Читать книгу Kleine Frau im Mond - Stefan Boucher - Страница 9

Es ist so trostlos in Zehlendorf-West

Оглавление

Psssch. Zischend entwich der Atem. Immer wieder fiel eine schwere Locke in Maras Gesicht und verdeckte den Text in dem Magazinheft. Sie ließ sich nicht vertreiben. Noch ein Versuch: Psssch. Keine Chance. Und was sie las, ärgerte sie außerdem:

Ich gestehe, dass ich nicht allzu erfreut darüber war, denn erstens gab es meiner Ansicht nach schon damals Raumfahrtromane genug. Das stand da tatsächlich. Die Locke rutschte gleich auf die Nase, ihr Blick schielte vorbei. Und zweitens, ein Raumfahrtroman, den eine Frau geschrieben hat …

»Frechheit«, flüsterte sie mitten in den Satz hinein.

»Watt ham se jesacht, Frollein? Stör ick vielleicht?«, schimpfte jemand.

Überrascht hob sie ihren Blick. Vor ihr stand ein altes Frauenzimmer in einem dunklen Mantel, über ihren Kopf ein altmodisches Kopftuch geschlungen.

»Watt is jetzte mit mein Billett?«, fragte die Oma auf der anderen Seite der Durchreiche.

Hastig schob das Mädchen die Illustrierte beiseite und griff nach den Fahrkarten, während ihr Gegenüber schon erwartungsvoll unter dem hochgezogenen Fensterchen hindurchschaute.

»Einmal Lankwitz, bitte!« Die alte Frau war entschlossen.

Mara lächelte und riss die Karte ab. Die etwas gebückte Dame reihte die abgezählten Münzen säuberlich auf. Sie schob ihr im Gegenzug den Fahrschein hinüber und entschied sich für Freundlichkeit. »Da haben Sie aber ein Stückchen vor sich. Sie müssen nach Norden fahren und umsteigen. Yorckstraße zum Beispiel. Dann nehmen Sie die rote Linie 6, Fahrtrichtung Lichterfelde-Ost. Bloß nicht nach Velten, das ist die andere Richtung.«

»Danke«, knarrte die Alte. »Und übrijens, wundervolle rote Haare ham se. Hatt ick früher auch.« Mit diesen Worten zog sie ihr Kopftuch ein wenig zur Seite und enthüllte den Blick auf schlohweiße Strähnen. Mara strahlte. Die war ja doch nett. Aber keinesfalls wollte sie das Gespräch künstlich in die Länge ziehen und so trippelte die Kundin gut bedient davon. Einige Momente sah sie der Frau hinterher, dann zog sie ihren Kragen zurecht. Der Stoff der Uniformjacke war grob, zu kratzig für ihre zarte Haut.

Prüfend warf sie einen Blick in die runde Bahnhofshalle der Station Zehlendorf-West. Das Portal zu ihrer Linken wies auf den Vorplatz hinaus, gegenüber, rechts von ihr, erreichte man durch einen kleinen Tunnel Stufen, die zu den Bahnsteigen führten.

Zwei Frauen mit Kinderwagen unterhielten sich in Hörweite, eine Gruppe von Soldaten saß auf ihren Tornistern und verhielt sich wie zu groß geratene Schuljungen. Sie machten leise Witze und ihr Mienenspiel verriet, dass es wohl keine jugendfreien Scherze waren. Einer von ihnen sah immer wieder herüber. Von ihrem Fahrkartenschalter aus konnte sie gut die gesamte Halle des Bahnhofs überblicken. Er wurde von einer großen Kuppel überdacht, erst 1904 im Jugendstil errichtet. Ein Teil bestand aus gemustertem Glas. Durch dieses fiel stets ein ganz besonderes Licht.

Ein junger Soldat schien sich an dem Gespräch nicht zu beteiligen. Irgendetwas reichten die anderen herum. Vielleicht unzüchtige Fotografien?

Gegenüber, einige Meter entfernt, befanden sich die Diensträume des Bahnhofs. Durch den Türspalt drang leise Musik. Von Bahnhofsvorsteher Herbert Bommel drohte im Augenblick daher keine Gefahr.

Ihre Finger waren klamm, als sie das Heft wieder zu sich zog. Der gusseiserne Kohleofen in der Ecke verbreitete Wärme, aber das reichte kaum. Kohle gab es nicht mehr oft. Also brachte jeder zum Dienst mit, was er an Holz auf dem Weg fand: Trümmerholz, Bauholzreste, Splitter von Bäumen, die bei einem Angriff zerrissen worden waren. Sie las weiter.

Als ich dann einigen Aufnahmen zusah, in der riesigen Mondlandschaft, die man aufgebaut hatte im Atelier, im Raumschiff selbst und auf dem Abfahrtsgelände, wurde meine Stimmung schon ganz anders, mochten nun noch Fehler stehen im Buch, hier gab es keine mehr. Mara hob die Augen ein wenig und pustete gegen die garstige Locke: Pssch. Dann konzentrierte sie sich wieder auf den Text.

Es war schon spät, als ich mit dem Lesen anfing und ich hatte eigentlich die Absicht, recht bald schlafen zu gehen. Aber ich las die Nacht durch, - und als am nächsten Tage die letzte Seite erreicht war, fing ich von vorn an. Seitdem habe ich ihn viermal gelesen und habe viermal Abbitte geleistet für meine ….

»… schlechten Erwartungen zu Anfang, Fräulein Prager«.

Sie hielt inne. Irritiert, als erwache sie aus einem Nickerchen. Vor ihrem Fahrkartenschalter hatte sich Vorsteher Bommel aufgebaut. Wichtig, wie so oft. Aufgeplustert neben einer freundlichen schmächtigen Frau. Seine Glatze strahlte und sein perfekt rasiertes Gesicht war leicht gerötet durch die Kälte, die von außen in die Halle zog. Erschrocken schob sie die Hände unter ihr schmales Pult und verbarg hastig das alte Sonderheft des Film-Kurier zum Start des letzten großen Stummfilmes Frau im Mond Ende 1929. Es gelang nicht ganz. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Augenblicklich schrumpfte sie buchstäblich hinter der Durchreiche.

»Wie oft habe ich Ihnen gesagt, dass Sie sich um die Fahrgäste kümmern sollen. Stattdessen lesen Sie, lesen …«, feine Speicheltropfen trafen auf das hochgezogene Fensterchen. »Sowas da!«, er zeigte auf das Magazin und seine Finger reichten durch die Öffnung auf ihre Seite der Glasscheibe. »Was ist das überhaupt?«

Mara errötete, fast so rot wie ihre leuchtende Haarpracht.

»Ein Filmmagazin, ich habe es geliehen bekommen und …«

»Ist mir egal wo Sie es herhaben. Die Frau hier steht seit Minuten vor Ihrem Schalter und wird nicht bedient.«

Hätte sie was gesagt, dachte Mara, doch sie hütete sich, das zu erwähnen.

