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2 Rabauken im Taschenformat

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Kein Mensch ist darauf gefasst, dass man ihm plötzlich den Boden unter den Füßen wegzieht; lebensverändernde Ereignisse kündigen sich normalerweise nicht an. Instinkt und Intuition mögen uns helfen, das eine oder andere Warnsignal zu bemerken, gegen das Gefühl der Entwurzelung, das uns befällt, wenn das Schicksal plötzlich unsere Welt auf den Kopf stellt, wappnen sie uns nicht. Du fühlst dich auf den Kopf gestellt wie eine Schneekugel und findest dich wieder in einem Sturm aus Ratlosigkeit, Traurigkeit, Frustration und Zorn. Es dauert Jahre, bis sich der emotionale Staub gelegt hat; bis dahin tust du dein Bestes, um in dem Sturm wenigstens die Hand vor Augen zu sehen.

Die Trennung meiner Eltern verlief geradezu harmonisch. Es gab keinen Streit, keine Szenen, keine Anwälte, kein Gericht. Trotzdem brauchte ich Jahre, um mit meinem Kummer fertig zu werden. Ich hatte ein Stück von dem verloren, was mich ausmachte, und ich musste mich aus mir selbst heraus neu definieren. Ich habe dabei viel gelernt, aber das half mir trotzdem nicht, als später die einzige andere Familie, die ich je hatte, zerbrach. Ich erkannte die Zeichen, die den Beginn der Auflösung von Guns N' Roses markierten. Und obwohl damals ich derjenige war, der ging, geriet ich in denselben emotionalen Strudel, und wie schon beim ersten Mal gelang es mir nur unter großen Schwierigkeiten, mein Leben wieder in die richtige Bahn zu lenken.


Die Trennung meiner Eltern machte über Nacht einen anderen Menschen aus mir. Nicht, dass ich innerlich ein schlechter Mensch geworden wäre, aber nach außen hin wurde ich ein schwieriges Kind. Gefühle auszudrücken gehört noch heute nicht zu meinen Stärken, und damals konnte ich, was in mir vorging, erst recht nicht in Worte fassen. Also folgte ich meinem Instinkt, begann, mich abzureagieren, und wurde in der Schule, was die Disziplin anbelangt, zu einem Problemfall.

Aus dem Versprechen meiner Eltern, es würde sich zu Hause nichts ändern, außer dass ich künftig zwei Wohnsitze hätte, war nichts geworden. Meinen Vater sah ich das erste Jahr so gut wie überhaupt nicht mehr, und die wenigen Begegnungen verliefen eher merkwürdig und völlig un-entspannt. Wie schon gesagt: Die Trennung hatte ihn hart getroffen, und es war nicht einfach für mich, zusehen zu müssen, wie er damit umging. Eine ganze Weile konnte er nicht mehr arbeiten; er schlug sich mehr recht als schlecht durch und hing mit seinen Künstlerfreunden herum. Wenn ich ihn besuchte, beachtete er mich kaum; er saß mit seinen Freunden beisammen und diskutierte bei Unmengen von Rotwein über Kunst und Literatur, wobei er unweigerlich auf seinen Lieblingskünstler Picasso zu sprechen kam. Wir hatten aber auch unsere Abenteuer, gingen in die Bibliothek oder ins Museum, wo wir nebeneinandersaßen und zeichneten.

Meine Mutter war weniger zu Hause denn je; sie arbeitete ununterbrochen, um meinen Bruder und mich durchzubringen. Wir waren meist bei unserer Großmutter, Ola senior, die regelmäßig unsere letzte Rettung war, wenn bei Mom wieder mal das Geld nicht reichte. Oft waren wir auch bei meiner Tante und deren Kindern in South Central. Mit so vielen Kindern im Haus war bei ihr immer mächtig was los. Unsere Besuche rückten unsere Vorstellung davon, was eine Familie war, in gewisser Weise zurecht. Aber alles in allem hatte ich eine Menge Zeit für mich, und das nutzte ich aus.

Als ich zwölf war, wurde ich sehr schnell erwachsen. Ich hatte Sex, ich trank, ich rauchte Zigaretten, ich nahm Drogen, ich klaute, man warf mich von der Schule, und wäre ich nicht minderjährig gewesen, ich wäre einige Male im Gefängnis gelandet. Ich rebellierte; mein Leben war so intensiv und instabil wie meine Gefühle. Während dieser Zeit kam eine Eigenschaft, die bei mir schon immer stark ausgeprägt war, voll zur Geltung: die Besessenheit, mit der ich alles angehe, was immer mich interessiert. Spätestens mit zwölf hatte ich meine erste große Leidenschaft, das Zeichnen, durch eine neue ersetzt: BMX.

