Читать книгу Samuel und der Tarnmantel - Solveig Schuster - Страница 8

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Ein Dieb im Tanzlokal

Ob er doch nach Hause geht? Der Kinobesuch hat Samuel doch sehr zu schaffen gemacht, und er ist jetzt ziemlich müde. Samuel schlendert zur Bushaltestelle und sieht sich um. Da! Auf der anderen Straßenseite stehen seine Eltern an einem Taxi-Stand. Samuel schaut nach links und rechts, und als er sieht, dass die Straße frei ist, flitzt er rüber. Papa winkt einem Taxi, das gerade heranrollt. Aber es hält nicht an und fährt einfach vorbei. „Auch schon voll“, sagt er. „Vielleicht gehen wir doch lieber nur um die Ecke ins „Bardolino“?“ fragt Mama. „Ich bin schon etwas müde und mache mir wegen Samuel auch noch immer etwas Sorgen. So früh geht er sonst nie ins Bett...“ Also die Aufregung ist völlig unbegründet, denkt Samuel. Mir geht es gut und Samantha ganz sicher auch. Überhaupt, was die jetzt wohl gerade macht? Vielleicht wäre es doch interessanter gewesen, wenn Samuel zu Hause geblieben wäre? Andererseits hat er schon viel vom „Bardolino“ gehört und das macht ihn jetzt auch ein wenig neugierig. Das „Bardolino“ ist ein ganz bekanntes Tanzlokal, wo Mama früher öfter mit Tante Margit zum Tanzen war. Tante Margit hat mal erzählt, dass Mama und Papa sich dort kennengelernt haben. Samuel ist schlagartig hellwach und bereit, seine kleine Abenteuerreise fortzusetzen.

Das „Bardolino“ befindet sich nur eine Straße weiter, zum Eingang gelangt man durch einen Hinterhof. Ziemlich schaurig hier, findet Samuel. Er ist froh, jetzt nicht allein zu sein. „Danke, du bist süß“, sagt Mama zu Papa, die sich jetzt wieder bei ihm untergehakt hat. Weil er ihrem Wunsch ins „Bardolino“ zu gehen und nicht mit dem Taxi wegzufahren, nachgegeben hat? überlegt Samuel. Oder warum findet Mama, dass Papa süß ist? Samantha findet ihren kleinen Bruder auch süß, hat sie heute Nachmitttag zu Luca gesagt. Samuel weiß nicht, was er davon halten soll. Schokolade ist süß oder Honig, manchmal auch Babys, aber er und Papa?

Samuel bleibt jetzt ganz eng an der Seite seiner Eltern. So ganz wohl ist ihm immer noch nicht. Es ist ziemlich dunkel. Der Weg von der Straße zum Hinterhof führt durch einen langen Gang. An der Decke sind nur zwei kleine Lampen angebracht, die nur wenig Licht geben. In einer Ecke hat sich ein alter bärtiger Mann in eine löchrige Decke gehüllt und zündet sich gerade mit einem Feuerzeug einen Zigarettenstummel an. Er versucht es zumindest. Seine Hände zittern und immer wieder bläst der Wind das kleine Lichtchen aus. Irgendwie gruselig, findet Samuel.

Vor der Tür des Lokals stehen ein Mann und eine Frau und schreien sich an. „Musst du mir hier solch eine Szene machen“, schimpft der Mann. „vor all den Leuten?“ „Wer spielt denn hier das Theater“, erwidert die Frau und stößt dem Mann mit den Händen gegen die Brust. „Von wegen Arbeit!“ brüllt sie. Samuels Eltern schauen sich belustigt an. Samuel findet das gar nicht lustig und versteht die Brüllerei auch gar nicht. Der Mann hat inzwischen die Türklinke in die Hand genommen und will gerade zurück ins Lokal gehen. Weil ihn die Frau am Arm zurückhält, kann Samuel schnell durch den Türspalt hindurchhuschen.