»Selbstverständlich, Herr Vorsteher Bommel, es tut mir leid, ich habe die Dame nicht bemerkt.«

»Ich habe Sie Ihrem Vater zuliebe eingestellt. Bruno und ich ... Menschenskinder. Sie sind bald sechzehn. Beinahe erwachsen.« Er sagte nichts weiter, vielleicht weil nach wie vor die Frau neben ihm stand. Natürlich kannte sie die vielen Kriegsgeschichten, als Bommel und ihr Paps den Argonnerwald fast alleine gegen die Franzmänner verteidigt hatten. »Aber ich hatte schlechte Erwartungen zu Beginn, schlechte Erwartungen!« Dann wandte er sich an die Kundin. »Es geht sofort weiter!« Mit diesen Worten verschwand er wieder humpelnd in seinem Büro, die Tür fiel laut klappernd in den Rahmen und die Musik begann von vorne.

»Nicht ärgern lassen«, flüsterte die Frau. »Ich hab‘s nicht eilig. Ich hätte gewartet, bis Sie mich bemerken.«

Mara lächelte dankbar, hörte das Fahrziel und riss eine entsprechende Fahrkarte ab. Mit leisem Dank nahm sie das Geld. »Sie müssen Linie 3 …«, begann sie, aber die Kundin winkte ab. Sie wusste Bescheid und ging.

Dann las sie weiter:

Denn »Frau im Mond« ist sicher der beste Raumfahrtroman, der bisher geschrieben worden ist. Und zu dem wahrscheinlich doch eine Frau die Feder ergreifen musste, damit er geschrieben wurde.

Das Mädchen lehnte sich zurück und blickte in die Ferne. Die Soldaten hatten sich erhoben, lautes Surren und Rattern drang vom Bahnsteig heran, Quietschen erfüllte die Halle. Die elektrische S-Bahn war da. Bommels Tür gegenüber flog auf und der Vorsteher hastete an ihnen vorbei, fast zusammenstoßend mit dem jungen blonden Kerl in Uniform, der sie nach wie vor ansah und sich anscheinend gar nicht losreißen mochte von ihr.

Mara beachtete ihn nicht, sondern streckte sich nur, als könne sie durch die Halle einen Blick auf die über ihr eingefahrene Bahn erhaschen. Sie liebte Züge, denn die durften die ganze Welt sehen. Natürlich würde diese S-Bahn niemals aus dem Großraum Berlin herauskommen, aber trotzdem! Sie selber sah tagein tagaus nur ihren Holzstuhl und die kleine Fahrkartenbude. Oder die Wohnung in der Fasanenstraße, die sie sich mit ihrem Vater teilte. Mit schnellen Schritten liefen die Soldaten zum Zug. Zuletzt der junge Blonde, der sich einen herrlich unpassenden Schal um den Hals warf und dabei gegen den Rahmen des Ausganges stieß, weil er nach wie vor den Blick nicht von ihr wenden wollte. Er kicherte und sie lächelte ihm hinterher.

Sicher Mutters Weihnachtsgeschenk, dachte sie belustigt und augenblicklich wurde sie traurig. Die Schokolade fiel ihr ein, die sie selbst neulich unter dem Weihnachtsbaum vorgefunden hatte. Die Schachtel war zwar hübsch gewesen, ansehnliche Friedensware, aber die Tafeln des Winters 1943 waren nicht mehr in Wachspapier eingewickelt oder durch Seidenpapier getrennt. Die Plättchen wirkten beinahe durchsichtig, lagen lose in der Packung aus grobem Karton und sie waren auch nicht braun wie früher, sondern mausgrau. Der Geschmack war spröde, sogar etwas sandig. Sie hatte sie dennoch tapfer gegessen, weil sie wusste, dass ihr Vater einen großen Umweg genommen haben musste, um an Schokolade zu kommen. Doch Mara wettete jeden Betrag, dass darin weder Milch noch überhaupt Kakaobohnen enthalten waren.

Als die Halle sich endlich geleert hatte, ließ sie sich zurück auf ihren Stuhl sinken. Die große Uhr im Wartesaal zeigte fünf vor zwei. Gleich würde Hulda kommen und sie ablösen. Dann wäre sie frei, gerade rechtzeitig, bevor es am Nachmittag wieder so richtig voll werden dürfte. Und in der Tat: Schuhsohlen klapperten auf den schwarz-weiß gemusterten Fliesen der Halle, die an vielen Stellen gesprungen und angebröselt waren. Wenn sie sich nicht täuschte, dann …

Und sie irrte sich keineswegs, Vorsteher Bommels Tür flog auf und mit perfekt sitzender Dienstuniform hüpfte der kahlköpfige Mann nahezu aus seinem Kabuff, soweit seine Kriegsverletzung einen Hüpfer gestattete. Er trug die Lesebrille, die er sonst nur im Büro brauchte. Er musste wohl hoffen, dass sie ihn schlauer aussehen ließ.

»Fräulein Hanisch! Gut, dass Sie kommen!«, balzte er das junge Mädchen an.

Mara nahm das Heft und schob es in ihre schmale Tasche. Dann warf sie einen Blick in den kleinen Spiegel an der Holzwand und musterte sich selbst: Sie streckte sich die Zunge raus und ihr herzchenförmiges Gesicht mit den kecken Sommersprossen auf und neben der Nase zwang sie, zu schmunzeln. Mit den Taschenriemen über der Schulter erhob sie sich.

»Tag Fräulein Hanisch«, grüßte sie ihre Ablösung und schritt an den beiden gurrenden Turteltäubchen vorbei. »Die Abrechnung liegt abgezeichnet auf dem Tisch. Es war ruhig heute.«

Vorsteher Bommel beachtete sie nicht, die Kollegin grinste unbeholfen. Geheuer schien ihr das Verhalten des Vorgesetzten wohl auch nicht zu sein… andererseits tat sie nichts, um das zu beenden, im Gegenteil.

Mit geübtem Griff schob Mara ihre Dienstmütze zurecht, so dass sie nicht wegflöge, falls draußen der Wind blies, doch es war bloß kalt. Eisig. Höchstens drei Grad. Bedächtig stieg sie zu den Gleisen hinauf. In den Ecken und zwischen den Bäumen auf der anderen Seite der Strecke lagen Reste von Schnee. Es war ruhig, fast schon still für einen frühen Freitagnachmittag in der Reichshauptstadt. Aber das kam hier manchmal vor, ihre Station lag nicht an einer der Hauptlinien, dadurch wurde der Tag oft langweilig und die Stunden zogen sich. Andererseits hatte sie Zeit zum Träumen, solange nicht Herr Bommel hin und wieder glaubte, er müsste sie kontrollieren. Wenn er selber beschäftigt war, einerlei ob mit seinen Schallplatten oder mit Fräulein Hanisch, konnte Mara nach Herzenslust lesen. Schmökern und Grübeln. Sie las, soviel sie konnte, aber am liebsten verschlang sie alles, was mit dem Weltraum zu tun hatte, mit Luftschiffen und Raketen.

Wie sie sich doch wünschte, eines Tages selber zu den Sternen zu fliegen. Dabei zu sein, wenn aus den Raketenträumen der Wissenschaftler und Pioniere irgendwann einmal ein Mondflug würde. Sie atmete tief die kalte Luft ein. Sie roch nach Holzbrand, dessen Qualm aus dem Schornstein der kleinen Bahnstation quoll und sich in der Windstille gemächlich herabsenkte.