1977 war Bicycle-Motocross der neueste Extremsport nach den Surfund Skating-Wellen Ende der 60er-Jahre. Es gab sogar schon einige wenige Stars wie Stu Thompson oder Scott Breithaupt und ein paar Magazine wie Bicycle Motocross Action und American Freestyler. Ständig fanden neue professionelle und semiprofessionelle Wettbewerbe statt. Meine Großmutter kaufte mir ein Webco, und ich war hin und weg. Ich gewann meine ersten Rennen und wurde in einigen Magazinen sogar als vielversprechender Fahrer in der Altersgruppe zwischen dreizehn und vierzehn geführt. Ich war wie besessen; ich wäre sofort Profi geworden, wenn ich einen Sponsor gefunden hätte. Dennoch ging dem Sport etwas ab. Ich war mir meiner Gefühle nicht ausreichend bewusst, um genau sagen zu können, was mir an BMX zur absoluten Befriedigung fehlte. Ich sollte es ein paar Jahre später erfahren, als ich das Richtige fand.

Nach der Schule hing ich in Bike Shops herum und gehörte bald zu einem Team, das für einen Laden namens Spokes and Stuff fuhr. Dort freundete ich mich mit einigen Typen an, die alle viel älter waren als ich -einige von ihnen arbeiteten bei Schwinn in Santa Monica. Zu zehnt oder so kurvten wir jeden Abend in Hollywood rum. Mit Ausnahme von zwei Brüdern kamen wir alle aus Familien, in denen es immer das ein oder andere Problem gab. Wir fanden Trost beieinander; unsere Kameradschaft war das einzig Geregelte in unserem Leben, das Einzige, worauf Verlass war.

Wir trafen uns jeden Nachmittag in Hollywood und fuhren dann kreuz und quer durch die Stadt - von Culver City zu den Teergruben von La Brea im Hancock Park. Die Straßen waren für uns ein einziger großer Bike Park. Wir sprangen von jeder schrägen Fläche, die uns unterkam, und egal, ob Mitternacht oder Rush Hour, die Rechte der Fußgänger waren uns scheißegal. Wir waren nur abgerissene kleine Draufgänger auf noch kleineren Bikes, aber wenn wir zu zehnt im Pulk volle Kanne den Gehsteg lang pesten, dann ging man uns besser aus dem Weg. Wir sprangen auf die Bänke an Bushaltestellen, auch wenn mal einer drauf saß, und bunnyhoppten über Hydranten; und natürlich versuchten wir, einander ständig zu übertrumpfen. Wir waren desillusionierte Teenager, die versuchten, eine schwierige Phase in ihrem Leben zu meistern, und das machten wir eben mit Bunnyhoppen auf den Gehsteigen von L. A.

Außerdem fuhren wir auf dem Dirt Track des Jugendzentrums von Reseda drüben im Valley. Es waren fünfzehn Meilen Anfahrt von Hollywood aus, und weil das auf einem BMX-Rad eine ziemlich strapaziöse Strecke ist, ließen wir uns auf dem Laurel Canyon Boulevard von den Autos mitziehen. So sparten wir eine Menge Zeit. Nicht dass ich das jemandem raten möchte, aber für uns waren Autos eine Art besserer Schlepplift: Wir warteten am Bürgersteig, schnappten uns, einer nach dem anderen, einen Wagen und ließen uns wie auf einer Skipiste den Hügel hochziehen. Auf einem Fahrrad, selbst auf einem mit derart niedrigem Schwerpunkt, die Balance zu halten, während man sich bei fünfzig, sechzig Sachen mitziehen lässt, ist schon auf ebener Strecke aufregend und nicht ganz einfach, aber bergauf durch eine Reihe enger S-Kurven wie im Laurel Canyon ist es der reine Wahnsinn. Im Nachhinein ist kaum zu fassen, dass nie einer von uns unter die Räder gekommen ist. Noch erstaunlicher finde ich, dass ich die Strecke bergauf und bergab absolviert habe, meist auch noch ohne zu bremsen. Da ich der Jüngste war, musste ich mich meiner Ansicht nach meinen Freunden bei jedem Ausflug aufs Neue beweisen, und wenn ich den Ausdruck auf ihren Gesichtern nach einigen meiner Stunts richtig interpretiert habe, gelang mir das auch. Meine Freunde mochten noch Teenager sein, aber leicht zu beeindrucken waren sie nicht.

Um die Wahrheit zu sagen, wir waren eine beinharte kleine Gang. Nehmen wir Danny McCracken. Danny war sechzehn, ein starker, schwerer, stiller Typ, von dem man instinktiv wusste, dass man sich mit ihm besser nicht anlegt. Eines Abends stahlen Danny und ich ein Rad mit gebogener Gabel, und während er Bunnyhops machte, um die Gabel zu brechen, lachten wir anderen uns schier tot. Schließlich fiel er über den Lenker und riss sich das Handgelenk auf. Ich sah es kommen und guckte paralysiert zu, als das Blut umherzuspritzen begann.

