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Yerions Beute

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In Yian Mah wählten die Hexen die Väter ihrer Kinder nach eigenem Gutdünken. Mauro konnte davon ausgehen, dass er diese Nacht nicht allein verbringen würde. Ein wandernder Zauberer war eine begehrte Jagdtrophäe. Einige hübsche Mädchen hatten bereits Interesse signalisiert. Die Wahl verpflichtete niemanden. Yian Mah kannte kein eheähnliches Treueversprechen. Dennoch ermutigte Mauro keines der kichernden jungen Dinger, die ihn verheißungsvoll anhimmelten. Er wartete auf eine, die ihm ebenbürtig war.

Sie kam in Gestalt von Yerion, der jüngsten Tochter der Hexenkönigin. Sobald sie den Saal betrat, richteten sich alle Blicke auf sie. Yerion gab den rangniedrigeren Frauen ein Signal, sich zurückzuziehen. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und sah Mauro prüfend an. Der Tanz konnte beginnen.

Mauro kannte Yerion aus einer Zeit, als sie gerade an der Schwelle zur Frau stand. Niemals hätte der Jüngling sich einer Tochter der Hexenkönigin zu nähern gewagt. Dass sie ihn jetzt erwählte, schmeichelte seiner Eitelkeit. Dennoch war er nicht naiv genug, diese Ehre seinem Charme zuzuschreiben. Yerion wusste, was sie wollte und wie sie es bekommen konnte. Wenn sie ihm ihre Gunst erwies, hatte das seinen Preis. >Vorsicht< mahnte Mauros Verstand. Doch die Augen folgten jeder ihrer Bewegungen.

Yerion war gewiss keine Schönheit. Ihr Mund war ein wenig zu breit, doch ihre Lippen wirkten sinnlich. Ihr Hang zur Trägheit hatte etwas Laszives. Sie war etwas zu klein für ihr Gewicht. Wenn sie aber wie jetzt die Hüften schwang, schienen ihre Rundungen zum Hineinsinken aufzufordern.

Yerion kannte ihre Wirkung. Sie wusste genau, was es brauchte, um einen Mann gefügig zu machen. Jedes Lächeln und jede Geste war kalkuliert. Sie vermied unnötige Anstrengungen. Deshalb ging sie ohne Umschweife auf ihr Ziel los: „Ihr sagt, Ihr wollt nicht für Yian Mah in den Kampf ziehen. Selbst Gold und Edelsteine können Euch nicht locken. Ist das wahr?“

„Es ist wahr. Eure Mühen sind vergebens.“ Mauros Verstand rang um Kontrolle: > Lass Dich nicht einwickeln. Sie spielt mit Dir wie die Katze mit der Maus. Such das Weite, ehe es zu spät ist! < Doch das Raubtier in ihm hatte längst ihre Witterung aufgenommen.

Inzwischen gehörte ihnen die Halle allein. Alle anderen hatten sich in ihre Gemächer zurückgezogen. Yerion wählte eine Säule in Mauros Nähe und schmiegte sich mit dem Rücken dagegen. Jede ihrer Bewegungen war pure Provokation. Dass Mauro ihr nicht sofort zu Füßen lag, machte das Spiel umso reizvoller: „Vielleicht war der Preis, den meine Mutter bot, zu gering?" Die Art, wie Yerions Hände die Säule umspielten, ließ ahnen, welchen Preis sie im Sinn hatte.

"Ich bin nicht käuflich, hohe Dame.“ Doch statt ihr die kalte Schulter zu zeigen, kam Mauro auf sie zu.

Yerion bemerkte es und lachte: "Ich glaube Euch nicht." Sie fuhr fort, sich provokativ an der Säule zu räkeln. "Jeder hat seinen Preis. Nennt den Euren!"

Mauro rief sich zur Ordnung. Ein Handel mit Yerion war nicht zu seinem Vorteil – vor allem, wenn sie die Bedingungen diktierte. "Vergesst es", sagte er harsch und wandte sich ab.

Yerion bewegte sich wie eine Katze, die schnurrend um seine Beine strich: „Wie könnte ich vergessen, welch machtvoller Krieger Ihr seid?"

„Ein jähzorniger Krieger und düsterer Zauberer.“ Mauro lachte bitter. „Zu lange habe ich gekämpft, zu viele unsinnige Schlachten geschlagen. Für mich ist es Zeit, das Schwert niederzulegen. Mein Sinn steht nach Versöhnung."