Die Gleise glänzten im kühlen Sonnenlicht. Stahl, der von hier aus überall hin auf der Welt führte. Bis Kairo, China, nur nach Amerika natürlich nicht, dachte sie. Guter deutscher Stahl, doch zu schwer, als dass man damit fliegen könnte. Dafür wurde schon Duralumin benötigt, wie man es im Flugzeugbau verwendete. Sie kannte sich aus.

Fest hielt sie ihre Tasche gepackt und drehte sich langsam auf dem Bahnsteig. Kleine Wölkchen tauchten im Takt der Atemzüge vor ihrem Gesicht auf und verschwanden wieder. Es wurde Zeit, dass der Sommer käme … ja, der Sommer. Aber sie hatte keine Pläne und würde doch hier sitzen. Warum wollte sie überhaupt auf ihn warten?

Mit dem Herannahen der gelb-rot lackierten elektrischen Triebwagen vom Typ ET 169 verloren sich ihre trüben Gedanken. In zwanzig Minuten hätte die S-Bahn sie zum Bahnhof Zoo getragen. Zuvor an der Friedrichstraße umsteigen und ab da führte jede Linie in Richtung Westen. Am Zoo gäbe sie dann dem alten Darburg das Heft zurück und heimlich hoffte sie, dass sie ein neues geliehen bekäme.

Rappelnd kamen die Wagen zum Stehen und bewusst trat sie zur Seite. Deutlich neben die Türen, den Blick niederschlagend, damit man sie nicht für im Dienst befindlich hielt und nach dem Weg oder Preisen für Billetts fragte oder, schlimmer, sich über irgendwas beschweren wollte. Aber alles lief gut, die Menschen wanderten an ihr vorbei, einige Soldaten in Ausgehuniform drängten auf das Bahnsteighäuschen zu und jeder schien nur eines zu wollen: Heim.

Kurz bevor die Bahn anfuhr, schlüpfte Mara durch die sich schließenden Türen und nahm Platz. Der Wagen war nur halb gefüllt. Leise unterhielten sich die Leute über dieses und jenes. Sie hatte erst am Montag Dienst und das freie Wochenende kam ihr vor wie Ferien.

»Wenn ich Glück habe, geht Hermann mit mir in einen Film.«

Das weckte augenblicklich ihre Aufmerksamkeit. Kino … das wäre mal wieder etwas. Ihr gegenüber saßen drei Blitzmädels in Uniform. Wehrmachtshelferinnen, so genannt wegen des gelben Abzeichens an ihren Ärmeln und dem gleichfarbigen Streifen an ihrem Schiffchen, der Uniformmütze. Die anderen kicherten. »Kinooo«, jaulte eine Schwarzhaarige. »Wer‘s glaubt«.

»Aber hör mal«, beschwerte sich die Erste, eine lange dürre Bohnenstange. »Ich muss doch sehr bitten. Was unterstellst du mir da?«

»Nichts, was du mir nicht auch unterstellen würdest«, betonte die dritte, eine dickliche Brünette spitz.

»Tss, ihr könnt ja gar nicht mitreden.«

»Was für ein Kulturfilm soll‘s denn sein?«, fragte die Dicke schmeichlerisch.

»Kein Kulturfilm«, entgegnete die Erste und überhörte den Unterton. »Eine Parodie. Ein Film über Juwelenraub und einen schlauen Detektiv. Herr Sanders lebt gefährlich – gerade angelaufen.«

Die beiden lachten. »Und du magst Detektivfilme? Seit wann!«, johlte die Schwarzhaarige.

»Seit Paul Verhoeven mitspielt«, kicherte die Korpulente.

»Du bist bescheuert«, nölte die Bohnenstange. »Paul Henkels ist der Räuber.«

»Aber der sieht nicht aus wie Lutz. Der Verhoeven schon. Weiß Hermann das?«, gluckste wieder die Dicke mit einem Zwinkern zu den anderen.

»Untersteh dich, der Schuft Lutz kann mir gestohlen bleiben. Treulose Tomate.«

Verwirrende Namen, Mädchenprobleme. Mara schmunzelte und wandte sich ab, sie sah aus dem Fenster. Wenige Bäume, immer mehr Häuser zogen an ihnen vorbei, als es schnurgerade in die Mitte der Hauptstadt ging. Sie kannte den Film gar nicht. Angestrengt überlegte sie, ob sie denn mal davon gehört hatte. Der Titel kam ihr leicht bekannt vor: Herr Sanders … Vielleicht eine Schlagzeile im Filmkurier, den sie bisweilen am Zeitungsstand vom alten Darburg durchblättern durfte.

Sie würde gerne wieder einmal Weltraumschiff 1 startet sehen. Der war faszinierend. Es war einige Jahr her, Ende 1940 hatte sie ihn das erste Mal gesehen und sie würde niemals ihr Staunen vergessen. Was für ein Spektakel: Eine Reise mit einem großen silbernen Raumschiff ins Weltall und rund um den Mond. Leise seufzte sie. Ein Kulturfilm, halb Spielfilm und halb dokumentarisch. So etwas gab es nicht oft. Kulturfilme waren ein wenig Glückssache. Sie wurden selten angekündigt. Meistens liefen sie nach der Wochenschau und vor dem Hauptfilm. In großen Kinos und bei Filmen mit Jugendfreigabe konnte man Glück haben. Die hatten zwei, manchmal drei Vorstellungen am Tag und einen entsprechenden Bedarf an Kurzfilmen. Da half nur immer wieder ins Kino gehen. Aber Billetts waren teuer und als Fahrkartenmädchen bei der Reichsbahn konnte sie sich keine großen Sprünge erlauben – und kleine leider ebenso wenig.

»Nächster Halt Friedrichstraße«, rief der Schaffner an, der sie erst gar nicht kontrolliert hatte. Mittlerweile kannte sie so gut wie jeden bei der BVG.

Sie stand auf und verließ den Zug, schnell zum benachbarten Gleis wechselnd, wo die Linie 2 einfuhr.

Mit der S-Bahn zu fahren war ihr Spaß, ihre Leidenschaft, ihre Passion. Stundenlang saß sie manchmal in den Wagen, sah aus den Fenstern, ließ sich über die Streckenabschnitte der Ringbahn tragen. Von hier aus erreichte sie jeden Winkel der Stadt. Konnte alle Straßen sehen. Die prächtigen und die verwahrlosten, die großen Mietskasernen und Fabriken der Siemensstadt. Die einsamen Viertel des Grunewald, den quirligen und lebendigen, leicht chaotischen Alexanderplatz mit der weithin sichtbaren Roten Burg, dem gewaltigen Polizeipräsidium. Bis raus nach Potsdam ließ sich fahren und von dort Sanssouci erreichen, das legendäre Schloss des bedeutenden Preußenkönigs, der doch so bescheiden gewesen war. Das hatte sie jedenfalls in Der große König gesehen, dem Film von Veit Harlan. So entschieden stemmte sich der Alte Fritz der Kapitulation vor den Österreichern entgegen und war auch wirklich Sieger geblieben. Ein Vorbild, dachte sie bei sich. Auf dem Weg zu den Schlössern lag außerdem die S-Bahnstation Babelsberg-Ufastadt … wer hatte hier nicht alles den Boden betreten? Wessen Füße waren die Treppen hinuntergestiegen und auf der Straße gelandet, unter der Eisenbrücke hindurchgeschritten, von der herab es einem lange nach schweren Regengüssen noch in den Kragen tropfte, selbst wenn schon wieder die Sonne strahlte?! Babelsberg! Ufastadt! Klangvoll, berühmt und geheimnisvoll. Ein Begriff wie ein Gemälde, ein Juwel, ein Heiligtum. Babelsberg, die Filmstadt der UFA, unter deren Mantel seit 1942 die verstaatlichten Firmen der deutschen Filmproduktion versammelt waren.