»Ahhh!«, rief er aus. Noch unter Schmerzen hörte Danny sich merkwürdig leise an, bedenkt man seine Größe - fast wie Mike Tyson.

»Verdammte Scheiße!«

»Fuck!«

»Danny hat's voll erwischt.«

Danny wohnte gleich um die Ecke, also drückten ihm zwei von uns die Hände aufs Handgelenk, und während uns das Blut durch die Finger quoll, brachten wir ihn nach Haus.

Wir erreichten seine Veranda und klingelten. Seine Mutter machte auf, und wir zeigten ihr Dannys Arm. Sie sah uns ungerührt an, als könnte sie es nicht glauben.

»Was zum Teufel, meint ihr, soll ich denn da machen?«, fragte sie und knallte die Tür wieder zu.

Wir hatten keine Ahnung, was wir tun sollten; Danny war mittlerweile blass geworden. Wir wussten nicht mal, wo das nächste Krankenhaus war. Während er uns noch immer mit Blut vollspritzte, brachten wir ihn wieder zur Straße und hielten das erste Auto an, das wir sahen.

Ich steckte meinen Kopf durch das Fenster. »Hey, mein Freund verblutet«, rief ich hysterisch, »können Sie ihn ins Krankenhaus fahren? Er stirbt!« Zu unserem Glück war die Frau, die am Steuer saß, Krankenschwester.

Sie setzte Danny auf den Beifahrersitz, und wir rasten auf den Rädern hinter ihr her. In der Notaufnahme brauchte Danny nicht zu warten; das Blut quoll ihm aus dem Handgelenk wie einem Opfer in einem Horrorfilm, also nahmen sie ihn sofort dran. Die Ärzte flickten ihm das Handgelenk, aber damit war es noch nicht ausgestanden: Als er zu uns in den Wartesaal zurückkam, riss eine der frischen Nähte irgendwie wieder auf, und das Blut schoss bis an die Decke. Es war richtig eklig, und die Leute rundum flippten völlig aus. Logisch, dass Danny gleich wieder drankam. Diesmal hielten die Nähte.


Die ganz normalen unter uns waren John und Mike, die wir die Cowabunga Brothers nannten. Sie waren normal, weil sie aus geordneten Verhältnissen stammten. Sie kamen aus dem Valley, wo das typische amerikanische Vorstadtleben blühte; ihre Eltern vertrugen sich, sie hatten Schwestern und wohnten in einem netten, putzigen Haus. Aber sie waren nicht unser einziges Brüderpaar: Da gab es noch Jeff und Chris Griffin; Jeff war der Ältere und arbeitete bei Schwinn, Chris war sein jüngerer Bruder. Jeff war sozusagen der Erwachsene in der Crew; er war achtzehn und hatte einen Job, den er ernst nahm. Er und Chris waren nicht so normal wie die Cowabungas, weil Chris verzweifelt versuchte, seinem älteren Bruder nachzueifern, was ihm aber absolut nicht gelang. Die beiden hatten eine heiße Schwester namens Tracey, die sich die Haare bloß deshalb schwarz gefärbt hatte, weil alle anderen in der Familie blond waren. Tracey lief schon rum wie ein Grufti, lange bevor das ganze Goth-Zeug in Mode kam.

Und da war noch Jonathan Watts, der größte Spinner von uns allen. Er war schlicht verrückt; er machte einfach alles, was ihm in den Sinn kam, es war ihm egal, ob er sich dabei etwas brach oder er im Gefängnis landete. Ich war erst zwölf, aber schon damals verstand ich genug von Musik, um es etwas merkwürdig zu finden, dass Jonathan und sein Dad voll auf Jethro Tull abfuhren. Die beiden beteten Jethro Tull regelrecht an. Leider ist Jonathan nicht mehr unter uns; er starb an einer Überdosis, nachdem er erst jahrelang ein schlimmer Säufer und dann ein fanatischer Antialkoholiker gewesen war. Ich hatte ihn lange aus den Augen verloren, bevor ich ihn schließlich bei einem AA-Meeting wiedersah, zu dem mich ein Richter nach einer Verhaftung Ende der 80er-Jahre verdonnert hatte (dazu kommen wir später noch). Erst wollte ich meinen Augen nicht trauen: Ich ging zu dem Treffen, hörte mir an, was die Leute zu sagen hatten, und nach einer Weile wurde mir klar, dass der Typ, der das Treffen leitete, der Typ, der genauso fanatisch über Nüchternheit sprach wie Lieutenant Bill Kilgore, Robert Duvals Figur aus Apocalypse Now, übers Surfen, kein anderer war als Jonathan Watts. Die Zeit ist ein erstklassiger Katalysator für Veränderungen; man kann nie wissen, was aus verwandten Seelen so wird - oder wann sie wieder zueinander finden.

