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I Vorüberlegungen und Grundlagen

1 Hurra, noch sind wir in der Krise

Wo man steht und geht, hinsieht und hinhört, überall Krisenstimmung und manifeste Krisen: wirtschaftliche, ökologische, gesundheitspolitische und gesamtgesellschaftliche. Wie es scheint, gab es noch nie so viele und schlimme Krisen wie in dieser Zeit. Banken benötigen finanzielle Unterstützung, das Gesundheitssystem ist marode, die Renten sind schon lange nicht mehr sicher, die Kinderarmut steigt und das Bildungssystem verspricht nur noch dem Namen nach Bildung.

Auch wenn es historisch und faktisch nicht zutreffen mag, dass die aktuelle Krise die schlimmste ist, ist sie doch die schlimmste gefühlte Krise, was der ausschlaggebende Faktor ist und ein Näheverhältnis zum subjektiven Leiden eines jeden Menschen herstellt, um den es in der Medizin und insbesondere in den Künstlerischen Therapien geht.

Geht man hypothetisch einmal davon aus, dass es sich aktuell tatsächlich um eine der schwersten globalen Krisen in der Geschichte der Menschheit handelt, beinhaltet dies zugleich eine der größten Chancen der Menschheit, bedenkt man, dass das griechische Wort krisis so viel wie Entscheidung bedeutet und eine problematische, mit einem Wendepunkt verknüpfte Situation bezeichnet, die noch ergebnisoffen ist und nicht zwangsläufig in einer Katastrophe enden muss.

Eine Krise ist, dem Wortsinn nach, also primär nicht negativ konnotiert. Erst, wenn eine Situation in einen dauerhaft negativen Verlauf mündet, spricht man von einer Katastrophe, die dann tatsächlich einen negativen Sachverhalt meint. Nicht die Krise als solche ist schlimm, sondern die drohende, imaginierte Katastrophe, die sich sowohl im Globalen als auch im Persönlichen durch überlegtes und sinnvolles |9◄ ►10| Denken und Handeln vielleicht verhindern lässt. Man könnte also sagen: Hurra, noch sind wir in der Krise.

Es ist ein Wendepunkt, ein Punkt der Entscheidung erreicht – was die Chance birgt innezuhalten, gewahr zu werden, zu analysieren, nachzudenken, sich zu orientieren, auszurichten, neue Perspektiven zu entwickeln und zu handeln. Sprich: Es besteht die Möglichkeit, Einfluss auf den Verlauf der Krise zu nehmen und Katastrophen zu verhindern. Bildlich gesprochen steht man auf einem Gipfel und hat die Wahl zwischen verschiedenen Wegen. Vom Gipfel aus kann es zunächst zwar, zumindest zu Fuß, nur abwärts gehen, aber es gibt durchaus reizvolle Wege und nicht alle führen ausschließlich nach unten, sondern einige winden sich um den Berg herum oder haben einen wellenförmigen Verlauf.

Auch die persönliche Krise, die oft zugleich eine psychische Krise ist, beinhaltet eine Chance. In der Psychologie versteht man unter einer psychischen Krise im weitesten Sinn ein überraschendes Geschehen, das in der Regel mit einem schmerzhaften seelischen Empfinden einhergeht und zu einer Situation führt, die mit den gewohnten, zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Problemlösungsstrategien nicht in ausreichendem Maß bewältigt werden kann. In Krisensituationen, wenn die eigenen Problemlösungsstrategien nicht mehr ausreichen, ist es also angebracht, sich Unterstützung zu holen, um neue Strategien zu entwickeln, Ressourcen zu entdecken und neue Fähigkeiten zu erwerben.

In einer Krise sind kreative Fähigkeiten gefragt, die ungewohnte Perspektiven eröffnen und helfen, Lösungsstrategien zu entwickeln. Dabei bedürfen sowohl der Hilfesuchende als auch der Hilfegewährende der kreativen Fähigkeiten, um gemeinsam Konzepte und Visionen zu entwickeln, Schritte zu planen und diese probeweise zu gehen. Nur durch den Einsatz kreativer Fähigkeiten können bisher nicht bekannte Lösungsansätze gedacht und gefunden werden. Je breiter das kreative Angebot, je mehr Zeit, Raum und Aufmerksamkeit zur Verfügung stehen, umso mehr potenzielle Lösungsansätze werden sich ergeben, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, individuelle Wege zu finden.

Wird eine Krise als Chance begriffen, ist es die Aufgabe der Künstlerischen Therapien, auf kreative Weise bei der Bewältigung der Krise zu helfen. Dafür bedarf es eines fundierten Wissens, der Flexibilität |10◄ ►11| und Empathie auf Seiten des begleitenden Kunsttherapeuten, sowie der Bereitschaft, des Vertrauens und Mutes auf Seiten des Patienten; nicht zuletzt müssen adäquate finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, die einen angemessenen Arbeitsrahmen ermöglichen.

2 Medialität und Intermedialität

2.1 Komplexität der Gesellschaft

Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft werden immer komplexer, die Lebenszusammenhänge anspruchsvoller. Menschen sind international vernetzt und kommunizieren mittels zahlreicher Medien, die zuweilen simultan geschaltet sind. Die Sinneseindrücke, die das menschliche Gehirn jeden Augenblick zu verarbeiten hat, sind immens, mehrere Sinne sind zugleich gefordert, manchmal sogar überfordert, und der Mensch ist gezwungen, sich auf irgendeine Weise zu den Herausforderungen und Veränderungen ins Verhältnis zu setzen.