„Dürfen wir mal bitte?“, hört er Papa draußen zu dem Mann sagen. „Ja, klar.“ Der Mann reißt die Tür weit auf und lässt Samuels Eltern hindurch. Dann kommt er hinterher und plauzt sie von innen zu. Samuel beobachtet, wie der Mann sich zu einer blonden jungen Frau an den Tisch setzt, die sich gerade einen kleinen runden Spiegel vors Gesicht hält und irgendetwas aus den Augen zu wischen scheint. Sie ist hübsch, findet Samuel, was er von dem Mann nicht unbedingt sagen kann. Der hat so eine komische, dicke Brille auf, die das halbe Gesicht überdeckt und für Samuels Geschmack um einiges zu groß geraten ist. Außerdem ist er bestimmt viele Jahre älter. Samuel schaut sich seinen Papa an und ist ziemlich stolz. Mit seinen Eltern hat er richtig Glück gehabt, denkt er. Aber wo sind die jetzt überhaupt? Samuel war so mit dem fremden Mann beschäftigt, dass er seine Eltern aus den Augen verloren hat.

Das Lokal ist ziemlich voll. In der Mitte ist eine große Tanzfläche, auf der sich die Leute ganz dicht drängen und kaum bewegen können. Drumherum stehen auch lauter Menschen, halten Gläser oder Flaschen in den Händen, unterhalten sich oder wackeln wie die auf der Tanzfläche mit dem Körper hin und her. Die Musik ist viel zu laut, findet Samuel, der noch nicht bemerkt hat, dass er direkt neben einem Lautsprecher steht. Samuel versucht, von den Lippen zu lesen, weil er kein Wort versteht, von dem was die Erwachsenen erzählen. Viel Erfolg hat er damit aber auch nicht. Samuel sucht den Raum nach seinen Eltern ab. Da, rechts hinter der Tanzfläche setzen sie sich gerade an einen kleinen runden Tisch. Samuel zwängt sich durch die Tanzenden hindurch. Zum Glück ist noch ein dritter Stuhl an dem Tisch frei. Da seine Eltern gerade damit beschäftigt sind, sich auszuziehen, kann Samuel den Stuhl unbemerkt etwas vom Tisch rücken, um sich setzen zu können. Geschafft.

Papa hilft Mama aus dem Mantel und hängt die Sachen an einen Haken an der Wand hinter dem Tisch. Mama setzt sich und blättert in der Karte, die auf dem Tisch liegt. „Trinkst du auch ein Glas Wein mit?“ fragt sie Papa. Nee, Papa doch nicht, denkt Samuel, der trinkt doch nie Wein. Zu Samuels Überraschung will er aber doch. Die Kellnerin kommt gerade an den Tisch und Samuels Eltern geben die Bestellung auf. Als sie sich zum Gehen wendet, will Samuel protestieren, weil er gar nicht gefragt worden ist. Er hat schon wieder vergessen, dass er ja eigentlich gar nicht da ist. Unsichtbar zu sein, ist doch auch ziemlich anstrengend, findet er.

Samuel hat auch Durst. Die Luft hier drin ist total trocken und es ist extrem heiß. Unter dem Zaubermantel hat Samuel noch immer seine Jacke an. Aber die kann er ja jetzt unmöglich ausziehen und an den Haken hängen. Er hält nach der Kellnerin Ausschau und beobachtet, wo sie die Getränke holt. Die Frau steht an einem langen Tisch, hinter dem zwei junge Männer Getränke aus großen Automaten in die Gläser füllen. Samuel weiß, dass man den langen Tisch Tresen und die Automaten Zapfanlagen nennt. Das hat ihm Kalle, Papas bester Kumpel erklärt. Mit dem geht Papa auch immer „Bier trinken.“ Mama mag Kalle nicht, weil der immer so blöde Witze macht und Papa so spät nach Hause kommt, wenn er mit ihm weg war. Manchmal bleibt Kalle dann über Nacht und schläft auf der Couch im Wohnzimmer. Wenn Kalle zuviel getrunken hat, fängt er an zu singen und zu tanzen und macht lauter Blödsinn. Papa benimmt sich nicht so und trinkt zu Hause auch nur Wasser oder Saft, manchmal auch Cola. Mama hat mal erzählt, das sei aber erst so, seitdem er Kinder hat. Auch wenn Samuel Kalle gut leiden mag, so wie er will er mal nicht werden. Trotzdem kann man auch immer was von ihm lernen. Etwa, dass ein Tresen Tresen und eine Zapfanlage Zapfanlage heißt.

Irgendetwas rüttelt plötzlich an Samuels Stuhl. Samuel fährt erschrocken hoch. Er hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt und war für ein paar Minuten eingeschlafen. Eine Frau ist im Vorbeigehen mit der Tasche an seinem Stuhl hängengeblieben. Wo sind Mama und Papa? Ah, alles gut. Beide sitzen noch am Tisch und beobachten die Leute auf der Tanzfläche.