„Ihr werdet keine Versöhnung finden, ehe Ihr Euch mit Euch selbst versöhnt", schnurrte die Katze Yerion. „Das kann dauern. Bis dahin könnt Ihr ebenso gut für mich kämpfen." Mittlerweile hatte sie ihn schon weit in ihre Welt hineingezogen. Die Konturen der Halle waren verschwunden. Nun gab es nur noch sie beide.

Mauro merkte, wie sie seine Sinne verwirrte. Sein Bestreben, die Kontrolle zu behalten, kämpfte gegen das Verlangen und den Reiz der Gefahr. Er wusste, es ging um Macht. Er konnte sie nur gewinnen, wenn er sich nicht unterwarf. War er stark genug, um in diesem Spiel zu bestehen?

Yerion verstand es meisterlich, seine Begierde anzufachen. Immer, wenn seine Lippen die ihren beinahe berührten, entzog sie sich: "Ihr kennt den Preis. Unterwerft Euch. Zieht für Yian Mah in den Kampf."

"Das wird nicht geschehen."

"Warum sträubt Ihr Euch? Als Jüngling habt Ihr eine Schlacht für uns entschieden. Wie viel stärker seid Ihr heute, als Zauberer und als Mann!" Während sie ihn umschmeichelte, gelang es ihr, mit einem Bannzauber seine Hände an einer Säule zu fixieren. Ungehindert berührte sie seinen Körper, bis er vor Verlangen aufstöhnte. "Seht her, Ihr bekommt Euren Preis als Vorschuss. Holt ihn Euch." Ihr Gesicht war dem seinen ganz nah.

Yerion manipulierte Mauros Wahrnehmung und verwandelte sich in einen Panther. Sie fauchte und fuhr ihm mit ihren Krallen über die Brust: "Es ist wenig genug, was ich für meine Dienste verlange. Schwört mir Gefolgschaft!"

Mauro setzte ihr seinen unbändigen Willen zur Unabhängigkeit entgegen und brach ihren Bannzauber. Dadurch konnte er seine Hände aus der Umklammerung lösen. "Ihr seht das zu einseitig. Auch ich besitze etwas, das Ihr haben wollt. Unterwerft Euch mir, so will auch ich mich Euch unterwerfen!" Mit diesen Worten wurde er ebenfalls zum Panther. Eine Weile umschlichen sie einander. Dann setzte Mauro zum Sprung an. Er packte und duckte sie, wie ein Kater es mit der Katze tun würde.

Die unterlegene Position gefiel Yerion nicht. Sofort nahm sie wieder ihre menschliche Gestalt an: "Nackte Gewalt. Ist das alles, was Ihr mir entgegenzusetzen habt?"

Auch Mauro richtete sich wieder zur menschlichen Gestalt auf: "Der Kater antwortet der Katze, der Mann der Frau, der Zauberer der Hexe. Auf welcher Ebene wollt Ihr mit mir sprechen?"

Yerion begriff ihren Irrtum. Gelänge es ihr, ihn zu besiegen, wäre er wertlos für ihr Ziel. Es gab nur einen Weg, ihn zu gewinnen: "Ich spreche als Herrscherin meiner Welt zum Herrscher Eurer Welt. Auf gleicher Augenhöhe."

"Da könnten wir uns treffen."

Als er jetzt seinen Arm nach ihr ausstreckte, entzog sie sich ihm nicht. Mauro näherte sich vorsichtig. Sie kam ihm entgegen und forderte mehr. Während sie einander küssten, fasste Yerion Mauro am Gürtel und dirigierte ihn zu ihrem bevorzugten Divan. Sie ließ sich in die weichen Polster fallen und zog ihn zu sich. Sobald Mauro sicher war, dass sie keine Tricks mehr versuchen würde, ließ er seiner Leidenschaft freien Lauf.

Als Yerion sich bei Tagesanbruch anschickte, ihr gemeinsames Lager zu verlassen, fiel ihr Blick auf Mauros entblößten Oberarm. Da war der Wolfskopf, das eintätowierte Zunftzeichen der Zaubergilde von Orod Ithryn. Es saß nicht an seiner üblichen Stelle am Trizeps, sondern weiter unten. Man hatte es dort angebracht, um das Zunftzeichen der weißen Gilde des Eispalastes zu überdecken. Das war nicht gelungen. Die Zunftzeichen besaßen ein Eigenleben, sie konnten sich verändern und offenbar auch schützen. Die beiden feindlichen Zeichen waren untrennbar ineinander verwoben. Oben drüber, an der Stelle wo sonst der Wolfskopf saß, prangte ein schwarzer Drache.