Er kann versuchen, diese multiplen, schnell auf ihn einströmenden Reize ebenso schnell und flexibel zu beantworten, wie sie ihm dargeboten werden, oder er kann sich ihnen verweigern, sich gegen sie so weit wie möglich abgrenzen und sie unbeantwortet lassen. Verweigert er sich, besteht die Gefahr, dass er den Anschluss an eine Gesellschaft verliert, die einen flexiblen, extrem belastbaren, schnellen und leistungsfähigen Menschen auf dem neuesten Stand des Wissens und in bestem Funktionszustand fordert, vergleichbar einem Hochgeschwindigkeitszug, der technisch perfekt, aber für Störungen von außen und kleinste Funktionsfehler im Inneren besonders empfindlich und anfällig ist und nur schwer reparierbar, da die technischen Module so kompliziert sind, dass es anderer komplizierter technischer Module bedarf, um das Problem überhaupt zu erkennen. Hochgezüchtete Rennpferde fallen einem ein, auch sie extrem schnell und leistungsfähig, zugleich hypernervös und krankheitsanfällig.

Die Vergleiche und die angeführten Handlungsextreme verdeutlichen das Spannungsfeld, dem der Mensch in einer zunehmend medial organisierten Welt ausgesetzt ist. Will er in dieser Welt bestehen, wozu er meist gezwungen ist, muss er sich zu den Veränderungen in seinem |11◄ ►12| Lebens- und Arbeitsumfeld auf angemessene Weise verhalten und sich daran anpassen. Dabei geht es um eine Balance zwischen Veränderung und Beständigkeit, Geschwindigkeit und Verlangsamung, Entäußerung und Zentrierung, Anspannung und Entspannung.

Über den Sinn und die Notwendigkeit dessen, was in der Welt vorgeht und auf den Menschen einwirkt, lässt sich kontrovers diskutieren. Schon Friedrich Schiller beklagte in der Romantik, dass der Fortschritt in Technik und Wissenschaft zur Verarmung des Einzelnen in Hinblick auf die Entfaltung seiner Anlagen und Kräfte führe. Indem sich das Ganze als Totalität zeige, so Schiller, höre der Einzelne auf zu sein, was er gemäß eines idealisierten Vorbildes der Antike war, nämlich eine Person als Totalität im Kleinen. In Alltag und Berufswelt an Bruchstücke gefesselt, bilde auch der Mensch sich nur mehr als Bruchstück heraus und entwickle nie die Harmonie seines kompletten Wesens. Nur im Spiel der Kunst könne der Krebsschaden, den die Gesellschaft verursacht habe, kompensiert werden.

Tatsache ist, dass der Mensch den Vorgängen und Veränderungen um sich herum ausgesetzt ist und einen aktiven Umgang mit den Anforderungen finden muss, will er nicht zum passiven Spielball der Gegebenheiten werden. Überließe er sich dem Lauf der Dinge, fände er sich bald in einer abgeschlagenen, ohnmächtigen Position und hätte nicht mehr die Möglichkeit, aktiv zu entscheiden, wann, wo und auf welche Weise er auf die an ihn gestellten Ansprüche und Forderungen reagieren möchte.

In einer leistungsorientierten Welt, in der Schlachtrufe wie Everything is possible und No limits erklingen, sind auch Krankheit und Gesundheit längst zu Schlagworten geworden, die sich Politiker in Wahlen an die Köpfe werfen, und die keine Aussagekraft mehr haben, weil sie den Menschen als Individuum mit seinen spezifischen Lebensraumbedingungen und Bedingtheiten, seinen Gedanken, Gefühlen, Vorstellungen und sozialen Kontexten nicht mehr oder nicht ausreichend zu berücksichtigen vermögen.

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2.2 Moderne Medizin und Gesundheit

1964 definierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Gesundheit als einen Zustand des völligen körperlichen, geistig-seelischen und sozialen Wohlbefindens. Und obwohl ein solcher Zustand nur schwer vorstellbar und noch schwerer zu realisieren scheint, hat die Weltgesundheitsorganisation damit immerhin erreicht, dass Gesundheit heute umfassender verstanden wird denn als Zustand, der sich lediglich durch die Abwesenheit von Krankheit auszeichnet.

Mittlerweile allerdings hat die Medizin, die ja vor allem die Gesundheit des Menschen im Blick haben sollte, die adaptiven Leistungen, die vom Menschen im Alltag erwartet werden, selbst nicht zu leisten vermocht, sondern sich im Gegenteil immer weiter spezialisiert und diversifiziert. Die moderne Medizin hat den menschlichen Körper auseinandergenommen und seine vermeintlichen, in realitas jedoch fiktiven Einzelteile immer kleineren Fachgebieten zugeordnet, wodurch sie sich den Blick auf den Menschen als einheitliches Ganzes, als denkendes, fühlendes und handelndes Wesen partiell verstellt hat und in der Folge nicht mehr in der Lage ist, dem Menschen als Individuum auf ganzheitlicher Ebene zu begegnen und zu helfen.

Dabei nimmt es nicht Wunder, dass die Menschen, die die Zersplitterung und Spezialisierung begünstigt und vorwärts getrieben haben, unter anderem Gesundheitspolitiker und Ärzte, selbst nicht gern von ihr betroffen sind, sondern sich trotz ihres Fachwissens, sollten sie einmal krank werden, in der Medizinmaschine ebenso hilflos und verloren fühlen wie jeder Laie.

Kein Mensch möchte technisiert, fragmentarisiert und funktionalisiert werden, schon gar nicht, wenn es ihm schlecht geht und er sich eine Hilfe erhofft, die anders ist als das, was ein Gutteil zu seinem Zustand beigetragen hat, nämlich Funktionalisierung und Reduzierung. Um den Menschen und seine Lebensrealität in seiner Ganzheit wieder in den Blick zu bekommen, wenigstens ansatzweise zu erfassen und – sofern gewünscht und möglich – zu begleiten, bedarf es einer umfassenden Sicht auf den Menschen, seine Belastungen und Einschränkungen, aber auch seine Fähigkeiten und Möglichkeiten.