Jetzt wäre Gelegenheit, sich so eine Zapfanlage mal aus der Nähe anzusehen, sagt sich Samuel. Er geht hinüber und stellt sich zu den beiden Männern hinter den Tresen. Der ist so hoch, dass Samuel kaum drüber hinweggucken kann. Samuel stellt sich auf Zehenspitzen und kann in der Ecke gegenüber seine Eltern am Tisch sitzen sehen. Die Kellnerin serviert gerade den Wein. Samuel kann sich also getrost den Männern hinter dem Tresen zuwenden, die gerade einen nach dem anderen Hebel an dem Automaten betätigen und aus dünnen Schläuchen Bier in große Gläser laufen lassen. Was für eine Sauerei, denkt Samuel. Dicker Schaum läuft über die Gläser und tropft entlang des Automaten vom Tresenrand auf den Boden. Und es stinkt erbärmlich. Und klebt. Samuel war nicht aufgefallen, dass er sich in eine Bier-Pfütze gestellt hat und bleibt nun bei jedem Schritt am Boden haften.

Samuel hat noch immer großen Durst. Bier kann er natürlich nicht trinken, das weiß er. Er sucht mit den Augen das Regal hinter dem Tresen ab. Da stehen lauter Gläser und in den oberen Reihen viele Flaschen Wein und Schnaps. Einer der Männer, die am Tresen arbeiten, bückt sich und öffnet gerade unter dem Tresen eine Tür. Aha, da sind die alkoholfreien Getränke also versteckt, denkt Samuel. Hinter der Tür hat er jede Menge Cola, Wasser, Saft, Dosen mit Eiswürfeln und ein Netz Zitronen entdeckt. Aber wie da dran kommen? Die beiden Männer, die hinter dem Tresen arbeiten, stehen unmittelbar vor dem Kühlschrank und schenken weiter Bier aus.

Samuel mus weiter suchen. Seitlich neben dem Tresen führt eine kleine Flügeltür zur Küche. Man kann sowohl oben drüber gucken, als auch unten durchkriechen. Samuel entscheidet sich fürs Durchkriechen. Die ist ja wie für ihn gemacht, freut er sich. Gleich neben der Tür steht eine Getränkekiste mit Sprudelwasser. Na, welch ein glücklicher Zufall, denkt Samuel und zieht eine Flasche heraus. Dann hält er kurz inne. Wenn er die Flasche jetzt nimmt, dann wäre das Diebstahl. Das geht auf gar keinen Fall. Irgendwo in der Tasche muss er noch einen Euro haben. Ob das wohl reicht? Samuel weiß nicht, was eine Flasche Wasser kostet. Sein Taschengeld ist höher als ein Euro und Wasser hat er sich davon noch nicht gekauft.

Samuel zerbricht sich den Kopf, kommt aber auf keine geeignete Rechenformel. Er sucht seine Hosentaschen nach der Münze ab. Er bohrt die Hände tief in die Taschen und durchwühlt sie mit den Fingerspitzen. Schließlich hat er sie gefunden. Gemeinsam mit einem kleinen Zettel zieht er das Geldstück aus der rechten vorderen Tasche hervor. Auf dem Zettel steht die Telefonnummer von zu Hause. Samuel trägt sie immer bei sich. Mama möchte das so, „falls er mal verloren geht“, damit er immer zu Hause anrufen und sich abholen lassen kann. Samuel reißt ein kleines Stück von dem Zettel ab. Neben der Kasse am Tresen hat er einen Kugelschreiber liegen sehen.

Samuel kriecht noch einmal unter der Tür hindurch. An der Kasse ist niemand. Samuel schnappt sich den Kuli und verschwindet damit wieder in der Küche. „Entschuldigung“, schreibt er mit großen Buchstaben auf das Papier. „Ich habe nur noch einen Euro und ich hoffe, das reicht. Samuel.“ Nein, seinen Namen sollte er natürlich nicht hinterlassen. Schnell streicht er Samuel wieder durch und malt stattdessen ein lachendes Mondgesicht.