Mauro folgte ihrem Blick. "Das ist nicht, was Ihr denkt. Ich bin kein Nachkomme des Königshauses von Ambar, nur der Sohn eines einfachen Schmiedes aus Brig. Brig liegt dort, wo die Welt zu Ende ist, " fügte er mit einem Schmunzeln hinzu. Er nahm nicht an, dass Yerion seine Heimatstadt kannte. "Dieser Drache ist ein Zauberzeichen aus dem Land der Drachenkrieger, mit denen ich zwölf Jahre gelebt habe. Ich erwarb das Recht, ihn zu tragen, indem ich eine bescheidene Meisterschaft in ihren Künsten erreichte. Ihr Fürst schenkte mir sein Vertrauen und verlieh mir den Ehrentitel >Drachensohn<."

>Alle Drachenkinder stammen aus dem gleichen Nest. Sie erkennen einander, wo immer sie sich begegnen<, dachte Yerion bei sich. Laut sagte sie nur: "Was habt Ihr für ihn getan, dass er Euch solcher Ehre für würdig erachtete?"

"Ich war so etwas wie ein Berater für ihn. Oft ritt ich mit seinen Truppen, denn sie waren ständig in Händel verwickelt. Sie lernten von mir und ich noch viel mehr von Ihnen. Sie waren Meister der Selbstbeherrschung und der Manipulation von Energie. Ihr Wissen über die Kriegskunst stellt alles in den Schatten, was ich jemals an unseren Höfen sah", schwärmte Mauro. "Zwölf Jahre konsequenten Übens reichten gerade, um mir einen winzigen Teil davon zu erschließen."

"Ihr seid ein Meister der Kriegskunst, doch Ihr tragt kein Schwert?"

"Ich besaß ein wunderbares Schwert, schmäler und leichter als unsere Schwerter. Es war so scharf, dass es eine Feder in der Luft zerteilte. Der Griff lief aus in einem Drachenkopf – wie der, den ich am Arm trage. Im Maul trug der Drache einen Zauberstein, in dem sich das Licht in hunderten Facetten brach. Ich bin kein guter Schwertfechter, doch sein Zauber hat mir und dem Volke der Drachenkrieger ruhmreiche Siege beschert."

Yerion nickte. Auch ihr Volk war vor vielen Generationen durch die östlichen Steppen hierher gekommen. Sie verstand die Symbolik jenes fernen Stammes, den Mauro die >Drachenkrieger< nannte. "Ein solches Schwert bekommt man nicht geschenkt."

"Natürlich nicht. Ich musste mich dessen als würdig erweisen."

"Und doch habt Ihr es nicht bei Euch?"

"Das Zauberschwert ist das Erbe der Drachenkrieger. Ich hatte kein Recht, es zu behalten. Als sich unsere Wege trennten, brachte ich es in den Tempel zurück. Die nächste Generation wird den Kampf aufnehmen, wenn die Zeit gekommen ist. Shio Bans Sippe ist verpflichtet, ihren Tod zu rächen." Mauro weigerte sich, an seine tote Gefährtin zu denken. Nicht jetzt, wo Yerions Küsse noch auf seinen Lippen brannten. "Das ist nicht der Moment, Erinnerungen nachzuhängen."

Yerion ließ sich wieder in seine Arme ziehen und blieb noch ein Weilchen.

Mauro blieb mehrere Wochen in Yian Mah. Eines Abends erzählte er, weshalb er dem Lande der Drachenkrieger den Rücken gekehrt hatte: „Sie wussten um die Unsterblichkeit der Seele und um die Ebenen seelischen Wachstums. Jede Erfahrung, ob schmerzhaft oder angenehm, begrüßten sie als hilfreichen Lernschritt für die Vollendung ihres Seelenzyklus. Doch sie lebten nicht abgehoben und friedfertig wie die Weisen im Wüstenstromland. Im Gegenteil. Blutige Fehden bestimmten ihr Leben. Der Weg des Kriegers galt ihnen unter den Wegen zur Vervollkommnung als der ehrenvollste.