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2.3 Mediale Herausforderungen

Will man den Menschen weder aus dem System herauslösen noch darin untergehen lassen, braucht es Ansätze, die den Gegebenheiten und Interdependenzen, in denen der Mensch sich befindet, auf sinnvolle Weise Rechnung tragen, indem sie diese bei ihrer Suche nach Antworten berücksichtigen. Weil das hochkomplexe System, in dem der Mensch sich bewegt, von zahlreichen unwägbaren Faktoren, nicht zuletzt vom Menschen selbst, beeinflusst wird, bedarf es einer Antwort, die in der Lage ist, sich den rasch wechselnden Umständen in ebenso schneller und flexibler Weise anzupassen.

Eine mögliche Antwort auf die medialen und intermedialen Herausforderungen liegt auf derselben Ebene, auf der die Forderungen an den Menschen herangetragen werden: Sie finden in einer intermedialen Kunsttherapie ihre Entsprechung. Nicht dadurch, dass der Mensch die Lebensrealität verneint oder verleugnet und sich zurückzieht, ist er in der Lage, eine gesunde Form der Bewältigung zu finden, sondern nur, indem er sich in einem geschützten Raum mit den Gegebenheiten aktiv und interaktiv auseinandersetzt, wird er Lösungsstrategien erarbeiten, die sich im Alltag als tragfähig erweisen müssen.

Die Künstlerischen Therapien stellen diesen geschützten Raum zur Verfügung, in dem sich der Mensch mit verschiedenen Medien und Ausdrucksformen beschäftigen kann und die Möglichkeit erhält, Bewältigungsstrategien zu erproben. Indem der Mensch im künstlerischen Kontext Erfahrungen sammelt, erwirbt er zugleich Fähigkeiten, die ihn in die Lage versetzen, selbst zu entscheiden, auf welche Reize und Forderungen er in welcher Art und Weise reagieren will. Dabei kann auch das Nichtreagieren als Reaktion verstanden werden, als aktive Verweigerung, die eine andere Haltung impliziert als passive Verweigerung, der eine Überforderung und keine bewusste Entscheidung zugrunde liegt.

In den Künstlerischen Therapien hat der Mensch selbstbestimmt und eigenverantwortlich an der Therapie teil und gestaltet den therapeutischen, respektive künstlerischen Prozess in interaktiver Weise mit. Zwei Experten, Patient und Therapeut, suchen, unter Einbeziehung der Lebensrealität und der Ressourcen des Patienten, gemeinsam einen individuellen Weg zu seinem Wohl. Dafür werden im intermedialen Ansatz|14◄ ►15| mehrere künstlerische Ausdrucksformen wie Sprache, Bewegung, Musik, Malen und Gestaltung miteinander kombiniert, wobei die einzelnen Medien und die mit ihnen verbundenen Reize nicht getrennt wirken, sondern simultan, so wie es der Lebensrealität entspricht.

2.4 Das menschliche Gehirn

Das intermediale Konzept trägt aber nicht nur der komplexen Lebensrealität des Menschen Rechnung, sondern zugleich der neuronalen Verschaltung des menschlichen Gehirns. Ein durch den intermedialen Einsatz künstlerischer Mittel und Methoden gefördertes vielfältiges Angebot an Sinneseindrücken korrespondiert am besten mit der Organisation des Gehirns, in dem eine Synchronisation visueller, auditiver, somatosensorischer und motorischer Sinneseindrücke auf neuronaler Ebene stattfindet.

Schon in früher Kindheit schaltet das Gehirn Merkmalsbedeutungen zusammen, um die Umwelt ganzheitlich wahrnehmen und erleben zu können. Verschiedene Sinnesdaten werden zu kohärenten Wahrnehmungseindrücken zusammengefasst, ohne die die Wahrnehmungswelt eine Anhäufung von Eindrücken ohne Sinn und Zusammenhang bliebe.

Gerade Kinder sind in besonderer Weise in der Lage, die in der einen Sinnesmodalität aufgenommenen Informationen in eine andere zu übersetzen. Diese Fähigkeit bleibt prinzipiell lebenslang erhalten und kann, auch wenn sie durch Alltagszwänge in den Hintergrund gedrängt wurde, aktiviert und gefördert werden.

2.5 Ressourcenaktivierung

Unter der Voraussetzung des dosierten und achtsamen Umgangs mit den verschiedenen Medien können die vielfältigen, simultanen Sinnesanregungen zur Stimulation des Gehirns beitragen. Sie ermöglichen es dem Menschen Verhaltensweisen zu generieren, die ihn befähigen, im Alltag schneller und leichter zu reagieren, so dass ihn die dort ebenfalls zahlreich auf ihn einströmenden Reize nicht mehr überfluten.

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Dabei geht es in den Künstlerischen Therapien nicht in erster Linie um Kunsthandwerk oder -fertigkeit, sondern darum einen adäquaten Ausdruck zu finden, der einen befriedigenden Umgang mit Gefühlen und Gedanken ermöglicht. Dabei hängt die Wahl der Ausdrucksmittel des Einzelnen von zahlreichen in der Gegenwart und Vergangenheit des Individuums begründeten Faktoren ab und ist im Prozess variabel.

Je mehr Erfahrungen mit den verschiedenen Medien und Materialien existieren, umso leichter und fließender lassen sich Übergänge gestalten, umso flexibler können die Ausdrucksformen genutzt werden. Auf diese Weise wird in den Künstlerischen Therapien ein alternativer Erfahrungsraum geschaffen, der gestaltend genutzt werden kann, um neue Erfahrungen zu sammeln und Ressourcen zu aktivieren, die zu einer sinnerfüllten Alltagsbewältigung beitragen.