Samuel hat das Geld und den Zettel gerade abgelegt, da öffnet sich neben ihm die Tür. Samuel springt zur Seite und stellt sich in die Ecke hinter einen hohen Schrank. Nach einer Weile wird er mutiger und wagt sich wieder etwas hervor. Es sind die beiden Männer vom Tresen, die eben hereingekommen sind. Sie machen offenbar eine Pause und haben sich auf Klapphockern neben die Tür gesetzt. Einer der Männer will sich gerade eine Flasche Wasser aus der Kiste greifen. „Was ist das denn hier?“ sagt er. Er hat den Zettel mit dem Geld entdeckt. Samuel erschrickt. „Wie witzig. Und guck' mal hier“, sagt der andere und zeigt auf die Stelle auf dem Zettel, an der Samuel seinen Namen überschmiert hat. Er steht auf, presst seinen rechten Zeigefinger auf die Lippen und deutet seinem Kumpel an, dass der sich ruhig verhalten soll. So wie Samuel es heute Nachmittag bei Bolle gemacht hat. Ach, Bolle. Allmählich wünscht sich Samuel nach Hause und in sein Bett zurück. Doch im Moment geht das nicht.

Während einer der Männer die Küche abschreitet und in und unter jeden noch so kleinen Schrank guckt, hat sich der andere vor die Tür gestellt und Samuel den Fluchtweg versperrt. „Komm, Leo, lass gut sein, der ist sicher längst weg“, sagt der Mann an der Tür zu dem anderen, der noch immer den Raum absucht. Samuel nickt heftig mit dem Kopf und wünscht sich auch, dass Leo seine Suche beendet. Solange er den Mantel an hat, kann Leo Samuel zwar nicht sehen, aber wer weiß, wie lange der Zauber überhaupt noch wirkt. Bei dem Gedanken, der Zauber könnte irgendwann vorüber sein, wird Samuel ganz mulmig.

„Tja, dann ist der Rest Trinkgeld“, sagt Leo schließlich und hört auf, weiter zu suchen. Er nimmt den Euro und geht damit durch die Flügeltür zur Kasse. Trinkgeld, auch das hat Samuel schon einmal gehört. So etwas wie Wechselgeld, nur das man nichts eintauscht und eigentlich auch nichts zurück bekommt, oder so ähnlich? Jedenfalls bekommt das immer der Taxifahrer, wenn er uns zum Bahnhof fährt, oder der Kellner im Restaurant, Mama hat auch schon der Putzfrau Helene Trinkgeld gegeben. Apropos Mama. Samuel hat keine Zeit zu verlieren. Er sollte wieder an den Tisch zurückkehren. Wer weiß, wie spät es schon ist und ob Mama und Papa überhaupt noch dort sitzen.

Tatsächlich, der Tisch ist leer. Aber Mamas Tasche hängt noch über dem Stuhl. Samuel ist beruhigt, dann können sie nicht weit sein. Er läuft rüber zum Tisch, setzt sich auf seinen Stuhl und will gerade die Flasche ansetzen, um endlich seinen Durst zu stillen. Da schleicht hinter ihm ein Mann heran und hat sich mit einer kurzen Handbewegung blitzschnell Mamas Tasche von der Lehne geangelt. Reaktionsschnell streckt Samuel ein Bein unter dem Tisch hervor, der Mann strauchelt und fällt zu Boden. In dem Moment kommen Mama und Papa von der Tanzfläche herübergeeilt. „Meine Tasche, haltet den Dieb, meine Tasche“, ruft Mama ganz aufgeregt. Und sofort stürzen sich zwei Männer auf ihn und drücken den Dieb, der sich gerade aufrappeln will, wieder zu Boden.

Jetzt kommt auch Leo vom Tresen herüber. „Was ist passiert?“ fragt er. Samuel will soeben lossprudeln, schließlich hat er ja alles aus nächster Nähe erlebt. Aber wieder muss er sich zurückhalten. „Das ist unglaublich, der Mann wollte meine Handtasche stehlen. Wir waren tanzen, und ich hatte sie dort über den Stuhl gehängt“, sagt Mama und zeigt auf den Stuhl neben Samuel. „Ich ruf' dann mal die Polizei“, sagt Leo und verschwindet wieder hinter dem Tresen. Das Telefon hängt dort an der Wand, und Samuel beobachtet aus der Ferne wie Leo mit der Polizei telefoniert. Dass der Abend noch so eine spannende Wende nimmt, hätte er nie und nimmer gedacht. „Fünf Minuten, Achim“, ruft Leo einem der Männer zu, die den Taschendieb jetzt einer links, einer rechts fest an den Armen packen. Gleichzeitig zeigt er Achim die flache Hand mit fünf gespreizten Fingern, um zu demonstrieren, wieviel Zeit die Polizei bis zu ihrem Eintreffen noch benötigt. Wohl für den Fall, dass Achim ihn bei dem Lärm nicht hören kann. Achim nickt und die beiden Männer schupsen den Gefangenen quer durch den Raum zum Ausgang.