Die Drachenkrieger nahmen mich bereitwillig auf, um von mir Dinge zu lernen, die Vorteile gegenüber ihren Feinden versprachen. Ich gewann das Vertrauen ihres Fürsten und die Zuneigung der mächtigen Hexe Shio Ban. Fast zehn Jahre lang war ich Shio Bans Gefährte. Doch hinter die Kulissen ihrer Welt, dorthin wo sie wirklich lebte, gewährte sie mir keinen Einblick. Ihren strikten Ehrenkodex habe ich bis zum Schluss nicht verstanden.

Die letzten Wochen vor ihrem Ende war Shio Ban anders als sonst. Ich spürte, dass sie sich Sorgen machte, doch sie weigerte sich, mit mir darüber zu sprechen. Unter einem Vorwand schickte sie mich fort. Statt meinem Instinkt zu folgen und zu bleiben, gehorchte ich. Als ich zurückkam, fand ich sie in ihrem Blute. Man hatte sie auf abscheuliche Weise zu Tode gefoltert."

Mauro stockte in seiner Erzählung. Die Bilder nahmen in seiner Erinnerung Gestalt an. Er fühlte erneut die Wut und die Trauer. Als er sich wieder gefangen hatte, fuhr er fort: "Mein erster Gedanke war Rache. Ich stürmte in den Palast und bat den Fürsten um Truppen. Doch er wollte nichts davon hören. Er sagte zu mir: >Bringt das Drachenschwert zum Tempel zurück. Es darf den Feinden nicht in die Hände fallen. Die Saat des Drachen wird aufgehen. Seine Kinder werden das Unrecht vergelten. Ich kämpfe nicht mehr<.

Ich beschwor den Fürsten, zu fliehen. Als Eingeweihter des alten Wissens hatte er die Pflicht, die Lehren der Unsterblichen für die Nachkommen zu bewahren. Ich gemahnte ihn an seine Verpflichtung, doch er lehnte ab: >Die immerwährende Wahrheit kann nie verloren gehen. Sie ist so mächtig, dass keiner von uns sie je in ihrer Gesamtheit begreifen wird. Wenn wir aussterben, schließt sich nur eine Türe: der Zugang, den wir gefunden hatten, geht verloren. Die nächste Generation findet einen neuen Zugang, der anders, doch nicht schlechter ist. Wir machen ihnen den Weg frei. Auf den Ruinen des Alten kann Neues gedeihen<. Ich bedrängte ihn, doch er herrschte mich an: >Stört mich nicht länger in den Vorbereitungen für die Heimkehr zu meinen Vätern. Das ist nicht Euer Kampf! Kehrt in Eure Heimat zurück<. Zum Schluss gab er mir ein heiliges Symbol seines Volkes: einen Ring, der seinen Träger selbst wählt."

"Was mag das wohl bedeuten?" wunderte sich Hamon. "Innerhalb kurzer Zeit gehen zwei alte Zivilisationen in unterschiedlichen Teilen der Welt unter. Zwei Freunde treffen am Rande der Trümmer wieder zusammen."

"Unsere Welt unterliegt einem zyklischen Wandel. Das Althergebrachte trägt uns nicht mehr." Yerion sprach so nüchtern, als wäre ihre Existenz nicht unmittelbar bedroht. „Das Mutterrecht hat ausgedient, die Zeit des Patriarchats beginnt.“

"Das mag sein. Auch die Drachenkrieger folgten dem Mutterrecht. Doch für die Weitergabe des alten Wissens hätten sie Sorge tragen müssen." Mauro haderte immer noch mit der Entscheidung des Fürsten.

"Sie haben es ja weitergegeben!“ ereiferte sich Hamon. „Du hast viel davon über hunderte Tagreisen nach Westen gebracht. Auch das Wissen aus dem Wüstenstromland wäre ohne unsere Flucht nie so weit nach Norden gekommen."

Mauro widersprach: "Weder Du noch ich haben alles gelernt, was die Weisen unserer Gastländer wussten. Nur ein kleiner Teil des alten Wissens wird überdauern."

Hamon hatte längst begriffen, dass die Zerstörung der alten Kulturen die nachdrängenden jungen Völker bereicherte: "Ist der Becher nun halb voll oder halb leer? Jeder Verlust birgt eine Chance. Zu lange war das alte Wissen in den steinernen Tempeln eingesperrt – wie Wasser in einem Fass, aus dem nur wenige schöpfen durften. Nun ist das Fass zerborsten und jede Pflanze im Umkreis bekommt einen Tropfen, mit dem sie gedeihen kann. Selbst die Tropfen, die auf den Weg fallen, kehren mit dem Regen zurück."