Mara setzte sich aufrecht hin. Der Bahnhof Zoo kam in Sicht. Gleich war es soweit und sie hielt die Augen offen. Da, endlich!

Hoch überragten sie die Baumwipfel des Tiergartens: die Zwillingstürme der Luftverteidigung am Zoo. Erhoben sich über das Geschachtel der Dächer wie Burgriesen einer sagenhaften Zeit. Kastelle, an denen Sturm und Angriff anprallten, wie die Wochenschau sie beschrieb. Hinter ihren massiven Mauern fanden die Bewohner der Stadt Schutz. Von Ferne sichtbar war das metallene Rund einer schüsselförmigen Scheibe, nach innen gewölbt, von weitem Durchmesser und mehreren Metern Tiefe. Unwillkürlich streckte sie ihren Hals, als handelte es sich um eine Weltsensation, und das war es für sie auch. Eine mächtige Antenne, ausgerichtet auf die anfliegenden Feinde und in der Lage, sie hunderte, tausende Kilometer weit zu orten, lange bevor irgendein Spähposten sie mit seinen schwachen menschlichen Augen entdecken mochte. Was für eine Macht und Reichweite, schoss ihr immer wieder durch den Kopf, egal wie oft sie das Gerät sah. Man nannte die Schüssel den Würzburg-Riesen. Er thronte auf dem riesigen grauen Klotz aus Stahlbeton, der vor gerade einmal drei Jahren in den Tiergarten gepflanzt worden war. Dieser, mit modernster Technik vollgestopfte sogenannte L-Turm, war die Leitzentrale einer Stellung der Luftverteidigung. Er stand im Verbund mit dem G-Turm, auf dessen oberster Plattform Flugabwehrgeschütze installiert waren. Es handelte sich um die größten, die die Wehrmacht überhaupt besaß. Hatte sie zumindest gelesen. Unterhalb befanden sich rundherum Ausbuchtungen, genannt ›Nester‹, mit weiteren schweren Maschinengewehren. Die Bauwerke bildeten uneinnehmbare Festungen gegen die Wut der beinahe täglichen Luftangriffe.

Die Türme, wie Mara sie sah, waren nicht bloß Verteidigungsbollwerke. Mit dieser Technik, so träumte sie, würde man einmal die Sterne anfunken. Bald sogar, wenn erst Frieden wäre. Und von einem Ort wie diesem, das stand für sie fest, würden dereinst Weltraumschiffe starten zu den Planetenräumen. Neben dem Zoo gab es Flaktürme noch in Friedrichshain und am Humboldthain. Eigentlich hätte ein vierter am Flughafen Tempelhof gebaut werden sollen, doch auf den war verzichtet worden, um den Flugverkehr nicht zu stören – so hieß es. Mara dachte weiter. Tempelhof … sicher hatte man Größeres vor – da steckte mehr dahinter – ein Turm für die Sterne vielleicht. Wäre das nicht logisch?

Als die S-Bahn näher an den Bahnhof heranrollte, erkannte sie die wahre Größe der Zwillingstürme. Die Höhe des G-Turms betrug sechsunddreißig, die Seitenlängen über siebzig Meter. Die vier Ecktürme alleine hatten Außenlängen von mehr als zwanzig Metern. Bis zu fünfunddreißigtausend Menschen konnten darin Platz und Schutz finden. Oben, so hatte sie gehört, befanden sich neben den Geschützbettungen sogar siebzig Tonnen schwere Kuppeln aus Panzerstahl und mehrere Aufzüge zum Transport von Munition und leeren Hülsen. Das alles für einen Krieg, der doch bald gewonnen sein würde? Das konnte sie nicht glauben.

Würde man nicht den kommenden Frieden nutzen, um in Tempelhof ein ungleich größeres Turmgespann zu errichten? Mit Flugschiffwerft und Raumhafen, so wie sie es auf Bildern in dem Sonderheft zu dem Mond-Film von Fritz Lang gesehen hatte? Zu gern hätte sie ihn einmal angeschaut, aber der durfte seit 1937 angeblich nicht mehr gezeigt werden. Warum, wusste niemand.

Leider, und es überraschte sie immer aufs Neue, wenn die Bahn auf die Zielgerade des Bahnhofes einschwenkte, gerieten die Türme plötzlich aus dem Blick und Mara war enttäuscht. Sie hatte sogar Personen ganz oben erkannt. Sie schienen so klein, verletzlich und waren doch sicher wie nirgendwo sonst in Berlin. Es musste großartig sein, dort Dienst zu tun … Mit diesem Gedanken erhob sie sich von ihrem Platz und reihte sich ein in die Menge der Menschen, die ebenfalls am Bahnhof Zoo aussteigen wollten.

Die kühle Luft floss durch den Spalt der sich öffnenden Türen. Der Bahnsteig, der sie empfing, war mindestens ebenso gedrängt wie zuvor die S-Bahn.

Sie schob sich nach unten. Schnell, vor den anderen. Aber die Treppe war verstopft und sie musste warten. Mancher sah sie interessiert an und musterte ihre Uniform. Doch nein, so wichtig erschien sie wohl nicht, denn niemand machte ihr Platz.

Unten in dem Durchgang sah es nicht besser aus. Von allen Richtungen her strömten die Menschen und Mara mit ihnen.

Es waren nur wenige Meter zurückzulegen, aber sie fühlte sich wie eine Sardine auf Bezugsschein. Viele trugen dicke Kleidung und wirkten dadurch breiter. Verständlich. Da man nicht wusste, wann der nächste Fliegeralarm käme und wie lange man in irgendeinem Bunker ausharren musste und wie kompliziert danach der Heimweg wäre, wollte man auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.

Sie nutzte eine Lücke und warf sich voran. Den überraschten und wütenden Schrei von jemandem überhörte sie, denn sie war da! Wilhelm Darburgs Zeitungsladen!

Nur ein kleiner Verkaufsraum am Südausgang der breiten Fußgängerpassage des Bahnhofes unterhalb der Bahnsteige. Aber wie man das Geschäft auch nennen mochte, hierher kam Mara gern. Der Inhaber war ein alter und höflicher Mann. Schweigsam, doch immer auskunftsfreudig, wenn sie fragte. Und vor allem gab es nichts, was er nicht hatte oder besorgen konnte.

Er bot all die großen Tageszeitungen feil. Sie hingen vor dem Schaufenster. Durch dieses fiel fahles Licht, geputzt wurde es so gut wie nie. Draußen hatte er bloß Schnüre gespannt, die ganze Wand entlang. Und darüber die Zeitungen ausgebreitet. Aber der billige Aushang war effektvoll, denn die meisten Menschen fanden dort vor der Tür, was sie brauchten und hielten sich im Inneren nicht lange auf.