Damals verbrachte ich mit diesen Typ so manchen Abend hinter der Laurel Elementary School, deren Spielplatz wir ziemlich kreativ nutzten. Es war ein Treff für die Kids aus Hollywood, für jeden, der ein Bike oder ein Skateboard hatte, einen Schluck Alkohol oder ein bisschen Gras. Der Spielplatz teilte sich in zwei Hälften, davon lag eine höher und war mit der anderen durch lange Betonrampen verbunden. Es war einfach eine Herausforderung für Biker wie Skater. Wir nutzten den Platz ganz für unsere Zwecke aus, indem wir die Picknicktische zerlegten und zu Rampen umfunktionierten, mit denen der Höhenunterschied zwischen den beiden Ebenen zu überwinden war. Ich bin nicht stolz darauf, ständig öffentliches Eigentum demoliert zu haben, aber auf meinem Bike die beiden Rampen hinunterzurasen und über den Zaun zu springen, war ein Kick, der es einfach wert war. So kriminell sie gewesen sein mochte, die Szene dort zog eine Menge kreativer Typen an; Kids aus Hollywood, die später Großes leisteten, hingen dort rum. Ich erinnere mich noch daran, dass Mike Balzary, heute besser bekannt als Flea, dort Trompete spielte und Graffitikünstler immer wieder ihre Pieces an die Wände sprühten. Es war nicht das richtige Forum, aber alle waren stolz auf die Szene, die sie dort geschaffen hatten. Leider waren die Schüler und Lehrer der Grundschule wenig begeistert, ständig die Zeche zahlen zu müssen: Jeden Morgen mussten sie erst mal aufräumen und den Müll wegschaffen.

Der Direktor entschied sich unklugerweise, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, indem er uns eines Abends auflauerte, um uns zur Rede zu stellen. Das kam gar nicht gut an; wir zogen ihn auf, er regte sich fürchterlich auf, und schließlich gerieten wir aneinander. Die Sache lief rasch aus dem Ruder, und ein Passant rief die Bullen. Es gibt nichts, was einen Haufen Kids schneller auseinandertreibt als eine Sirene, also gelang es den meisten zu entkommen. Dummerweise gehörte ich nicht dazu. Ich und noch ein anderer waren die Einzigen, die man erwischte. Sie ketteten uns mit Handschellen an ein Geländer vor der Schule, direkt an der Straße, wo alle uns sehen konnten. Wir ähnelten zwei gefangenen Tieren, die nicht weglaufen konnten, und wir waren alles andere als glücklich darüber. Wir verweigerten die Zusammenarbeit, machten auf Klugscheißer und verkniffen uns gerade noch, sie als Bullenschweine zu beschimpfen. Immer wieder stellten sie uns Fragen und gaben sich alle Mühe, uns Angst einzujagen, aber wir nannten ihnen weder unsere Namen noch unsere Anschrift, und da Zwölfjährige keinen Ausweis bei sich haben müssen, ließen sie uns schließlich laufen. Was hätten sie sonst auch tun können?


Ich kam in die Pupertät, als ich etwa Dreizehn war. Ich besuchte gerade die Bancroft Junior High in Hollywood. Das Durcheinander meiner Gefühle wegen des Zerfalls meiner Familie trat mit dem gnadenlosen Ansturm der Hormone erst mal in den Hintergrund. Den ganzen Tag in der Schule herumzusitzen, schien mir sinnlos, also begann ich, blau zu machen. Ich fing an, regelmäßig Pot zu rauchen, und fuhr wie ein Besessener Rad. Ich hatte Schwierigkeiten, mich zu beherrschen; ich wollte einfach immer das tun, worauf ich gerade Lust hatte. Eines Abends, als ich mit meinen Freunden überlegte, wie wir bei Spokes and Stuff, dem Fahrradgeschäft, in dem wir immer herumhingen, einbrechen könnten - ich weiß noch nicht mal mehr warum - sah ich einen Jungen, der uns durch das Fenster einer Wohnung auf der anderen Seite der Gasse beobachtete.


»Was glotzt 'n so?«, rief ich. »Glotz mich nicht an!« Dann warf ich einen Ziegel nach ihm durch das Fenster.