3 Wahrnehmung und Wahrnehmungspsychologie

Als Grundlage für die Wahrnehmung dient dem Menschen ein komplexes, differenziertes Sinnessystem, das Eindrücke über die Sinnesorgane aufnimmt und vermittels Nervenbahnen an das Gehirn leitet, wo sie verarbeitet werden.

Es wurden zahlreiche Versuche unternommen, die verschiedenen Sinne durch Einteilung zu systematisieren. Der britische Neurophysiologe Charles Sherrington, der sich an Lage und Wirkrichtung von Rezeptoren orientierte, kam auf dreizehn Sinne: Stellungs-, Spannungs-, Lage-, Bewegungs-, Tast-, Geschmacks-, Druck-, Berührungs-, Temperatur-, Schmerz-, Gesichts-, Gehör- und Geruchssinn (Sherrington 1906). Der österreichische Philosoph Rudolf Steiner sprach in seiner Sinneslehre von zwölf Sinnen und ordnete den körperorientierten Sinnen den Lebens-, Sprach-, Wort-, Gedanken- und Ichsinn bei (Steiner; Vorträge 1922/23).

Neben den Sinnesorganen und den leitenden Nervenfasern spielt das Gehirn als verarbeitendes und steuerndes System von Reizen eine entscheidende Rolle bei der Wahrnehmung. Es umfasst bei Frauen etwa neunzehn und bei Männern ungefähr dreiundzwanzig Milliarden Nervenzellen.

Da bei der Geburt annähernd alle Nervenzellen vorhanden sind, resultieren|16◄ ►17| Gewichts- und Größenwachstum des Gehirns in erster Linie aus der Vernetzung der Neuronen und dem Dickenwachstum der Verbindungen. Die Vernetzung von Nervenzellen vollzieht sich vorwiegend in den ersten Lebensjahren, wobei diese Prozesse nie ganz abgeschlossen sind und sowohl für die primäre als auch die sekundäre Vernetzung stimulierende Reize unabdingbar sind (Heimes 2008).

Eine weitere für die Wahrnehmung entscheidende Struktur im Gehirn ist das limbische System, in dem alle Signale verarbeitet werden und eine emotionale Komponente erhalten. Dabei erlebt und deutet jede Spezies ihre Umwelt über die Informationen, auf deren Verarbeitung ihre Sinnesausstattung programmiert ist. Nur der Mensch verfügt neben der physiologischen Sinnesausstattung über die Fähigkeit, symbolisch vermittelte Informationen aufzunehmen und sich darüber neue Perspektiven zu eröffnen.

Steht der Begriff der Wahrnehmung in der Biologie ganz grundlegend für die Fähigkeit eines Organismus, mit seinen Sinnesorganen Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, werden in der Psychologie für die Wahrnehmung nur jene Sinnesreize als bedeutsam erachtet, die der Anpassung des Individuums an seine Umwelt dienen oder ihm Rückmeldungen über die Auswirkungen seines Verhaltens geben.

Gemäß dieser Definition dienen also nicht alle Sinnesreize der Wahrnehmung, sondern nur die, die kognitiv verarbeitet werden und der Orientierung und Ausrichtung des Wahrnehmenden helfen. Eine unter diesem Aspekt betrachtete Wahrnehmung ermöglicht sinnvolles Handeln und planerisches Denken und kann als Grundlage von Lernprozessen verstanden werden.

Die menschlichen Sinne sind Vermittler von Empfindungen, wobei die Sinnesorgane nur einen Teil der vorhandenen Reize aufnehmen und jede Wahrnehmung zuerst in einem sensorischen Speicher auf ihren Nutzen hin untersucht wird, bevor sie, sofern relevant, weiterverarbeitet wird. Wahrnehmungen sind also von Erinnerungen und Erwartungen abhängig: Ein Mensch kann nur wahrnehmen, was er wahrzunehmen bereit ist und gelernt hat. Kognitive Beurteilungsprogramme entscheiden, was wahrgenommen wird, so dass Wahrnehmung immer zugleich an die Biographie des Wahrnehmenden gebunden ist.

Um Beunruhigung und Verunsicherung zu vermeiden, stellt das Gehirn, das verschiedene Reize gleichzeitig verarbeitet, aus einzelnen, zunächst|17◄ ►18| nicht zusammenhängenden Objekten ein einheitliches Ganzes her, um Dinge möglichst schnell in ihrer Grundbedeutung zu erfassen. Das Gehirn organisiert Zusammenhänge und sieht, dem menschlichen Bedürfnis nach kausalen Beziehungen folgend, auch dort Verbindungen, wo keine vorhanden sind. Dabei stehen Wahrnehmung und wahrgenommenes Objekt in einem ständigen Wechselverhältnis, so dass sich das wahrgenommene Objekt durch die sinnliche Aufnahme und Weiterverarbeitung in seiner Bedeutung verändert, wodurch sich wiederum die Wahrnehmung des Objektes verändert.

Die Fähigkeit, Inhalte wahrzunehmen, ohne ihnen automatisch Bedeutungen beizumessen, muss geschult werden, um neue bildhafte Erkenntnisse zu gewinnen und andersartige Gestaltungsformen zu ermöglichen. So gesehen verlangt künstlerisches Handeln ein Experimentieren mit der Wahrnehmung, um starre Interpretationsweisen aufzulösen und die Entwicklung alternativer Perspektiven zu erlauben (Tunner 1999).