In seinem Zeitschriftenladen gab es aber viel mehr. Bücher, Abenteuerromane, Reiseberichte. Echte und fiktive. Hier hatte ihr Vater für Mara das erste Buch von Jules Verne gekauft – als Mutter noch lebte. Und weil er selbst gerne phantastische Geschichten las.

Hier fand sie aber vor allem die Groschenhefte, die sie auf ihren Bahnfahrten verschlang. Ein buntes Kaleidoskop der Welten und Schicksale. Sie bekam nicht genug davon. Der Zeitungsstand war wie eine Kraftquelle für sie, als wirkte von hier aus eine Energie, die sie anzog und gestärkt wieder entließ.

Herr Darburg war da, aber doch nicht da. Er unterhielt sich angestrengt mit einem Herrn. Für dieses Gespräch hatte er sich in den rückwärtigen Teil des kleinen Kabuffs zurückgezogen und obwohl sie kaum einige Meter von den beiden Männern entfernt stand, konnte sie nicht hören, was besprochen wurde. Sie schienen erfahren darin, sich für andere unhörbar zu unterhalten. Aber so ganz blieben ihr die Inhalte nicht verborgen. Auch sie hatte Übung in gewissen Dingen.

»In Wien? Was will denn von Weichs in Wien? Hält der nicht die Stellung in Belgrad?«, fragte der Händler den Unbekannten plötzlich laut und erschrocken, während Mara die Hefte durchblätterte. Sie wollte nicht stören, daher hielt sie ihre Tasche mit dem ausgeliehenen Magazin fest im Arm. Die beiden älteren Herren bemerkten sie und ihr blieb nicht verborgen, dass bei ihrem Anblick ein schmales Lächeln über die Lippen des Zeitungsverkäufers huschte, aber sofort kümmerte er sich wieder um seinen Gast.

Unter den Tageszeitungen und Journalen fand sie nichts, was sie interessierte. Unschlüssig beobachtete sie einen Jungen, der sich auffällig unauffällig direkt gegenüber an einem Stand vor dem Laden von Obsthändler Bramme herumdrückte. Plötzlich griff er sich einen Apfel und rannte davon. Der dicke Inhaber war gar nicht weit entfernt, aber er schaute hilflos, blies seine Backen rund und ließ die Luft ab, als pumpe er seinen Kopf auf und gleichzeitig lief er rot an. Mara konnte ein lautes Lachen nicht unterdrücken.

Neugierig unterbrachen die Herren ihr Gespräch. »Kann ich helfen?«, fragte der alte Darburg freundlich, er trug einen gezwirbelten Schnauzbart wie sein Gegenüber und beider Haltung war ähnlich. So wie Wilhelm Darburg stand der andere hoch aufgerichtet, als seien sie es gewöhnt, sich repräsentativ zu bewegen – wie von hohem Rang.

Mara schüttelte ihren Kopf, dass die rote Mähne nur so flog und ihre Dienstmütze beinahe hinterher, noch immer grinsend. »Ich möchte nur das Heft zurückbringen.«

Der Händler nickte, als wollte er ihr bedeuten, einen Moment zu warten.

Der Fremde legte vertraut einen Arm um Darburgs Schulter. »Um Ungarn geht´s doch. Der Generalfeldmarschall soll sich in Wien bereit halten …«, hörte sie den Mann sagen. Langsam arbeitete sie sich zu den Wochenmagazinen vor. Er sprach weiter. »… zum Verzweifeln. Als redete man gegen eine Wand! Schlimmer als damals in Moskau.«

»Ich weiß, Friedrich-Werner, ich weiß.«

»Aber das Unglaublichste ist, dass alle bei uns ratlos sind. Wenn …«, der ›Friedrich-Werner‹ genannte sah sich um und senkte seinen Ton. Aus einem merkwürdigen Zufall heraus nahm plötzlich der Menschenstrom vor dem Schaufenster ab und es wurde stiller, so dass Mara jedes Wort verstehen konnte. »… Horthy hat doch keine Ahnung, was ihn erwartet. Und die … das Amt 500 lässt sich am Gängelband führen. Man kann es doch gar nicht anders ausdrücken.« Den Rest sagte er nicht. Weiter senkte er die Stimme. »Wir sollten ein andermal weitersprechen. Nur soviel noch: Horthy und Kállay können machen, was sie wollen. Sie hätten Keresztes-Fischer nicht Jud Süss verbieten lassen sollen. Die Ungarn sind nicht dumm, sie hätten an der Kinokasse entschieden. Aber der Doktor vergibt sowas doch nicht. Das war der letzte Tropfen.«

Darburg räusperte sich. »Ja, vermutlich. Aufhetzen kann er sie alle. Wie vor einem Jahr. Im Sportpalast«, flüsterte er.

»Eben. Niemand widerspricht. Und ich stehe daneben. Händeringend. Machtlos. Schon wieder. Wie damals, als … als mir versprochen wurde, versprochen Wilhelm, dass nichts gegen Moskau läuft. Es ist zum wahnsinnig werden. Wenn ich nicht reden könnte, mit Leuten wie dir … auf Burg Falkenberg werde ich erst recht verrückt!«

Der Fernzug nach Breslau wurde angesagt und augenblicklich setzte draußen ein Laufen und Eilen ein, als führe ein Wirbelwind durch den Bahnhof. »Und sie wollen das Unternehmen Margarethe nennen«, sagte der Fremde ärgerlich. »Ausgerechnet«.

»Deine Mutter würde sich im Grabe rumdrehen, Fritz«, nickte der Händler.

Mara hörte nichts weiter, aber die Informationshappen sagten ihr ohnehin nichts. Die beiden Männer hielten sich an den Unterarmen, als gäben sie sich ein geheimes Zeichen. Dann verabschiedeten sie sich.

»Genieß die Ruhe auf deiner Burg, mein Guter. Du hast es dir verdient.«

Von der Schulenburg nickte ernst. »Von wegen Burg. Ich werde in Krummhübel erwartet. Wir haben zwar nichts mehr zu tun, aber mussten unbedingt noch ins Riesengebirge verlegt werden. Dass ich die Burg in Falkenberg überhaupt meine Heimat nennen kann, verdanke ich Alwine. Sie hat mir sehr viel Arbeit abgenommen. Leider haben die Eingeborenen dort die Gräfin von Duberg, wie sie sie nennen, in Ungnade genommen. Ich war einfach zu selten dort und habe Alla alleine gelassen. Sie schiebt es auf Christa, ausgerechnet.«

»Deine Tochter? Wie denn das?«

Der große kahle Mann nickte. »Absurd, nicht wahr? Alwine trinkt wieder sehr viel. Und das gefährdet auch ihre Stellung als Übersetzerin beim OKW. Sie ist jetzt in ihrer Wohnung in der Nassauischen Straße. Da nutze ich gern jede Gelegenheit, einen Umweg über Berlin zu machen. Gerade wenn es ihr schlecht geht.«

Als der Fremde an Mara vorbeilief, sah er sie nicht an. Sie spürte eine Aura von Eleganz, Würde und noch etwas. Ja, Macht. Obwohl sie mit ihren fünfzehn Jahren nicht viel davon wusste. Aber dessen Haltung forderte Achtung ein – und der alte Darburg hatte sie ebenso. Das fiel ihr jetzt im direkten Vergleich auf. Menschen beobachten konnte sie. Sie tat ja den ganzen Tag nichts anderes.