Seine Eltern riefen natürlich die Bullen, und das Duo, das auf die Beschwerde reagierte, jagte mich und meine Freunde für den Rest der Nacht kreuz und quer durch die Stadt. Wir radelten um unser Leben: erst Hollywood, dann West Hollywood. Wir nahmen Einbahnstraßen und fuhren direkt in den entgegenkommenden Verkehr, wir rasten durch Gassen und Parks. Die beiden Bullen waren hartnäckiger als Gene Hackmans Jimmy »Popeye« Doyle in French Connection; jedes Mal, wenn wir um eine Ecke kamen, waren sie auch schon da. Schließlich flohen wir in die Hollywood Hills und versteckten uns in einem abgelegenen Canyon wie eine Bande Outlaws im Wilden Westen. Und genau wie in einem Cowboyfilm fingen uns die Deputys genau in dem Moment ab, als wir dachten, es sei sicher, das Versteck wieder zu verlassen und auf die Ranch zurückzukehren.

Als meine Freunde und ich auseinanderstoben, beschlossen sie, sich nur mir an die Fersen zu heften, vermutlich weil ich der Jüngste war. Ich strampelte um mein Leben durchs ganze Viertel, konnte sie aber nicht abschütteln, bis ich schließlich mein Glück in einer Tiefgarage suchte. Ich schoss einige Ebenen hinab, raste im Zickzack zwischen den geparkten Autos hindurch und versteckte mich zuletzt in einer finsteren Ecke. Ich legte mich auf den Boden und hoffte, sie würden mich nicht finden. Sie waren zu Fuß in die Garage gelaufen, und als sie endlich auf meine Ebene kamen, war ihnen wohl die Lust vergangen. Zunächst suchten sie mit ihren Taschenlampen zwischen den Autos, doch vielleicht dreißig Meter von mir entfernt machten sie kehrt. Ich hatte noch mal Glück gehabt. Diese Schlacht zwischen uns Kids und der Polizei von Los Angeles zog sich den ganzen Sommer hin, und sicher hätte ich mit meiner Zeit etwas Besseres anfangen können, aber genau das verstand ich damals eben unter Spaß.

Ich war zu dieser Zeit schon ziemlich gut, wenn es darum ging, meine Angelegenheiten für mich zu behalten, und als man mich schließlich erwischte, gingen Mom und Großmutter ziemlich nachsichtig mit mir um. Während des ersten Jahres auf der High School war ich so selten wie möglich zu Hause. Daher hatte ich im Sommer 1978 auch gar keine Ahnung, dass meine Großmutter in eine Wohnung zog. Sie lag in einem wirklich monströsen neuen Gebäudekomplex, der einen ganzen Block zwischen Kings Road und Santa Monica Boulevard einnahm. Ich kannte ihn gut, weil wir schon oft auf der Baustelle herumgedüst waren. Meine Freunde und ich rauchten was und fuhren dann Rennen durch die Korridore und über die Treppen; wir knallten einander Türen vor der Nase zu, sprangen auf Treppengeländer und hinterließen Reifenspuren auf jeder frisch gestrichenen Wand. Einmal, als wir wieder mal voll dabei waren und ich wie ein Irrer um eine Ecke raste, standen plötzlich meine Mutter und meine Großmutter vor mir. Ich hätte sie beinahe über den Haufen gefahren, als sie mit dem Kram meiner Oma beladen auf dem Weg in die neue Wohnung waren. Nie werde ich den Blick auf dem Gesicht meiner Großmutter vergessen - eine Mischung aus Schock und Entsetzen. Ich riss mich zusammen, warf einen Blick über die Schulter und sah meine Freunde um eine Ecke verschwinden. Ich hatte einen Fuß auf dem Boden, einen auf dem Pedal und dachte immer noch, ich käme davon.

»Saul?«, sagte Oma in ihrer viel zu lieben hohen Großmutterstimme. »Bist du das?«

»Ja, Großmama«, sagte ich. »Ich bin's. Wie geht's? Wir wollten dich eben besuchen, meine Freunde und ich.«


Bei meiner Mutter kam ich mit dieser Tour natürlich nicht durch, aber meine Oma schien beinahe froh, mich zu sehen. Letztlich ging alles sogar so gut, dass ich ein paar Wochen später selbst in die Wohnung einzog, und von da an gingen meine Abenteuer an der Junior High in Hollywood erst richtig los. Aber dazu kommen wir gleich.


Ich spare mir eine grosse Analyse hinsichtlich meiner zweiten neuen Leidenschaft - der Kleptomanie. Belassen wir es einfach dabei, dass ich ein pubertierender Jugendlicher war und wütend auf die ganze Welt. Ich klaute, was ich zu brauchen meinte, mir aber nicht leisten konnte. Ich klaute, was mich meiner Ansicht nach glücklich machen würde. Manchmal klaute ich auch einfach nur, um zu klauen.