Der amerikanische Philosoph Nelson Goodman, der später eng mit den Gestalttherapeuten Laura und Frederick Perls zusammenarbeitete und zur Entstehung der Gestalttherapie beitrug, sagt, dass die Welt auf so viele Weisen ist, als man sie korrekt beschreiben, sehen und bildlich darstellen kann, und dass es so etwas wie die Weise, in der die Welt ist, nicht gibt. Das Auge beginne seine Arbeit immer schon erfahren, wobei es von seiner eigenen Vergangenheit und von alten und neuen Einflüsterungen des Ohrs, der Nase, der Zunge, der Finger, des Herzens und des Gehirns beherrscht werde. Nicht nur wie, sondern auch was es sieht, werde durch Bedürfnis und Vorurteil reguliert. Das Gehirn wähle aus, verwerfe, organisiere, unterscheide, assoziiere, klassifiziere und konstruiere, wodurch es eher etwas erfasse und erzeuge als widerspiegele (Goodman 1973).

Auch der deutsche Philosoph Hans-Georg Gadamer beschreibt die reine Wahrnehmung als einen Grenzfall, der kaum eintrete, da jede Wahrnehmung einer Sinngegebenheit schon Abstraktionsleistung und niemals Spiegelung sei: »So ist es kein Zweifel, daß das Sehen als ein artikuliertes Lesen, dessen, was ist, vieles was da ist, gleichsam wegsieht, so daß es für das Sehen eben nicht mehr da ist; ebenso aber, daß es von seinen Antizipationen geleitet hineinsieht, was gar nicht da ist.« (Gadamer 1990)

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4 Kreativität und Kreativpädagogik

4.1 Der Begriff der Kreativität

1962 versuchten der amerikanische Pädagoge Jakob Getzels und sein Kollege Philip Jackson Kriterien festzulegen, die den kreativen Menschen als solchen erkennbar machen sollten. Dabei kamen sie auf vier Merkmale, die einen Menschen als kreativ auszeichnen: kreative, intelligente, moralische und psychologische Fähigkeiten (Getzels und Jackson 1962). Damit erklärten sie den Begriff allerdings nicht hinlänglich, da der Terminus der kreativen Fähigkeit so wenig fassbar bleibt wie das zugehörige Substantiv.

Der Psychologieprofessor Mihály Csíkszentmihályi unterscheidet zwischen kreativen, von der Umwelt als brillant wahrgenommen Menschen; einer persönlichen Kreativität, die für ein Individuum eine überraschende und hilfreiche Idee bereit halte; und Kreativität schlechthin, die sich aus einer Interaktion zwischen Kultur, Einzelperson und Experten ergebe, welche die gemachte Innovation anerkennen (Csíkszentmihályi 1997).

Der amerikanische Psychologieprofessor Donald MacKinnon bezieht sich in seiner Definition auf die Kreativität als solche und definiert sie als eine neue Idee, die zu verwirklichen ist und der Verbesserung oder Veränderung dient. Kreativität sei keine Eigenschaft, die entweder vorhanden ist oder nicht, sondern etwas, das erlernt und gefördert werden könne, wobei die Lernfähigkeit von Faktoren wie Begabung, Motivation, Neugier, Originalität und Frustrationstoleranz abhänge (MacKinnon 1978).

4.2 Kreativität als Lebenshaltung

Geht man von der Kreativität als einer Grundvoraussetzung für das Leben aus, ist jeder Lebensweg kreativ, gestaltend und künstlerisch, wenn man die adaptiven Leistungen bedenkt, die der Mensch im Lauf seines Lebens vollbringt, um individuelle Lebenswege zu finden und angemessene Lösungsstrategien zu entwickeln. Die Aufnahme der Welt durch die Sinne, die Verbindung einzelner Wahrnehmungen zu Ganzheiten,|19◄ ►20| das Memorieren von Erfahrungen, das Herstellen von Verbindungen zwischen Erfahrungen und der Austausch zwischen Menschen sind kreative Tätigkeiten, vermittels derer Zusammenhänge hergestellt und Bedeutungen generiert werden. Das impliziert, dass prinzipiell jeder Mensch in der Lage ist, sein Leben auf kreative Weise zu gestalten und zu seiner Gesundung und Gesunderhaltung beizutragen. Das gesamte Leben eines Menschen ist kreative Auseinandersetzung mit der Welt, bestehend aus Anpassungsleistungen auf der einen und gestaltender Veränderung auf der anderen Seite (Heimes 2008).

Der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott ging davon aus, dass der schöpferische Umgang mit Alltagsanforderungen ein wesentliches Merkmal seelischer Gesundheit ist, und verstand Kreativität als eine Haltung gegenüber der Realität, als etwas, das zum Lebendigsein gehört und Lebenssinn schafft: »Wir beobachten, dass Menschen entweder kreativ leben und das Leben für lebenswert halten, oder dass sie es nicht kreativ leben können und an seinem Wert zweifeln. Dieser Unterschied zwischen den einzelnen Menschen hängt direkt mit der Qualität und Quantität der Umweltbedingungen zu Beginn oder in den ersten Phasen der individuellen Lebenserfahrung zusammen. « (Winnicott 1974)

Auch Csíkszentmihályi sieht in der Kreativität eine zentrale Sinnquelle des Lebens und bezeichnet sie als etwas, das den Menschen aus dem Alltag heraushebt und ihm das tiefe Gefühl vermittelt, Teil von etwas zu sein, das größer ist als er selbst. Kreativität hinterlasse ein Ergebnis, das zum Reichtum und zur Komplexität des Lebens beitrage.

Folgt man diesem Gedanken, kommt man zu der beruhigenden Überzeugung, dass die kreative Lebensfähigkeit eines Menschen nie vollständig zerstört werden kann. Vielmehr existiert, wenn Kreativität ein Merkmal des Lebendigseins ist, sogar bei äußerster Angepasstheit ein kreativer Lebensbereich, der durch Erfahrung wiederbelebt werden kann.