Schon wieder rüttelt es an Samuels Stuhllehne. Diesmal ist es kein Dieb, sondern Harald, der den Stuhl, auf dem Samuel eben noch saß, mit einem Ruck vom Tisch wegzieht, so dass Samuel zur Seite herunter fällt. Aua, du Grobian, beschwert sich Samuel. Harald ist der Vater von Jakob, einem Mitschüler von Samuel. Was wollen die denn hier? fragt sich Samuel. „Was für eine Aufregung, he?“ Harald setzt sich auf den freien Stuhl und gibt Papa mit dem Ellenbogen einen leichten Stoß. Auch Samuels Eltern haben inzwischen wieder Platz genommen und sich von dem kurzen Schrecken erholt. Mama sortiert ihre Tasche, da durch den Sturz des Diebes fast alles aus der Tasche herausgefallen ist. Jetzt kommt auch Jakobs Mutter, Rosi, an den Tisch. Papa steht auf und holt ihr vom Nachbartisch noch einen weiteren Stuhl. Samuel bleibt fürs Erste unter dem Tisch hocken. „Unglaublich“, sagt Mama. „Habt ihr das mitbekommen?“ Und ob sie haben. Jakobs Mutter ist aufgeregter als sie selbst. „Ja, das gibt es ja wohl gar nicht“, sagt sie, „dass hat es ja in all den Jahren hier noch nicht gegeben. Sowas von dreist.“ Dabei schüttelt sie so heftig ihren Kopf, dass Mama ihre schwarzen langen Haare ständig ins Gesicht bekommt.

Samuel kann Rosi noch weniger leiden, als ihren Sohn, Jakob. Jakob geht mit Samuel in eine Klasse und sitzt direkt hinter ihm. Ständig stört er, weil er nie etwas mitbekommt, weiß aber sonst immer alles besser und ganz genau. So wie sein Vater Harald jetzt, der gerade Samuels Mutter belehrt, wie sie denn die Tasche auch einfach am Stuhl hängen lassen konnte. „Ja, das war sicher dumm“, pflichtet Mama ihm bei und beendet damit ganz geschickt das Gespräch. Das meint Mama wohl immer, wenn sie sagt, „der Klügere gibt nach“. Samuel nimmt sich vor, das auch auszuprobieren, wenn er mal wieder mit Samantha in Streit gerät.

Harald und Papa unterhalten sich jetzt über Fußball, die beiden Frauen sitzen schweigend nebeneinander. „Na, so ein Zufall“, unterbricht Rosi die Stille. „Wir waren seit Jahren nicht hier. Ihr kommt öfter her?“ Mama umklammert noch immer ihre Tasche. „Nein, nein, wir waren eben im Kino. Samantha hatte uns ja zu Weihnachten Karten geschenkt und von dort ist es ja nicht weit.“ Samuel streckt den Kopf unter dem Tisch hervor, um die beiden Frauen etwas besser sehen zu können.

Mama scheint irgendetwas zu suchen. Sie blickt nach links über die Stuhllehne, dann nach rechts. Schließlich unter den Tisch. Samuel zuckt zusammen. Vor ihm liegt ein kleiner roter Lippenstift. Schnell stellt er seinen Fuß darauf, damit Mama ihn nicht entdecken kann. Womöglich greift sie unter den Tisch und kann doch irgendetwas von Samuel ertasten. Samuel nimmt den Lippenstift und legt ihn ganz dicht an Rosis Stuhlbein. Auch Rosi ist inzwischen aufgefallen, dass Mama ganz unruhig ist. „Suchst du etwas?“ fragt sie. „Ja, meinen Lippenstift, er muss mir aus der Tasche gefallen sein“, sagt Mama, ohne Rosi groß Beachtung zu schenken. Rosi rückt mit ihrem Stuhl etwas zurück und entdeckt dabei den Stift, der durch die Bewegung etwas nach vorn gerollt ist. Bravo Samuel, das hast du gut hinbekommen, freut sich Samuel und zieht sich wieder ein Stück unter den Tisch zurück. Im selben Moment beugt sich Rosi herunter. „Ist er das hier“, fragt sie Mama, als sie sich wieder aufgerichtet hat und hält ihr den Lippenstift hin. „Oh ja, danke. Zum Glück. Den hatte mir Samantha für den Abend geborgt“, sagt Mama erleichtert und steckt ihn ein.

