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Tamdins Heimkehr

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Am Tag vor Mauros geplantem Aufbruch erreichte sie eine Nachricht: Tandims Gefolgsleute brachten die sterblichen Überreste ihres Heerführers nach Hause.

Alle versammelten sich im Hof, um den Tross zu empfangen. Die Hexenkönigin in ihrem dunklen Ornat strahlte Distanz und Würde aus. Kein Laut der Klage kam über ihre Lippen, wie sehr auch die Trauer innerlich an ihren Kräften zehrte. Sie hieß die Heimkehrer willkommen: "Seid gegrüßt, Männer von Yian Mah. Schwer ist die Bürde, die ihr tragt!"

Der Anführer antwortete ebenso formell: "Gruß und Ehrerbietung zolle ich Euch, meine Königin. Wir sahen es als unsere Pflicht, dem edelsten der Feldherren die Heimkehr zu ermöglichen!"

"Mein Dank sei Euch gewiss. Nicht unter fremder Erde im Kreise seiner Feinde soll er ruhen. Hier unter seinen Vätern ist sein Platz!"

"Kein Geringer wird er sein unter den Ahnen, denn tapfer war er und furchtlos..." Es folgte ein längeres Loblied auf Tandim. Statt zuzuhören betrachtete Mauro die Neuankömmlinge. Einige von ihnen kannte er von früher – kleine, schlitzäugige Männer von großer Zähigkeit, mit denen er manche Schlacht geschlagen hatte. Lag es an der langen Reise, dass sie müde und kraftlos wirkten? Oder kreisten die schwarzen Vögel des Untergangs auch über Yian Mahs Kriegern? Eine Frage der Hexenkönigin riss ihn wieder aus seinen Gedanken: "Ich wagte nicht zu hoffen, dass der Erain Norn die Heimkehr gestattet. Wie großzügig von ihm, dass wir unseren Feldherrn in traditioneller Weise bestatten können!"

Wie viele vermied die Hexenkönigin den Namen "Curon" auszusprechen. Die Nennung des Namens galt als Respektlosigkeit. Sie lenkte die Aufmerksamkeit eines Zauberers auf den Sprecher. Der Genannte hörte vielleicht aus der Ferne zu, was über ihn gesagt wurde. Um das zu vermeiden, nannte man Curon den >Erain Norn<, den strengen König.

"Großzügigkeit wäre zu viel gesagt. Euer Neffe Shui lieferte sich ihm aus, als Pfand für unsere Rückkehr."

Betretenes Schweigen breitete sich aus. Alle wussten, was das bedeutete.

Yerions Schwester Emyon nahm kein Blatt vor den Mund: "Großartige Heldentat. Glaubt ihr ernsthaft, dass der Erain Norn Shui wieder gehen lässt? Wie viele Lebende wollt ihr noch den Toten opfern? Erst dieser selbstmörderische Einsatz von Sedh, jetzt auch noch Shui! Seid ihr von Sinnen?"

"Ihr tadelt uns zu Unrecht, Schwester!" sprach ein jüngerer Mann mit zornigem Blick. Mauro kannte ihn. Shigat war einer der Söhne der Hexenkönigin. "Wenn der Erain Norn Yian Mah vernichten will, wird er es tun. Jeder von uns ist dem Tode geweiht, ob im Gefängnis oder auf dem Schlachtfeld. Durch Shuis Opfer gewinnen wir Zeit. Unsere Sorge gilt der nächsten Generation. Wir müssen unsere Kinder auf die Zauberschule bringen, wo sie dem Zugriff des Erain Norn entzogen sind. Mit den Herren von Orod Ithryn wagt er sich nicht anzulegen. Die Kinder werden unser Vermächtnis weiter tragen und uns eines Tages rächen!"

Mauro spannte die Kiefermuskeln an. Yian Mahs Situation schien in der Tat verzweifelt. Selbst Orod Ithryn könnte sich als trügerischer Schutz erweisen. König Curons Tod allein vermochte Yian Mah zu retten. Doch wer sollte gegen ihn aufstehen?

Die Hexen hatten Tandim gewaschen, gesalbt und in seiner Festtagstracht aufgebahrt. In seiner goldbestickten Robe sah er aus wie ein König. Nichts anderes war er gewesen: der König eines dem Untergang geweihten Reiches. Bald würde er ein Häufchen Asche sein.

Mauro erwies seinem alten Meister die letzte Ehre. Er sah zu, wie die Flammen den Körper auflösten. Danach wurde die Asche in alle Winde verstreut: was die Erde hervorbrachte, holt sie am Ende wieder zurück. Auf dass etwas Neues entstehe im ewigen Kreislauf des Lebens.