Ich klaute eine Menge Bücher, weil ich schon immer gern gelesen habe; ich stahl zentnerweise Kassetten, weil ich gern Musik hörte. Für die, die zu jung sind, um die Dinger noch kennengelernt zu haben: Kassetten hatten einige Nachteile; sie nutzten sich ab oder verhedderten sich in der Mechanik des Abspielgeräts, und wenn die Sonne direkt darauf schien, begannen sie zu schmelzen. Aber sie ließen sich einfach klauen. Weil sie dünner als Zigarettenschachteln waren, konnte man sich als ehrgeiziger Langfinger unbemerkt das gesamte Werk einer Band in die Klamotten stecken und damit aus dem Laden gehen.

In meiner schlimmsten Zeit stahl ich so viele Tapes wie in meine Tasche passten, lud meine Beute dann in einem Gebüsch ab und ging noch mehr stehlen, manchmal sogar im selben Laden. Eines Nachmittags stahl ich in der Aquarium Stock Company ein paar Schlangen. Ich hing so oft in dieser Tierhandlung herum, dass meine Anwesenheit dort gar nicht weiter auffiel, und so kamen sie wohl nicht auf den Gedanken, ich könne dort etwas stehlen. Völlig daneben lagen sie nicht: Ich war wirklich wegen der Tiere dort - ich hatte nur zu wenig Respekt vor dem Laden, um nicht ab und an eines von ihnen mit nach Hause zu nehmen. Ich klaute die Schlangen, indem ich sie mir ums Handgelenk wickelte und dann die Jacke darüber zog; ich musste nur aufpassen, dass ich sie hoch genug um den Unterarm wand. Eines Tages ging ich wirklich in die Vollen und nahm gleich einen ganzen Schwung Schlagen mit, die ich dann draußen zwischenbunkerte, um auch gleich noch die Bücher zu klauen, in denen stand, wie man diese exotischen Viecher versorgte.

Bei einer anderen Gelegenheit ließ ich ein Dreihornchamäleon mitgehen, was wegen seiner langen Hörner gar nicht so einfach war. Diese Viecher fressen Fliegen, sind knapp dreißig Zentimeter lang - ungefähr so groß wie kleine Leguane - und haben ganz merkwürdige, vorstehende Glubschaugen. Ich muss damals schon eine ganze Menge Mumm gehabt haben - es war ein wirklich seltenes und teures Exemplar. Ich bin damit einfach aus dem Laden gegangen. Als ich mit dem kleinen Kerl nach Hause ging, wollte mir kein Märchen einfallen, mit dem ich meiner Mutter seine Anwesenheit in meinem Zimmer hätte erklären können. Ich beschloss daher, ihn draußen zu lassen, neben unseren Mülltonnen in dem umzäunten Hof hinterm Haus. Da ich auch gleich ein Buch über Dreihornchamäleons hatte mitgehen lassen, wusste ich, dass er gern Fliegen fraß, und ich hätte mir keinen besseren Platz für Old Jack vorstellen können als den Zaun hinter unseren Mülltonnen, wo es Fliegen in Hülle und Fülle gab. Es war jeden Tag ein Abenteuer, den Knaben zu finden, so gut passte er sich seiner Umgebung an - schließlich war er ein Chamäleon. Ich brauchte also immer einige Zeit, um ihn aufzuspüren; das war eine Herausforderung, die mir gefiel. Ich verbrachte etwa fünf Monate mit dem kleinen Kerl. Seine Tarnung wurde von Tag zu Tag besser, und eines Tages fand ich ihn einfach nicht mehr. Zwei Monate lang ging ich jeden Tag hin, um ihn zu suchen, aber es hatte keinen Sinn. Ich habe keine Ahnung, was aus Old Jack geworden ist, aber wenn ich daran denke, was ihm alles widerfahren sein könnte, hoffe ich, dass es ihm gut ergangen ist.

Ich kann wirklich von Glück sagen, dass man mich bei meinen Abenteuern als Langfinger größtenteils nie erwischte, weil ich es echt übertrieb. Um nur ein Beispiel dafür zu nennen, welches Ausmaß meine Eskapaden annahm: Auf eine Wette mit meinen Freunden hin klaute ich ein aufgeblasenes Schlauchboot aus einem Sportgeschäft. Es bedurfte einiger Planung, das durchzuziehen, und man hat mich auch dabei nicht erwischt.

Weil es mittlerweile egal ist, werde ich mal meine »Methode« verraten, wenn man das überhaupt so nennen will. Das Schlauchboot hing in dem Laden an einer Wand in der Nähe der Hintertür, die über einen Korridor auf die Gasse hinter dem Haus führte. Nachdem ich die Hintertür einmal aufgekriegt hatte, ohne Verdacht zu erregen, war es ein Klacks, das Boot von der Wand zu nehmen. Und als es erst mal auf dem Boden lag, hinter einem Regal mit Campingkram oder was immer es gewesen sein mochte, wartete ich einfach den richtigen Augenblick ab, um es nach draußen zu zerren. Ich schleppte es um die Ecke, wo mich meine Freunde erwarteten. Nachdem ich auf diese Weise bewiesen hatte, dass mein Plan aufging, packte ich das Ding und zerrte es einen Block weiter, wo ich es auf dem Rasen vor einem Haus einfach liegen ließ.