Ihre hellbraunen Augen sahen sofort, dass der Zeitungshändler weiter grübelte, als er sich ihr freundlich zuwandte.

»Aber nun zu Ihnen, was darf es sein?«

Hastig nestelte sie das Filmheft aus der Tasche und gab es ihm. Der Mann lachte, doch sagte nichts. Er nahm es nur zurück und legte es sorgfältig auf einen Stapel der Spätausgaben der Tageszeitungen, die er in die Auslage sortieren wollte.

»Ich möchte fragen, ob Sie noch weitere Romane haben?«, erkundete sie sich höflich. Jetzt endlich hellte sich seine Miene wieder etwas auf.

»Sie meinen, spannende Romane

»Ja bitte, so wie neulich Der Tunnel über die unterseeische Atlantikverbindung zwischen Amerika und Europa.« Mara nickte erwartungsfroh. Als sie seinen ernsten Blick sah, sank ihr Mut.

»Ingenieursfantasien … Sie wissen ja, dass solche Hefte dem Ernst der Zeit nicht mehr angemessen sind und deswegen …«, er hob die leeren Hände und sah sie mit einem bedauernden Gesichtsausdruck an.

»Hmm«, brummte sie zustimmend und sah sich weiter um. »Der Mann gerade. War er Ingenieur?«

Darburg grinste. »Neugierig sind Sie aber nicht, oder?«

Sie schüttelte wild den Kopf und lachte keck.

»Er ist Diplomat. Ein Graf sogar. Heißt von der Schulenburg. War einmal Botschafter bei den Sowjets. … Die Tom Shark Romane gefielen Ihnen, oder?«

Selbstverständlich hatten ihr die Abenteuerbücher der Erlebnisse des draufgängerischen und gewitzten Detektivs gefallen. Die Serie war zwar seit 1941 eingestellt, einzelne Hefte konnte man aber leicht und gut finden. Sie hatte zwei geliehen bekommen und augenblicklich verschlungen: Der wandelnde Götze und Das Geschenk des Fakirs. In beiden ging es um metallene Figuren, die zum Leben erweckt wurden. Das fand sie faszinierend.

»Tom Shark ist toll. Wie er die Verbrecher zur Strecke bringt und dabei in andere Länder reist und sich mit den Umständen dort herumschlagen muss. Aber leider, mein Vater hat die Romane gesehen und mir verboten, sie zu lesen.«

»Ach«, hob Wilhelm Darburg die buschigen Augenbrauen. »Warum?«

»Er sagt, das sei jüdische Zauberei wie im Golem

»Oho«, schnaufte der Mann. »Ihr Vater kennt den Film? Der ist ja uralt!«

»Nein«, brauste sie auf. »Er ist von 97, so alt ist er nicht!«

Darburg lachte. »Ich meinte den Film von 1920. Aber gut, jung ist Ihr Herr Papa trotzdem nicht. Nur acht Jahre jünger als ich.«

Mit großen Augen sah sie ihn an. Bisher hatte sie nie darüber nachgedacht, wie alt der Zeitungshändler sein könnte. Für sie war er immer schon dort gewesen, in dem kleinen Laden im Bahnhof Zoo.

»Diesen Film hatte er im Sinn. Den fand er bestürzend.«

»Ja, künstliche Menschen machen Angst. Mir auch. Aber jüdische Zauberei? Maria in Metropolis ist auch nicht jüdisch und sie ist ein Maschinenmensch.«

Kaum erwähnte er den Filmtitel, leuchteten ihre Augen. Metropolis … sie war ein kleines Mädchen, als sie ihn gesehen hatte, und erinnerte sich mit Mühe. Eine Sonntagsmatinee zum reduzierten Preis. Dort zeigte man früher manchmal noch Stummfilme. Ein langer dunkler Film, die Bilder hatten sie fasziniert und geprägt. Mama war noch dabei. Da konnte sie also erst sieben Jahre alt gewesen sein, höchstens acht.

»Stimmt. Metropolis ist toll. Ach, mein Vater … .«

»Was kennen Sie denn von Tom Shark? Wussten Sie, dass er in der ersten Hälfte der Serie immer nur in Berlin ermittelt hat?«

Sie schaute sich um und hätte sich gerne hingesetzt, aber der Laden war klein und sie traute sich nicht, auf einem Zeitungsballen Platz zu nehmen. Sie blieb stehen.

Er fuhr fort. »Eine Entscheidung der Reichsschrifttumskammer. Ab 1935 musste der Verlag die Ermittlungsreichweite von Tom Shark ausweiten, dadurch wurde die Serie vielfältiger.«

»Aber das ist doch gut«, behauptete Mara.

»Für den Leser schon. Aber eigentlich ging es darum, dass nicht alle Verbrechen immer in der Reichshauptstadt passieren durften. Was sollen nur die Leute denken?!«

»Ahaaa«, machte sie nachdenklich. Das wäre ihr nicht in den Sinn gekommen. Doch war es nicht einleuchtend? Wenn es jede Woche eines ausgefuchsten Ermittlers bedurfte, um die allerschlimmsten Untaten in der Hauptstadt aufzudecken, wie musste es dann erst in der Provinz aussehen? »Doch, den Tom Shark würde ich gerne mal wieder lesen«, sagte sie so höflich, vorsichtig und gleichzeitig charmant und begierig, dass der alte Darburg besonders zuvorkommend wurde. Irgendwo hatte sie einmal gehört, dass er Kinder hatte, die noch klein waren. Ein Mädchen, fünf oder sechs Jahre alt und einen jüngeren Sohn. Vielleicht behandelte er sie deshalb immer so ernsthaft. Die meisten Menschen nahmen sie ja gar nicht für voll.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte er. »Bitte denken Sie nicht, dass ich unhöflich wäre, aber wir kennen uns ja jetzt schon eine ganze Zeit und wir haben noch nie einander vorgestellt.«

Das Mädchen in der Reichsbahnuniform strahlte und machte einen Knicks, während sie ihm die Hand reichte zu einem zarten Händedruck.

»Mara. Mara Prager. Berlin W15. Sehr erfreut«, sagte sie kess. »Sie dürfen Frollein sagen, das sagen alle.«

Darburg lachte laut und deutete eine Verbeugung an. »Zu Ihren Diensten, junges Frollein, Berlin W15.« Beide kicherten, während draußen der Schnellzug nach Hannover angesagt wurde, auf Gleis 4 einfahrend.

»Oh, mir fällt ein, ich habe einen Tom Shark zu Hause, den Sie bestimmt noch nicht kennen. Soll ich den mal mitbringen? Er heißt Das Raketenluftschiff. Ist schon zehn Jahre alt, aber gut geschrieben. Ich habe ihn für meine Kinder aufbewahrt, doch die sind noch zu klein, sie würden das nicht lesen. Sie heißen übrigens Linn und Erich.«

»Das wäre wunderbar. Raketen, ich liebe Raketen. Die Weltenräume, unendliche Weiten …«, es schien, als hüpfe das Mädchen. »Dann darf ich morgen wiederkommen?«

»Hätten Sie mich um Erlaubnis gebeten? Ich führe ein Geschäft!«

»Nein, kaum«, sagte sie trocken. »Ich wäre einfach aufgetaucht.«

»Gut so. Das gefällt mir«. Sein weißer Schnauzbart zog sich mit dem Grinsen in die Breite.