In seiner letzten Nacht auf Yian Mah fand Mauro keine Ruhe. Die Gedanken kreisten in seinem Kopf. Sollte er bleiben und dem bedrohten Volk beistehen? Er fühlte sich den Menschen verbunden. Yerion hatte ihn mit allen Mitteln ihrer Kunst für Yian Mahs Sache zu gewinnen versucht. Er hätte sich in ihre Arme fallen lassen und zu ihrem willfährigen Werkzeug werden können. Früher wäre er ohne Zögern für sie in den Kampf gezogen.

Heute wusste Mauro, dass sie einander nichts zu geben hatten. Die Lust schmeckte schal, weil die Intention dahinter spürbar war. Sie benutzten einander, und zwar gegenseitig: Yerion half Mauro über die Leere nach Shio Bans Tod hinweg. Sie ermöglichte ihm die Flucht vor sich selbst. Instinktiv war Mauro bewusst, dass er den Weg zurückgehen und jeden Schritt seines Lebens nochmals betrachten musste. Es galt, das Tal der Leere zu durchschreiten und mit neuen Inhalten zu füllen. Er mußte den Schmerz zurückholen und überwinden. Wenn er sich seiner inneren Führung anvertraute, würde er Ruhe und Zufriedenheit finden. Der einzige Sieg, der wirklich zählte, war der Sieg über sich selbst.

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hatte eben erst begonnen. Mauro sah die Parallelen zwischen Yian Mah und den Drachenkriegern, zwischen Yerion und Shio Ban. Hatte auch die Gefährtin ihn benutzt? War das, was er für Liebe hielt, nüchternes Kalkül gewesen?

Nein, das konnte, das durfte nicht sein. Er rief Shio Ban – wollte sich im Schmerz verlieren – doch er konnte keine Verbindung zur Vergangenheit herstellen. Zu präsent war Yian Mah mit seinen Menschen und der lauernden Bedrohung.

Unwillig sprang Mauro von seinem Lager auf, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Sein Weg führte auf die Zinnen des Horstes. Eine Weile stand er im Dunklen und blickte hinaus ins monddurchflutete Land. Da löste sich wenige Schritte entfernt die alte Königin aus dem Schatten. Sie hatte auf ihn gewartet. "Wir wissen, dass der Tod nur eine Transformation ist, ein Übergang von einem Zustand in einen anderen. Nichts ist auf ewig verloren. Und doch schmerzt der Verlust. In diesem Leben, in dieser Existenzform, wird Tandim nie mehr zu mir zurückkehren."

Mauro versuchte, die alte Dame zu trösten: "Ihr habt nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, um Euren Gefährten zu trauern. Das Wissen um die andere Welt enthebt uns nicht der Notwendigkeit, Zorn und Schmerz zu durchleiden."

"Zu durchleben und durchleiden, um sie zu überwinden. Jenseits des Schmerzes wartet das tiefe Wissen, dass alles Irdische eitel ist. Die Seele wertet nicht. Für sie ist jeder Schritt bloß eine weitere Erfahrung.“ Die Hexenkönigin seufzte: "Wir haben die Lehren der Weisen vernommen. Unser Verstand kennt die Wahrheit. Und doch muss jeder von uns sie auf seinem ganz persönlichen Weg für sich begreifbar machen."

Mauro wollte nicht zulassen, dass die alte Dame resignierte: "Wir Zauberer hatten stets die Wahlfreiheit, zu bleiben oder zu gehen. Die Versuchung ist groß, in einem solchen Moment der irdischen Existenz den Rücken zu kehren. Doch die Chance, jenseits des Tales der Schmerzen Wahrheit, Weisheit und innere Ruhe zu finden, wäre für lange Zeit vertan."

Merowe winkte ab: "Du wirst den Weg der Erkenntnis gehen. Ich weiß nicht, ob ich noch die Kraft dazu habe. Ich bin alt und müde geworden. Zu müde, um noch einmal zu verzeihen."

Mauro schüttelte den Kopf: "Ihr seid noch nicht am Ziel und Ihr wisst es. Gebt der Trauer Raum und Zeit, wie es Euch gelehrt wurde. Dann hebt den Blick und entscheidet."

Sie standen längere Zeit schweigend neben einander.

Einer plötzlichen Eingebung folgend wandte Mauro sich wieder Königin Merowe zu: "Der Ring, den ich trage, er ist Euer. Euch will ich ihn anbieten!" Er zog das Kleinod aus seinem Beutel, kniete nieder und bot es der alten Königin dar.