Ich bin nicht stolz darauf, aber wenn mein Rad zehn Meilen von zu Hause einen Platten bekam und ich kein Geld bei mir hatte, war ich froh, dass ich bei Toys „R" Us einfach einen Schlauch mitgehen lassen konnte. Wer weiß, was mir passiert wäre, wenn ich damals nach Hause hätte trampen müssen. Trotzdem muss ich, wie jeder, der das Schicksal wiederholt herausfordert, eines gestehen: So oft man sich die Notwendigkeit seines eigenen Tuns, von dem man genau weiß, dass es nicht in Ordnung ist, auch einreden mag: Irgendwann holen einen die Folgen ein.

Beim Klauen erwischte man mich letzten Endes bei Tower Records am Sunset Boulevard, dem Lieblingsplattengeschäft meiner Eltern. Ich erinnere mich an den Tag, als wäre es gestern gewesen: Es war einer jener Augenblicke, in denen ich genau wusste, dass irgendwas in die Hose gehen würde, und trotzdem ließ ich mich auf das Abenteuer ein. Ich war fünfzehn, glaube ich, und ich erinnere mich noch genau: Als ich mein BMX-Rad draußen abstellte, dachte ich mir, ich sollte in dem Laden künftig vorsichtig sein. Auf kurze Sicht half mir die Erkenntnis leider nicht; ich stopfte mir gierig Kassetten in Jacke und Hose, und zwar derart viele, dass ich mir dachte, ich sollte besser ein paar Alben kaufen, um bei den Kassierern keinen Verdacht aufkommen zu lassen. Ich glaube, ich hatte Cheap Tricks Dream Police und Led Zeppelins Houses of the Holy in der Hand, als ich zur Kasse ging. Und nachdem ich bezahlt hatte, dachte ich, ich hätte es geschafft.

Ich war schon draußen und wollte eben in die Pedale treten, als ich eine schwere Hand auf meiner Schulter spürte. Ich stritt natürlich alles ab, aber sie hatten mich ja erwischt. Sie brachten mich in einen Raum über dem Laden, von wo aus sie mich über einen venezianischen Spiegel beim Klauen beobachtet hatten. Sogar die Videoaufzeichnung spielten sie mir vor. Sie riefen meine Mutter an; ich rückte die Tapes raus, und sie stapelten sie auf einem Tisch auf, um sie meiner Mutter zeigen zu können. Man hat mir ja eine Menge durchgehen lassen als Kind, aber ausgerechnet beim Kassettenklauen in dem Laden erwischt zu werden, in dem meine Eltern seit Jahren Kunden waren, das war ein schlimmes Vergehen - weniger des Gesetzes als der Familienehre wegen. Nie werde ich den Ausdruck auf Olas Gesicht vergessen, als sie in das Büro kam und mich neben all dem Kram sitzen sah, den ich geklaut hatte. Sie sagte nicht viel, aber das brauchte sie auch nicht. Die Zeit, da sie glaubte, ich würde schon nichts Schlimmes anstellen, war damit vorbei, soviel war mir klar.

Letzten Endes verzichtete Tower Records auf eine Anzeige, schließlich hatten sie die Ware wieder zurückbekommen. Sie waren gnädig und ließen mich unter der Bedingung, den Laden nie wieder zu betreten, gehen, höchstwahrscheinlich weil einer der Manager meine Mutter erkannt hatte und wusste, dass sie eine Stammkundin war.

Als man mich sechs Jahre später in der Videoabteilung dieses Ladens einstellte, arbeitete ich die ersten sechs Monate dort in der ständigen Überzeugung, irgendjemand würde sich daran erinnern, dass man mich dort einst beim Klauen erwischt hatte, und dass sie mich dann feuern würden. Ich fürchtete, jeden Augenblick würde einer darauf kommen, dass ich auf dem Antragsformular das Blaue vom Himmel herunter gelogen hatte, und daraus auf die Wahrheit schließen: nämlich, dass das, was ich dort hatte mitgehen lassen, bevor ich erwischt worden war, mehr als nur einige Monatsgehälter wert war.


Mein ganzes aus den Fugen geratenes Leben sollte sich im Lauf der nächsten acht Jahre stabilisieren, so richtig allerdings erst, als ich eine Familie fand, die meinem eigenen Geschmack entsprach.