Als sie sich zum Gehen anschickte, tat er einen langen Schritt zu einem der Zeitschriftenständer.

»Warten Sie, mir fällt noch etwas ein. Das hier ist was für Sie. Da bin ich sicher.« Er zog eines der Hefte aus dem Drahtgestell und hielt es ihr hin. Auf dem rosafarbenen Titelbild sah sie einen Soldaten mit Stahlhelm, der sorgenvoll in die Ferne schaute. Die neuste Ausgabe der Woche vom vergangenen Mittwoch.

»Danke«, sagte Mara zögernd und sah auf den Preis. 40 Pfennige. Viel Geld. Für die Titelgeschichte ›Fallschirmjäger als Panzerknacker‹?

Der Zeitungshändler wusste ihren Blick zu deuten. Er nahm ihr das Heft aus der Hand und schlug es für sie auf. »Da, schauen Sie. Diesen Artikel meine ich. Ab Seite zehn.«

Maras Augen weiteten sich. ›Sternwarte nicht nur für Gelehrte‹, las sie und überflog schnell den Text.

»Mondsüchtige Würmer, das Leibgericht der Samoaner, gehören zu den astronomischen Seltenheiten des Museums der Sternwarte Treptow…«, murmelte sie leise. Dann hob sie die Augen und sah in sein altes Gesicht, schluckend. »Das ist … schon ekelig?!«

»Ja, aber aufregend, nicht wahr? Hier, nehmen Sie es mit.« Er hielt es ihr hin, so dass sie nur die Tasche öffnen und er es hineinschieben musste. »Bringen Sie es morgen wieder, wenn Sie kommen. Oder übermorgen.«

»Danke sehr«, hauchte sie glücklich und trat zurück in die Halle. Es war Zeit, nach Hause zu gelangen, bevor ihr Vater von der Schicht heimkehrte.

Sie verließ den Bahnhof, hielt sich westlich und lief an der Drogerie Dr. Kuhlmann vorbei, überquerte den Bahnhofsvorplatz und machte einer Gruppe von Karbolmäuschen Platz, wie Vorsteher Bommel die Rotkreuzschwestern gerne nannte. Sie kamen ihr mit schweren Taschen entgegen. Mara fand es respektlos, sie so zu nennen. Dann eilte sie über die Joachimstaler und blieb an der nächsten Ecke stehen, am Leinenhaus, dem Kurfürstendamm Nummer 227.

Vor ihr gähnten die dunklen Fensterhöhlen einer Ruine. Früher gab es da im Erdgeschoss mal einen Kurzwarenladen. Erst vor einem Monat hatte das moderne Gebäude Treffer abbekommen und war ausgebrannt. Doch etwas anderes faszinierte sie stärker. Hinter dem Haus lag ein Hof, eine Art kleiner Stadtgarten, zu dem eine Durchfahrt mit einem Tor gehörte, so dass man ihn normalerweise nicht einsehen konnte. Jetzt war ein Teil der Mauer eingestürzt und mitten auf der Freifläche klaffte kreisrund ein Krater, gut und gerne sieben Meter im Durchmesser und etwa einen tief. Mara fand ihn wunderschön. Er war perfekt. Sie sah nach oben in den kalten, aber strahlend blauen Himmel und versuchte, sich die Flugbahn der Bombe vorzustellen. Geschürft aus Erz, geschmiedet aus Stahl fern in Amerika, zerplatzt und jetzt zu Rost und Staub zerfallend in Berlin. Welche Hände dieses Stück Menschenwerk berührt haben mochten, bevor es einen solchen Krater zu schaffen vermochte. Geradezu ein Kunstwerk war daraus geworden. Erde, Stein und Metallsplitter – er sah exakt so aus wie die Einschlagsorte auf der Mondoberfläche, die sie in ihren astronomischen Büchern immer wieder bewunderte.

Sie reckte sich ein wenig. Mit etwas Phantasie ließ sich vorstellen, dass kleine Wesen darin lebten oder auf einem fernen Planeten aus einem solchen Krater heraus irgendwann in weiter Zukunft einmal ein Raumschiff von einem unterirdischen Bahnhof starten würde. Sie dachte an eine Geschichte, die sie in einem Planet Stories-Heft gelesen hatte: ›War-Lords of the Moon‹. Sie erinnerte sich genau. Die war auf Englisch gewesen, aber die Sprache konnte sie gut. Zwar las Mara langsamer, doch eigentlich war es nur eine Sache der Übung. Plötzlich lachte sie. Ihr Englischlehrer, Herr Dallmann, hatte böse geschimpft, als sie ausgerechnet ein solches Heft in den Unterricht mitgebracht hatte. Undeutsche Schundliteratur hatte er gewütet – und sie trotzdem gefragt, ob er es sich bis zur nächsten Stunde ausleihen könnte.

Etwas widerwillig löste sie sich von dem Anblick und nahm sich fest vor, jetzt täglich einmal nach dem Krater zu sehen. Ob er sich mit Wasser füllte? Ihre Stirn legte sich in Falten, als sie sich vorzustellen versuchte, ob auf fremden Welten die Krater voll Wasser liefen?! Auf dem Mond würde es wohl keines geben. Aber sicher war sie sich nicht. Sie wandte sich nach rechts und ging ein Stückchen den Kurfürstendamm entlang, bis sie wenig später links in die Fasanenstraße einbog. Nahezu schlagartig verstummte der Verkehr hinter ihr und es wurde deutlich stiller.

Die Fasanenstraße lag zentral in der Stadt und doch war sie ruhig. Die hohen Bäume spendeten Schatten und im Sommer spielte das Licht durch die Blätter und zeichnete eine nicht enden wollende Abfolge von szenischen Bewegungen auf den Boden. Und im Winter reckten sich ihre kahlen Gerippe bis über die Dachfirsten hinaus. Wenn sie abends im Bett lag, konnte sie aus dem Fenster ihres Zimmers die Baumwipfel sehen, die von unten durch die Laternen gelblich beschienen wurden. Manchmal sahen sie wie Außerirdische aus, die zu ihr hineinblickten und winkten. Freundlich, bisweilen lockend, als wollten sie sie dazu verleiten ins Freie zu klettern und mit ihnen auf eine ferne Reise zu gehen.

Sie gluckste. Ja, bei Tageslicht waren solche Gedanken weit weg und erschienen ihr fast kindisch. Aber so manches Mal war ihr des Nachts doch bange. Insbesondere, wenn ihr Vater Nachtschicht hatte auf seinem Stellwerk im Süden der Stadt, außerhalb von Lichterfelde.

Die letzten Meter zur großen hölzernen Jugendstilhaustür der Hausnummer 59 lief sie schneller. Ob Paps schon da war? Er sollte heute bis 15 Uhr Dienst tun, aber sein Weg war lang. Hatte sie vielleicht noch Zeit zum Kochen? Er mochte es nicht gerne, wenn er nach Hause kam, und nichts war fertig.