4.3 Kreativitätsförderung

Damit der kreativ Tätige in Therapie und Pädagogik gestaltend zum Ausdruck kommen kann, bedarf er grundlegender Fähigkeiten und |20◄ ►21| Techniken im Umgang mit kreativen Materialien. In der kunsttherapeutischen und kreativpädagogischen Arbeit ist es deswegen unabdingbar, dass Menschen die verschiedenen Charaktere von Materialien in allen ihren Qualitäten erfahren, weil nur dadurch ihre Sinnesentwicklung bestmöglich gefördert werden kann. Dabei ist es die Aufgabe des Therapeuten oder Pädagogen, Fähigkeiten und Techniken zu vermitteln und Bedingungen zu schaffen, unter denen Kreativität möglich ist. Raum, Zeit und Mittel müssen so zur Verfügung gestellt werden, dass sie ein Experimentieren gestatten und einen individuellen Zugang zu kreativen Ressourcen ermöglichen.

Nimmt man den Gedanken noch einmal auf, dass Kreativität zur Grundeinstellung eines Individuums gegenüber der Realität gehört und ein Kind beim Spiel frei sein muss, um schöpferisch sein zu können, dann kristallisiert sich eine Aufgabe der Gesellschaft heraus: Sie muss für Kinder Bedingungen schaffen, unter denen sie spielend schöpferisch sein können, sich Welt aneignen und eine Idee des eigenen Selbst entwickeln, um dem Leben auf existenzielle und kreative Weise Sinn geben zu können. Potenziale kindlicher Phantasie müssen frühzeitig erkannt und gefördert werden, da Phantasie das zentrale Vermögen darstellt, eine Synthese zwischen Welt und Selbst herzustellen.

Es ist notwendig, sich Gedanken zu machen, welche Grundsteine in der Kindheit gelegt werden müssen, um ein Individuum in dieser prägenden Phase mit den bestmöglichen Fähigkeiten und Ressourcen auszustatten. Um es auf eine leicht verständliche Formel zu bringen: Gesunde Kinder werden zu gesunden Erwachsenen, und je mehr Rüstzeug man Kindern für einen kreativen Lebensweg mitgibt, umso besser sind sie für ihre Zukunft als Erwachsene ausgestattet.

Der frühzeitige Erwerb kreativer Fähigkeiten kann als beste Versicherung für einen kompetenten Umgang mit schwierigen Verhältnissen in späteren Lebensphasen verstanden werden. In diesem Sinn vermögen Künstlerische Therapien und Kreativpädagogik die Grundsteine für ein kreatives, ressourcenorientiertes Leben zu legen. Bereits in der Kindheit angelegte neuronale Verschaltungen lassen sich in späteren Lebensphasen leichter aktivieren als wenn die neuronalen Schaltkreise im Erwachsenenalter neu gebildet werden müssten – sofern dies nach Abschluss der plastischen Sinnesphasen überhaupt noch möglich ist.

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Der in der Säuglingsforschung tätige amerikanische Entwicklungspsychologe Daniel Stern beschrieb plastische Sinnesphasen mit funktioneller und struktureller Veränderungsbereitschaft des Gehirns, in denen neuronale Assoziationskanäle für neue Reize durchlässig sind, so dass Kinder gut lernen (Stern 2003). Da die Phasen zwar in bestimmten kindlichen Entwicklungsabschnitten, aber innerhalb dieser zu einer unterschiedlichen Zeit auftreten können, ist es wichtig, während der gesamten Kindheit Reize anzubieten, die das Kind nutzen kann, sofern es sich in einer plastischen, aufnahmebereiten Phase befindet. Je breiter das Reizangebot ist, umso wahrscheinlicher wird es, dass für jedes Kind die passenden Reize vorhanden sind.

Auch der amerikanische Neurologe Harold Klawans betont die Wichtigkeit dieser Phasen, die er als Lernfenster bezeichnet. Alle Nervenbahnen, so Klawans, seien von Geburt an vorhanden und warteten nur darauf, benutzt zu werden. Während das jugendliche Gehirn reife, verkümmerten nicht benutzte Bahnen. Ist das Gehirn also einer wenig förderlichen Umwelt ausgesetzt, verschwinden Nervenbahnen, so dass auf ihnen künftig keine Übertragung mehr stattfinden kann. Je mehr Reize dem Gehirn dagegen – besonders in den plastischen Sinnesphasen – angeboten werden, umso wahrscheinlicher ist es, dass Nervenbahnen bestätigt werden und erhalten bleiben (Klawans 2005).

4.4 Die Anfänge der Kreativpädagogik

Im Handbuch für Sozialerziehung von 1963/64 wird deutlich, dass die Pädagogen schon damals nicht nur die Eingliederung und Anpassung der jungen, ihnen anvertrauten Menschen im Sinn hatten, sondern ebenso deren Selbstverwirklichung. Dort heißt es wörtlich: »Wer dauernd von außen gelenkt wird und nicht zu seiner eigenen Verantwortung kommt, dem wird der Weg zu sich selbst verbaut, zur Persönlichkeit, weil ihm überall Entscheidung und Verantwortung abgenommen werden ... Im freien Werken werden die vielschichtigen Anlagen angesprochen und können in dem Maße der Veranlagung mit Geduld und Hingabe selbst verwirklicht werden.« (Bornemann 1963/64)

Der kreative, spielerische Grundgedanke wurde also bereits damals formuliert, auch wenn die resultierende Einpassung der künstlerischen |22◄ ►23| Komponente in den Schulunterricht genau die Beschneidung und Normierung zur Folge hatte, die man den Kindern ersparen wollte.

