun?

Sie sollen freie Arbeitsgruppen bilden und autonome Institute gründen. Sie sollen die Auflösung der Institute betreiben. Studenten müssen sich ständig fragen, warum sie denn Philosophie studieren, auf die Scheine scheißen, guten Wein trinken und nach ihrer Traumfrau (oder meinetwegen ihrem Traummann) suchen.

Der Zauber des Denkens

Подняться наверх