"Was tun die jungen Völker mit diesem Regen?“ ereiferte sich Mauro. „Sie schaffen Götter nach menschlichem Ebenbild und machen sie verantwortlich für alle Misslichkeiten. Wissen mutiert zu Aberglauben. Zauberer werden verfolgt, weil die Menschen unsere Macht fürchten und unsere Kunst nicht verstehen. Der steinige Weg der Einweihung ist ihnen zu mühsam."

"Die jungen Völker sind wie Kinder, sie spielen Kinderspiele“, seufzte Hamon. „Du weißt es selbst, Mauro: Kindseelen haben das Recht, ihren eigenen Weg zur Weisheit zu finden. Sie müssen nicht in die Fußstapfen der Eltern treten."

Nun mischte sich auch Hexenkönigin Merowe in die Unterhaltung ein: "Jeder, der einen Schluck aus dem Becher der Weisheit trinken darf, geht eine Verpflichtung ein. Wer soll den Kontakt zu den anderen Welten pflegen und die Botschaft der Unsterblichen bewahren, wenn nicht wir? Die Zeitenwende sollten wir begleiten wie liebevolle Eltern: lehren, ermutigen und Fehler verzeihen.“

„Auch, wenn unsere leiblichen Kinder dabei zu Grunde gehen?“ begehrte Yerion auf.

Mauro pflichtete ihr bei: „Wir sind Menschen, keine Götter. Wir kennen die Angst und fürchten den Tod – auch wenn wir wissen, dass er nicht das Ende ist. Soll ich mich vierteilen lassen und dann großmütig verzeihen, dass Kindseelen eben Fehler machen?"

Merowe lächelte milde: "In Dir wohnt die Seele eines alten Kriegers, Mauro. Niemand weiß besser, wann nachgeben angesagt ist und wann es sich zu kämpfen lohnt."

Yerion hatte sich in den letzten Tagen rar gemacht. Seit sie wusste, dass sie schwanger war, hatte das Beisammensein mit Mauro jeglichen Reiz verloren. Sie mochte Männer nicht besonders. So sehr sie es genoss, sie zu erobern, so wenig mochte sie sie hinterher besitzen. Nun überließ sie das Privileg des Beischlafes anderen Frauen. Zuletzt hatte sie eine junge Hexe mitgenommen, die den finalen Akt für sie übernehmen sollte. Mauro missdeutete ihr Ansinnen als Kompliment an seine Manneskraft und schlief mit beiden. Deshalb blieb Yerion jetzt lieber ganz weg.

Mauro dachte, es wäre Yerion, als eine zierliche Gestalt ins Dunkel seines Zimmers huschte. An ihren Bewegungen erkannte er bald seinen Irrtum. Er wusste, dass die Frauen von Yian Mah ihn als Samenspender benutzten. Dass sie jedoch über seinen Kopf hinweg entschieden, wer als nächste mit ihm ins Bett gehen durfte, ging ihm zu weit. Er schob das Mädchen unwillig zur Seite und zündete eine Kerze an. Nun staunte er, wer da herein geschneit war: vor ihm kauerte Sedhs Gefährtin.

Gianmey nahm schützend die Hände vors Gesicht, als fürchtete sie Schläge. "Zürnt mir nicht, edler Herr. Ich wollte ... ich möchte ..." stammelte sie. Schließlich rückte sie mit der Sprache heraus: "Niemand weiß, dass ich hier bin. Ich wollte Euch persönlich meine Dienste anbieten!"

Mauro schwankte zwischen Zorn und Mitleid. Er schätzte die sanfte Gianmey, doch ihre Absicht war allzu offensichtlich. Die Sorge um Sedh brach ihr das Herz. Mauro schüttelte unwillig den Kopf. Sedhs missliche Lage war wirklich nicht sein Problem.

„Bitte, Herr, weist mich nicht ab. Mein Geschenk verpflichtet Euch zu nichts."

Mauro war jegliche Lust vergangen. "Ihr liebt ihn sehr, nicht wahr?"

Gianmey nickte nur. In ihren Augen schwammen Tränen. Flehentlich sah sie Mauro an und versuchte, näher heranzurücken.