Auch im Kinder- und Jugendhilfegesetz werden die Förderung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, der Schutz ihres Wohlergehens, die Unterstützung von Eltern und Erziehungsberechtigten und die Verbesserung der Lebensbedingungen als Ziele genannt. Um die dafür notwendige frühzeitige und lebensweltorientierte Hilfe zu gewährleisten und Ressourcen zu stärken, sind individuelle Angebote erforderlich. Dabei ist die Förderung kreativer Ressourcen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: »Wir sind an den Gedanken gewöhnt, dass Kreativität beim Individuum beginnt und endet, und vergessen deshalb leicht, dass sie durch Veränderungen außerhalb des Individuums gefördert werden kann.« (Csíkszentmihályi 1997)

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts bemühten Kunstpädagogen sich darum, das innere Erleben des Kindes in den Fokus der Kunsterziehung zu rücken. Es sollte nicht länger um reine Nachahmung oder formale und handwerkliche Aspekte gehen, sondern den Kindern sollte die Dokumentation ihres inneren Erlebens ermöglicht werden. Dafür brauchen Kinder Zeit, Raum und Aufmerksamkeit und müssen die Chance erhalten, Gedanken, Gefühle und Phantasien zu gestalten und seelisch und körperlich zum Ausdruck kommen zu lassen.

Der in Frankreich lebende und arbeitende Psychiater und Psychoanalytiker Daniel Widlöcher versteht den ästhetischen Ausdruck des Kindes als narrative Form, mittels derer es auf kommunikative Weise Kontakt zu seiner Umwelt aufnimmt. Durch die den kindlichen Bedürfnissen entsprechende Beantwortung von Umweltreizen, beispielsweise durch spielerisches Malen und Gestalten, werde das Kind in die Lage versetzt, seine Psyche auszudifferenzieren und zu stabilisieren (Widlöcher 1993).

Arno Stern, der in Deutschland geborene und nach Frankreich emigrierte Pädagoge, arbeitete nach dem Krieg in einem Waisenheim in einem Pariser Vorort. Sein Auftrag war es, die Kinder zu beschäftigen, und er ließ sie malen. Später richtete er unter dem Namen Académie du Jeudi in Paris ein Atelier ein, in dem Kinder in einem geschützten Raum ihr Innerstes ausleben konnten. Beschrieb Stern das Malen der Kinder zu Beginn als Kinderkunst, distanzierte er sich im Lauf der Zeit von diesem Begriff und entwickelte stattdessen den der »Formulation«, |23◄ ►24| der für ihn eine Rückkehr zum Ursprünglichen beinhaltete (Stern 1998).

Stern geht davon aus, dass jeder Mensch – unabhängig von Alter, Herkunft und Prägung – das Bedürfnis, die natürliche Anlage und die Fähigkeit hat sich auszudrücken. Dabei stehen für ihn der Prozess des Malens und die Entwicklung des Malenden im Vordergrund. Indem der Ausübende seine Äußerung mit keiner Erwartung verbinde, so Stern, erfahre er Unabhängigkeit. Die kreative, ausdrucksorientierte Arbeit mit Kindern hat für ihn prägenden und präventiven Charakter. In seiner Vorstellung ermöglicht eine spielerische Beschäftigung mit dem menschlichen Ausdruck in einem geschützten Raum das Auffinden der von ihm als Spur bezeichneten menschlichen Eigenart eines jeden Individuums (Stern 1996 und 2005).

Die Schweizer Philosophin und Kunsttherapeutin Bettina Egger, eine Schülerin Sterns, entwickelte aus dem von Stern praktizierten Ausdrucksmalen das so genannte lösungsorientierte Malen (LOM). Der Mensch, so Egger, sei ein Ausdruckswesen, das sich, in Analogie zu Paul Watzlawicks Kommunikationsaxiom, nicht nicht ausdrücken könne. Bewegungen, Töne, Bilder und Worte sind Träger menschlichen Ausdrucks und im lösungsorientierten Malen erhält der Mensch die Möglichkeit, sich auf die Ebene der Metaphern zu begeben, auf der das Gehirn die Fähigkeit besitzt, Bilder zu entwickeln, die für komplexe Sachverhalte oft besser geeignet sind als die Sprache, da Lösungen oft nicht im Denken, sondern in einer Erweiterung der Wahrnehmung liegen (Egger 2003).

Der deutsche Philosoph, Künstler und Pädagoge Hugo Kükelhaus ging davon aus, dass Wahrnehmung zugleich auch Einsicht bedeutet und entwickelte ein ganzheitliches Konzept der Sinnenschulung. In seiner Vorstellung soll ästhetische Erziehung dazu verhelfen, den Wagnissen des Sehens, Gehens, Hörens und Lebens gerecht zu werden. In diesem Verständnis wird die Entwicklung des Menschen von der Umwelt optimal gefördert, wenn eine Mannigfaltigkeit wohldosierter Reize vorhanden ist, beziehungsweise bereitgestellt wird. Die Vielgestaltigkeit der Umwelt ist für Kükelhaus Lebensbedingung (Kükelhaus 1982).

Dem Gründer des Bauhauses, Walter Gropius, ging es um eine Synthese der Künste unter dem Dach der Architektur, um die Verbindung von Handwerk und Kunst und die Herstellung einer neuen Einheit von |24◄ ►25| Kunst und Industrie: »Von dem richtigen Gleichgewicht der Arbeit aller schöpferischen Organe hängt die Leistung des Menschen ab. Es genügt nicht, das eine oder das andere zu schulen, sondern alles zugleich bedarf der gründlichen Bildung. Daraus ergibt sich Art und Umfang der Bauhauslehre. Sie umfaßt die handwerklichen und wissenschaftlichen Gebiete des bildnerischen Schaffens ...«

Den Bauhauslehrern stand eine zu erneuernde Lebenspraxis vor Augen, die den ganzen Menschen mit seinen sinnlichen Ausdrucksformen beanspruchen sollte: Lernen durch Erfahrung anhand von Sinnesschulung, Materie- und Materialübungen. Die Bauhauslehre war auf Farbe, Form, Klang, Bewegung und Struktur ausgerichtet. Es erfolgte, wie aus den Schriften Johannes Ittens, Paul Klees und Wassily Kandinskys hervorgeht, eine Reduzierung auf Elementares. Kandinsky arbeitete, wenn man es genau nimmt, schon früh auf intermedialer Ebene, bemühte er sich doch um die Umsetzung von Klang in Gestalt und versuchte ein Kunstwerk zu schaffen, in dem klingende Farbakkorde, Farbklang und Farbsprache integriert sein sollten. Aspekte der Transformation, Synthese und Transzendenz sollten deutlich machen, dass künstlerische Formen wie Malerei, Musik und Bewegung nicht für sich wahrgenommen werden können, sondern nur hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit von einem Medium ins andere. Leben und Kunstwerk sollten durch eine sich selbst aufbauende Synthese aller Lebensmomente zu einem alles umfassenden Gesamtwerk des Lebens verschmelzen (Hampe 2003).