Rosi versucht noch immer mit Samuels Mutter ins Gespräch zu kommen. „Du hast die Haare schön“, sagt sie. „Warst du frisch beim Friseur?“ Von wegen Friseur. Heute morgen hat Mama noch zu Papa gesagt, dass sie da dringend mal hin müsste. Sie war schon seit Wochen nicht beim Friseur. „Oh, danke. Aber nein, ich war nicht beim Friseur.“ Mama hat offenbar keine Lust, sich mit ihr zu unterhalten. Samuel muss lachen. Da muss sich Rosi schon etwas anderes einfallen lassen, denkt er. Rosi versucht es noch einmal. „Jakob ist ja ganz begeistert von eurem Samuel“, sagt sie zu Mama. Na, jetzt wird es aber spannend, denkt Samuel, dem das Lachen schlagartig vergangen ist. Wie bitte? Jakob begeistert? Na davon hätte Samuel aber etwas bemerkt. „Ach, wirklich?“ entgegnet Mama ganz interessiert. „Ja, Jakob erzählt ganz oft von ihm. Ich würde Samuel gern einmal zu uns einladen.“ Oh nein, Mama, bitte nicht. Darauf hat Samuel absolut keine Lust. Am liebsten würde er ihr jetzt irgendein Zeichen geben. Aber zum Glück willigt Mama auch nicht sofort ein. „Gern. Ich werd' Samuel fragen.“ Dann entschuldigt sie sich, um auf Toilette zu gehen.

Während Mama auf Toilette ist, kommen zwei Polizisten zur Tür herein. Leo geht ihnen entgegen, wechselt ein paar Worte mit den beiden und zeigt auf den Tisch, unter dem Samuel sitzt. Samuel erschrickt. Sind die wegen mir hier? Für einen kurzen Moment hat er den Vorfall mit der Tasche total vergessen. Ihm stockt der Atem. Einer der Polizisten steht ganz eng am Tisch und wendet sich an Rosi. „Guten Abend. Ich würde Sie bitten, mir kurz einige Angaben zum Tathergang zu machen“, sagt er. Rosi fühlt sich geehrt. „Aber gern.“ Sie hat nicht mitbekommen, dass der Polizist glaubt, mit der Besitzerin der Tasche zu sprechen. Da kommt Mama und klärt den Fall auf. „Entschuldigung, Sie sind wegen des Vorfalls mit der Tasche hier?“ Der Polizist nickt und Mama stellt sich vor: „Mein Name ist Leonore Lennart, die Tasche, die der Mann stehlen wollte, gehört mir.“ „Verstehe“, sagt der Polizist. „Kommen Sie doch bitte nach draußen, dort können wir das in Ruhe klären.“ Samuel ist inzwischen aufgestanden. So nah ist man einem Polizisten ja auch nicht alle Tage. Mama wirft Papa einen fragenden Blick zu. Der nickt und verabschiedet sich von Harald. „Tja, das müssen wir dann das nächste Mal besprechen, ich denke, ich werde jetzt da draußen gebraucht“, sagt Papa und zeigt mit einer Kopfbewegung zur Tür. Dann holt er die Jacken vom Haken und läuft Mama hinterher, die dem Polizisten schon nach draußen gefolgt ist.

„Komisch, diese Leonore“, sagt Rosi, als Mama und Papa verschwunden sind, „naja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Ich kann schon verstehen, warum Jakob mit dem Samuel nichts anzufangen weiß.“ Blöde Kuh, denkt Samuel.

So eine Heuchlerin. Von wegen, Jakob möchte sich gern einmal mit Samuel treffen. Er hätte gern noch mehr erfahren. Jetzt muss er aber zusehen, dass er noch vor seinen Eltern nach Hause kommt.

Samuel und der Tarnmantel

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