"Lasst das sein. Ihr wollt mich nicht wirklich, und ich habe kein Verlangen nach anderer Männer Frauen!"

„Wir Hexen von Yian Mah binden uns nicht an einen einzelnen Mann. Die Ehe, wie Ihr sie kennt, gibt es hier nicht“, versicherte Gianmey.

"Ja, ich weiß. Tatsächlich läuft es nicht anders als bei uns. Königin Merowe und Heerführer Tandim waren ein Paar, solange ich denken kann. Manche Eheleute werden nie ein Paar. Die Liebe fordert mitunter Dinge, die gegen die Konvention sind – und umgekehrt. Die Liebe ist meist stärker."

Gianmey senkte den Kopf und schwieg.

"Wie lange ist Sedh schon Euer Gefährte?" wollte Mauro wissen.

"Neun Jahre, Herr. Drei Kinder habe ich ihm geboren."

"Neun Jahre. Eine lange Zeit. Ihr und die Kinder scheinen ihm nicht viel zu bedeuten. In dieser Situation hinter Tandim herzurennen ist nicht gerade ein Liebesbeweis!" schimpfte Mauro.

Gianmey sah ihn verstört an. Dieser Gedanke quälte sie am allermeisten.

"Sedh ist seit mehreren Monden in den Händen des Tyrannen. Wahrscheinlich haben sie ihn längst umgebracht oder zumindest halb tot gefoltert. Da ist nicht mehr viel zu retten. Tandim hat auch nicht überlebt."

"Herr, ich weiß, dass er am Leben ist. Jeden Abend bin ich in Gedanken bei ihm und spreche ihm Mut zu. Sie gehen rau mit ihm um, doch sie haben ihn nicht schlimm gefoltert. Er ist ein mächtiger Zauberer. Als Mitglied einer geheimen Bruderschaft weiß er Dinge, die andere gefährden. Seine Seele würde freiwillig den Körper verlassen, sobald sie ihn zu sehr quälen."

"Großartig. Ein Geheimnisträger, der für andere ein Risiko ist, versteigt sich in eine aussichtslose Operation. Da habt Ihr Euch einen speziellen Helden angelacht. Verliebt Euch in Zukunft besser in einen Kerl mit mehr Verantwortungsbewusstsein gegenüber Familie und Kameraden!" Mauro wusste sich nicht anders zu helfen, als zynisch zu werden. Die Situation war zu absurd.

"Ihr schätzt ihn falsch ein. Sedh ist ein rauer Bursche. Manche halten ihn für brutal und rücksichtslos. Sie raten mir, ihn schnellstmöglich zu vergessen. Doch ich kenne ihn besser. Im Grunde seines Herzens ist er ein guter Mann. Er hat nicht verdient, dass wir ihn fallen lassen." Gianmey fing zu weinen an.

Mauro nahm sie in den Arm und strich begütigend über ihr langes, weiches Haar: "Weint Euch an meiner Schulter aus. Ich weiß, dass Ihr nicht wählen könnt, wen Ihr liebt. So ist es eben." Nach einer Weile fügte er hinzu: „Sedh stürzt sich ins Verderben. Nun soll ein anderer hinter ihm her springen. Am besten einer wie ich – ein Vagabund ohne feste Bindungen, um den keiner trauert. Ist es das, was Ihr mir sagen wollt?" Es war mehr eine Feststellung denn ein Vorwurf.

"Nein Herr, so habe ich das nicht gemeint..." Gianmey fuhr erschrocken auf. Sie wollte nicht, dass ihm ein Leid geschah.

"Wie habt Ihr es dann gemeint? Weshalb sollte ausgerechnet ich mein Leben für diesen verrückten Kerl aufs Spiel setzen?"

"Ich hatte eine Vision“, sagte sie zaghaft. „Ich habe Euch neben Sedh in den Kampf reiten sehen!"

"Das war wohl mehr ein Wunschtraum als eine Vision.“ Mauro wurde energisch: „Werte Dame, ich respektierte Euren Einsatz für das Leben Eures Gefährten. Doch lasst mich aus dem Spiel. Geht jetzt. Bitte!"

Gianmey warf sich untertänig auf den Boden, als wäre sie eine gemeine Magd. Dann huschte sie hinaus. >Wie ein verstörtes Tier< dachte Mauro. Plötzlich schmeckte alles schal. Schon am nächsten Tag ließ Mauro seine Gastgeber wissen, dass er bald weiterreisen würde.