In dem Vakuum, in dem mich die Auflösung meiner Familie zurückgelassen hatte, schuf ich mir meine eigene Welt. Ich hatte das große Glück, trotz meiner damals jungen Jahre und in einer Zeit, in der ich meine Grenzen auslotete, einen Freund zu finden, der seither nie außer Reichweite gewesen ist, auch wenn uns gerade einmal Welten trennten. Er ist heute noch einer meiner engsten Vertrauten, und das will nach dreißig Jahren eine ganze Menge heißen.

Ich spreche von Marc Canter. Seiner Familie gehört mit dem Canter's Deli an der North Fairfax Avenue eine der ganz großen Institutionen der Stadt. Die Canters stammten aus New Jersey und hatten das Restaurant in den 1940ern aufgemacht. Es war von Anfang an ein Treff für Leute aus dem Showbusiness gewesen, nicht nur wegen des Essens, sondern auch weil es rund um die Uhr geöffnet hat. Es liegt nur eine halbe Meile vom Sunset Strip entfernt, wurde in den 60ern eine Anlaufstelle für Musiker und ist es bis heute geblieben. In den 80ern pfiffen sich Bands wie die Guns dort so einige Male spät nachts noch was ein. Der Kibbitz Room, die Bar mit Bühne gleich nebenan, gehört ebenfalls den Canters; hier haben mehr große Acts gespielt, als ich aufzählen könnte. Die Canters waren wie eine Offenbarung für mich. Sie gaben mir einen Job und ließen mich bei ihnen schlafen; ich kann ihnen gar nicht genug danken.

Kennengelernt habe ich Marc in der Grundschule in der Third Street. Angefreundet haben wir uns allerdings erst, als ich in der fünften Klasse um ein Haar sein Bike geklaut hätte.

Unsere Freundschaft war von Anfang an sehr eng. Er und ich hingen im Hancock Park rum, der in der Nähe der besseren Gegend lag, in der er wohnte. Wir gingen meist runter zur Ruine des Pan Pacific Theaters, wo heute das Grove Shopping Center steht. Das Pan Pacific war ein ganz unglaubliches Relikt. In den 40ern war es ein nobler Filmpalast mit Kuppelgewölbe und riesiger Leinwand gewesen, ein Ort, der die Kinokultur einer ganzen Generation versinnbildlichte. Selbst zu meiner Zeit war es noch schön: Die grünen Art-Deco-Bögen waren noch intakt, wenn auch der Rest schon zu Bruch gegangen war. Gleich daneben gab es eine Stadtbibliothek und einen Park mit Freibad und Basketballplatz. Wie die Laurel Elementary war auch das Kino ein Treffpunkt für zahlreiche Kids zwischen zwölf und achtzehn, die Nacht für Nacht ihren Weg dorthin fanden.

Meine Freunde und ich gehörten zu den Jüngeren dieser Szene. Es gab dort Mädchen, die für uns so unerreichbar waren, dass wir nicht mal von ihnen träumen durften - nicht dass wir's nicht trotzdem taten. Es gab dort Schulabbrecher und allerhand sonstige Randfiguren, von denen einige sogar in der Kinoruine hausten; sie lebten von Lebensmitteln, die sie auf dem Farmer's Market klauten, der zweimal die Woche gleich nebenan stattfand. Marc und ich waren fasziniert. Man akzeptierte uns dort, weil wir für gewöhnlich Gras hatten, und das kam immer gut an. Marc kennenzulernen veränderte etwas in mir; er war mein erster bester Freund - er verstand mich, wenn ich das Gefühl hatte, dass mich sonst keiner versteht. Keiner von uns führte ein Leben, das man als normal hätte bezeichnen können, aber ich bin stolz darauf, sagen zu können, dass wir uns heute noch so nahestehen wie eh und je. Das ist meine Definition von Familie. Ein Freund kennt einen nach Jahren immer noch genauso gut wie früher, selbst wenn man sich eine Ewigkeit nicht gesehen hat. Ein wahrer Freund ist nicht nur im Urlaub oder an den Wochenenden für einen da; ein wahrer Freund ist da, wenn man ihn braucht.

Ich erfuhr das einige Jahre später am eigenen Leib: Es war mir damals egal, wenn ich kaum genug zu Essen hatte, so lange ich nur ausreichend Geld besaß, um die Werbetrommel für Guns N' Roses zu rühren. Und als ich kein Geld hatte, um Flyer zu drucken oder mir auch nur einen Satz neuer Gitarrensaiten zu kaufen, da war Marc für mich da. Er lieh mir das Geld, das ich brauchte, um zu tun, was unbedingt getan werden musste. Ich gab es ihm zurück, sobald ich dazu in der Lage war, also nachdem die Guns ihren Plattenvertrag hatten, doch ich werde Canter nie vergessen, dass er für mich da war, als es mir dreckig ging.


Slash

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