4.5 Das spielerische Element

Nach dem, was wir wissen, ist es – gerade in der heutigen Gesellschaft, in der der Leistungs- und Funktionsgedanke schon in die Kindergärten getragen wird – unerlässlich, dem Menschen wieder alternative Erfahrungsräume zur Verfügung zu stellen, in denen er sich spielend erlebt. Er braucht Räume, in denen rezeptive und produktive Erfahrungen sanktions- und bewertungsfrei, losgelöst von Normen und Regeln, gemacht werden können, um einen freien, selbstbestimmten und spielerischen Umgang mit Alltagsanforderungen zu erlernen. In diesen Räumen kann Kreativität als schöpferische Teilhabe an identitätsstiftenden Gestaltungsvorgängen verstanden werden, als das Bemühen um ein |25◄ ►26| ausgewogenes Verhältnis zwischen Regression und Progression. Nur durch Wiederherstellung von Spiel- und Erlebnisfähigkeit können soziale, interaktive und kommunikative Kompetenzen erworben werden, die mit darüber entscheiden, ob ein Mensch phantasievoll an die Welt herangeht oder destruktiv.

Das spielerische Element im künstlerischen Gestalten kann als ursprüngliche und individuelle Form gelten, sich ein eigenes Bild von sich und der Welt zu machen. Kunst fragt nicht nach Sinn und Zweck – es sei denn, sie würde für den Kunstmarkt produziert – und kann somit als zweckfreie Äußerung eines Menschen verstanden werden. Spiel bietet sowohl auf sensomotorisch-affektiver als auch auf symbolischer Ebene die Möglichkeit der Welt- und Selbsterfahrung und steht damit für etwas, das als sinnvoll erlebt wird, ohne dass es eine unmittelbare Funktion erfüllt. Spiel ist freies, nicht aufgetragenes, nicht determiniertes Handeln, das mit einer in sich geschlossenen Form eine eigene Existenzweise darstellt, die nur möglich ist, wenn die Ebene der instrumentellen, gewohnheitsmäßigen Beziehung zur Wirklichkeit verlassen wird. Spiel also verstanden als etwas Überlogisches, das die Vernunft des Menschen einschließt und zugleich über sie hinausgeht und damit als Symbol des Menschlichen schlechthin fungiert (Heimes 2008).

4.6 Lebenstaugliche Lebenskunst

Um Kindern und Jugendlichen eine kreative Lebensbewältigung zu ermöglichen und ihnen die dafür nötigen Impulse zu geben, reicht es nicht, sich in der Ausbildung auf so genannte Grundlagenfächer zu beschränken und alles Künstlerische und Kreative – sowie andere Aktivitäten außerhalb des Lehrplans – als Luxus anzusehen, der gestrichen wird, sobald die Mittel knapp werden. Auch reicht es nicht, Wissen mit einem Trichter in Kinder hineinzufüllen, wie es der Nürnberger Dichter Georg Philipp Harsdörffer in seinem Buch von 1647 vorschlug (Sinapius 2008b). Denn obwohl das Eingießen oder Eintrichtern auch heute noch eine beliebte didaktische Methode ist, kann und darf sie nicht als Methode der Wahl missverstanden werden, sofern man Kinder zu eigenständigen, lebensbejahenden und verantwortlichen Menschen heranwachsen lassen möchte.

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Zum Erlernen einer lebenstauglichen Lebenskunst bedarf es, wie das Wort andeutet, der Kunst, wobei der Begriff als weit gespannter Rahmen zu verstehen ist, der sowohl Begegnungen mit dem eigenen Selbst als auch mit anderen Menschen ermöglicht und Spiel, Neugier und Experimentierfreude als erwünscht betrachtet. Kreativität braucht einen Resonanzraum, in dem Ideen schwingen und sich entwickeln können. Damit individuelle Kreativität nicht ins Leere läuft und sich erschöpft, bedarf es äußerer Impulse und der Möglichkeit, kreative Ideen in eine dialogische Form zu bringen. Um individuelle Kreativität angemessen zu fördern, bedarf es einer proaktiven Haltung, die künstlerische Produkte gleichwertig nebeneinander stehen lässt, neue Ideen vorbehaltlos aufnimmt und Handlungen wohlwollend unterstützt. Nicht umsonst gilt spätestens seit den Erkenntnissen des Schweizer Kinderpsychologen und Pädagogen Jean Piaget, dass es kein Denken, Erkennen und Verstehen ohne aktive Aneignung gibt (Piaget 1975).

Wird Lernen als Handlung verstanden, die ein Mensch aktiv vollzieht oder an der er aktiv beteiligt ist, bedeutet dies, dass er in multiplen, sozialen Kontexten und unter zahlreichen Perspektiven am besten lernen kann, wofür er ein Umfeld braucht, in dem kognitive, praktische und kreative Fähigkeiten sowie andere psychosoziale Ressourcen mobilisiert werden können. Mit einem Satz: Er braucht Spiel-, Projekt- und Begegnungsräume.

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Künstlerische Therapien

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