Die Hexen baten Yerion, Mauro umzustimmen. Sie lehnte ab: "Er muss seinen Weg gehen. Was er hier tun konnte, hat er getan." Vieles hatte sie über ihn erfahren. Dinge, die ihm selbst nicht bewusst waren. Yerion wollte, ja sie durfte ihn nicht zurückhalten.

Hamon machte einen letzten Versuch: "Warte ab, bis der Krieg vorüber ist. Für den Erain Norn lohnt es sich nicht, in Yian Mah einzumarschieren. Hier sind wir sicher."

Mauro blieb hart: „Wenn ich den Sund erreichen will, bevor das Spektakel losgeht, muss ich jetzt aufbrechen.“

„Was treibt Dich an den Sund? Das Wetter hier ist besser und die Frauen sind schöner!“ Für Hamon war es unvorstellbar, dass ein vernünftiger Mensch weiter nach Norden wollte. Ihm war Yian Mah mit seinen eisigen Steppenwinden schon zu frostig.

„Ich habe mich im Mondtempel zu Minox an meiner Ritual-Partnerin schuldig gemacht. In der jungen Priesterin erkannte ich meine Jugendliebe. Da geriet ich in Raserei und wollte sie mit mir fortnehmen. Doch sie stand zu ihrem Eid und ihrer Pflicht. Man jagte mich aus dem Tempel. Getrieben von Todessehnsucht stürzte ich mich in jede erdenkliche Gefahr. Ich hörte erst auf zu wüten, als Heerführer Tandim mich durch sein hartes Urteil zur Besinnung brachte.“ Mauros Blick wanderte in die Ferne, als vor seinem geistigen Auge die Erinnerung vorüberzog. „Es ist an der Zeit, nach Minox zurückzugehen und Frieden zu machen. Vielleicht erfahre ich etwas über die Priesterin, die meine Mutter war."

Yerion fragte erstaunt: "Ich dachte, Ihr seid der Sohn eines Schmiedes?"

"Das ist wohl nicht die Wahrheit. Die Frau des Schmieds, die ich für meine Mutter hielt, war eine ehemalige Priesterschülerin. Auf ihrem Sterbebett übergab sie mir das Medaillon meiner leiblichen Mutter. Sie schickte mich zum Mondtempel, wo ich mehr erfahren sollte. Dort hielt man mich für unwürdig und verweigerte die Auskunft. Kein Wunder, bei meinem Benehmen! Hoffentlich sind die Priesterinnen nicht nachtragend."

Während er sprach, holte Mauro das Medaillon heraus und drehte es spielerisch zwischen den Fingern. Er wischte darüber und warf einen Blick darauf. Plötzlich stutzte er und sah genauer hin. Zum ersten Mal konnte er auf der Oberfläche die Konturen eines ihm unbekannten Wappens erkennen. Das Zaubermedaillon war bereit, sein Geheimnis preis zu geben. Er steckte es ein wenig zu hastig ein und wandte Yerion und Hamon wieder seine Aufmerksamkeit zu.

Hamon meinte, nicht richtig gehört zu haben: "Warum hast Du nie erwähnt, dass Du Dir Deiner Abstammung nicht sicher bist?"

"Ich gebe nicht viel auf Blutlinien. Eine Seelenverwandtschaft ist ein viel stärkeres Band als die leibliche Abstammung. Im Ernst, Hamon, es ist nicht wichtig, wer mich gezeugt hat. Ich bin Gal Dúath, Licht und Schatten. Diesen rituellen Namen habe ich mir aus eigener Kraft erworben!"

Diese Überzeugung teilte Yerion keineswegs. Nicht nur die Seelenfamilie, sondern auch die Blutlinie hatte einen prägenden Einfluss. Nicht umsonst hatten die Hexen von Yian Mah seit Generationen große Sorgfalt auf die Auswahl der Väter ihrer Kinder gelegt. Die Kinder erbten die Schulden der Eltern und waren verurteilt, sie zu tilgen. Yerion sah sich in ihrer Wahl bestätigt. Mauro war gewiss nicht der Sohn des Schmiedes von Brig. Zu stark war die alte Macht in ihm, als dass eine Laune der Natur ihn zu einem so mächtigen Zauberer gemacht hätte.

Der düstere Wanderer

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