Merowe sah ihn erstaunt an. Dann fasste sie sich. Sie rief ihre Schutzgeister um Beistand und hielt die Hände über den Ring in Mauros Fingern. Die Hexenkönigin ließ das Kleinod in einem milden Licht erglänzen, als würde es aus sich selbst heraus strahlen. Es war ein schmuckloser, in sich gewundener Ring aus rotem Gold. Auf den ersten Blick wirkte er unvollständig – als hätte man die Hälfte seiner Breite entwendet, die ihm erst zu einem vollkommenen Ring machen würde.

Lange betrachtete die alte Königin den Ring und ließ seine Schwingungen auf sich wirken. Sie prüfte sich, ob sie bereit war, ihn anzunehmen. Anders als Mauro wusste sie um die Bewandtnis: "Das ist einer der sieben Ringe, die die Unsterblichen den Weisen von Ambar überließen. Sie sind ein Symbol für die Vollkommenheit der Schöpfung. Jeder repräsentiert eine der sieben Ur-Energien. Die meisten davon ergeben paarweise ein Ganzes. Nur der vierte, der grüne Ring, steht für sich allein. Er symbolisiert die Form des Gelehrten, in die das Wechselspiel von Lehren und Lernen gegossen ist. Alle vereint ergeben einen großen Ring von unübertroffener Schönheit.“

Merowe nahm den Ring aus Mauros Händen und betrachtete ihn im Mondlicht. „Dieser hier ist der dritte Ring. Er steht für die Kraft des Kriegers. Als ich zum ersten Mal die Geschichte der sieben Ringe hörte, träumte ich, dass ich eines Tages einen in Händen halten würde. Nun, fast am Ende meines Weges, ist es tatsächlich so gekommen."

"Wie kommt es, dass die Ringe über die Welt verstreut wurden?" wollte Mauro wissen.

Die Königin kannte die Legende: "In ihrem dreisten Hochmut wollten die Gelehrten mit der Macht der Ringe in den Lauf der Welt eingreifen. Sie dachten, sie könnten ihrem Land den ewigen Frühling bescheren, wenn sie es näher zur Sonne rückten. Es gelang, doch sie hatten die Konsequenzen nicht bedacht. Ambar ertrank in den selbst verursachten Fluten. Die Träger des alten Wissens wurden in die Welt hinaus entsandt. Ambar hatte an vielen fremden Küsten Kolonien. Doch das alte Blut mischte sich mit dem der jungen Stämme und das Wissen der Unsterblichen verwässerte durch Aberglauben. Die einstigen Kolonien wurden erobert und verschwanden. Das Reich der Drachenkrieger war vermutlich eine der letzten Bastionen der Erben von Ambar."

"Weiß man, wo die anderen Ringe sind?"

"Ihre Hüter müssen verborgen bleiben. Sie zu kennen weckt Begehrlichkeit unter den Feinden. Wüsste König Curon, dass einer der Ringe in seiner Reichweite ist, würde er ihn einfordern. So schweigt denn still und hütet das Wissen in Eurem Herzen."

Königin Merowe betrachtete den Ring in ihrer Hand noch einmal von allen Seiten, ehe sie ihn in den Falten ihres Gewandes verbarg: "Ich werde den Ring in Verwahrung nehmen. Noch ist nicht die Zeit, ihn zu tragen.“ Zu Mauro gewandt fuhr sie fort: „Ich weiß nicht, ob ich Euch für diese Bürde danken soll. Ich bin müde und wollte mich aus dem Leben zurückziehen." Sie taumelte, als hätte sie ein Schwindel befallen.

Mauro stützte sie. Er fühlte eine tiefe Verbundenheit. „Nehmt meine Kraft, bis die Eure zurückkehrt." Mühelos hob er die kleine Frau hoch und trug sie in ihr Gemach. Ganz vorsichtig bettete er sie auf ihr Lager und deckte sie zu.

Jetzt war auch Yerion neben ihm. Sie beobachtete, wie liebevoll er sich um die alte Frau kümmerte, wie er ihre Hände zwischen den seinen wärmte. Wenn Mauro gab, dann gab er reichlich. Sein Herz war groß. Er zögerte nicht, aus dem Vollen zu schöpfen. Für einen Moment wünschte Yerion, sie wäre die Adressantin seiner Wärme und Fürsorge, und seine Augen würden so voller Zärtlichkeit auf ihr ruhen wie jetzt auf Königin Merowe. Dann rief sie sich zur Ordnung. Zu dem, was die beiden verband, hatte sie keinen Zugang. Ihr Weg ihn zu erreichen war ein anderer.

Der düstere Wanderer

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