»Tach Frollein Prager, die Klingel ist kaputt. Hamm wa aber gleich.« Mit diesen Worten kam Bewegung in Hausmeister Butzke, der bis dahin reglos vor seiner kleinen Werkstatt am linken Eck des Hauses Nummer 58 gestanden hatte. Er trat neben sie, schloss für sie die Tür auf und ließ sie ein. Mara wunderte sich, denn sie hatte ja selber einen Schlüssel. Der Mann war nicht groß und überragte sie kaum, hatte strähnige schwarze Locken und seine Nase triefte oft, die er gerne hochzog. Wann immer sie ihn sah, trug er Arbeitskleidung und eine lange blaue Schürze. Vielleicht sogar im Bett. Aber noch seltsamer mutete sein halbwüchsiger Sohn Heinz an, erst vierzehn Jahre alt, der ihr gegenüber nie den Mund aufbekam. Der hockte mit einem Pinsel in der Hand auf den Treppenstufen und überstrich eine Lücke im Putz. Er sah verkrampft auf seine Arbeit und schielte doch zu ihr hin. Sie beschloss, ihn zu ignorieren. Stattdessen nickte sie nur dem Hausmeister zu, dem die dicke Nase wieder lief und dessen strähnige schwarze Locken ihm über die Stirn fielen.

»Danke Herr Butzke, sehr nett.« Aus dem Augenwinkel beobachtete sie seinen Sohn. Heinz sah aus wie seine Mutter Mildred und er verhielt sich so ähnlich. Sie war eher schweigsam, aber noch anders als er.

Mara schwebte an ihm vorbei und bemerkte, wie er seinen Kopf drehte, als auf dem nächsten Absatz die stets leicht blauhaarig gefärbte Frau Winkler an der Wand lehnte. Sie war im Gespräch mit Werner Kämmerlin, dem Blockwart, als solcher zuständig für mehrere Dutzend Wohngemeinschaften nebst Untermietern in der Fasanenstraße. Dünn und lang war er, seine Kleidung schien oft eine Nummer zu groß. Die Haare lagen eng an seinem Schädel, der durch die Hakennase aussah wie eine römische Büste. Er trug seine Parteiuniform, wie immer bei dienstlichen Anlässen. Dass er sich im Haus aufhielt, war nicht ungewöhnlich. Er und Butzke waren befreundet, obwohl der nicht in der Partei war, wie er bei jeder Gelegenheit betonte. Er hielt nichts von dem Verein. Dafür umso mehr von Kämmerlin selbst.

Sonderbar war eher, dass sich die zänkische Frau Winkler mit ihm unterhielt, sogar angeregt. Beide verstummten, als sie Mara sahen. Hinter vorgehaltener Hand nannten manche ihn ›Kümmerling‹. Dabei war er gar nicht so übel, fand sie. Ein echter Blockwart wie er im Parteibuche stand und ebensolcher Parteigenosse. Neugierig, etwas vorlaut vielleicht. Aber sie hatte nichts zu klagen.

Bevor sie grüßen konnte, bekam sie von der Winkler ihr Fett weg.

»Ihr Vater ist seit einer Stunde zu Hause und ich kann mir denken, dass er hungrig ist.«

Mara hielt den Atem an, ging dann aber einfach an ihr vorbei. Höflich nickte sie. »Guten Tag Frau Winkler und ein schönes Wochenende. Grüße an den verehrten Herrn Gemahl. Tag Herr Kämmerlin.«

Der Blockwart lächelte freundlich zurück. Nicht ohne Genugtuung sah sie, wie der Mund der zänkischen Nachbarin aufklappte. Warum mischte sich die Alte ständig in alles ein? Reichte es nicht, dass sie ihren Mann Uwe tyrannisierte?

»Und dieses Jahr an Führers Geburtstag flaggen wir richtig, nicht so ein Taschentuch wie im letzten Jahr. Kümmern Sie sich um eine richtige Fahne«, meckerte die Alte den Blockwart an, während Mara sich entfernte.

Auf der ersten Etage wohnten die Martens. Diplom-Ingenieur Ewald, ein Erfinder, hatte seine Werkstatt in dem zweiten kleinen Laden im Erdgeschoss des Nachbarhauses und nutzte den Schuppen auf dem Hof hinter ihrem Haus. Dort bastelte er an elektronischen Geräten, um die er stets eine ungeheure Geheimnistuerei veranstaltete. So geheim waren sie, dass er trotzdem bei Fliegeralarm im Keller der ganzen Hausgemeinschaft erzählte, wie ausgeklügelt sein Frequenz-Peilgerät sei, viel besser als die Technik von Telefunken, die auf den Flaktürmen eingesetzt würde. Das Rüstungsministerium förderte seine Forschungen sogar. Aber alles höchste Verschlusssache. Gundel, seine Frau, sprach lieber von ihren beiden Kindern, die auf Kinderlandverschickung waren. Die Aufnahmegaue für Berlin waren die Mark Brandenburg, Ostpreußen und der Warthegau, dorthin hatte es die Martens-Kinder verschlagen. Die Familie hatte Geld, sogar ein Hausmädchen lebte bei ihnen. Und nicht selten hörte man jemanden auf ihrem Blüthner-Flügel spielen.

Hinter ihr führten Frau Winkler und Herr Kämmerlin die Unterhaltung flüsternd fort. Die kannten sich hier alle seit Ewigkeiten, während ihr Vater und sie erst vor einem Jahr in die Fasanenstraße gezogen waren.

Sie passierte im zweiten Stock die Wohnung des alten Professors Hübner, der dort mit der erst 22-jährigen Lenore Carius lebte, einer Bibliothekarin. Und so, wie man sich eine Bibliothekarin vorstellte, war sie auch: spröde, unfreundlich, altmodisch und monoton gekleidet. Auch der Professor wurde seinem Stand gerecht: Zerstreut, mit einer dicken Brille versehen, glatt fallendes Haar in einem Topfschnitt geschnitten und eigenwillig, da er sich permanent weigerte, bei Alarm den Keller aufzusuchen.

Die Wohnung in der Mitte des Hauses stand leer, schon seit sie hier wohnten. Warum, wusste niemand. Man sprach nicht über die Mieter. Nicht einmal Gerüchte wurden weitergetragen. Vielleicht war es eine Familie im Auslandseinsatz, oder Geheimagenten, die ständig an wechselnden Orten arbeiteten. Als sie bei den Winklers im vierten Stock ankam, lief sie schneller. Die Alte stand zwar unten, aber Mara hatte es sich angewöhnt, hier schnell vorbeizuhuschen. Urplötzlich konnte sich nämlich die Tür öffnen und die olle Schrapnelle verwickelte sie in ein sinnloses Gespräch. Eine nervige Angewohnheit, sozusagen.

Nun schnaufte sie doch ein wenig. Vier Stockwerke musste sie klettern, dann war sie endlich oben. Auf dem Treppenabsatz der fünften Etage unter dem Dach angekommen hörte sie bereits Musik. Kirchenmusik. Unschlüssig blieb sie stehen. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass ihr Vater missgelaunt war oder traurig … nicht selten traf beides gleichzeitig zu.

Die Tür wurde von innen geöffnet und einen Spalt aufgezogen. Sie sah einen Schatten davon schlurfen und im Wohnzimmer verschwinden.

»Komm gefälligst rein. Du bist viel zu spät. Essen macht sich nicht von alleine!«, seine Stimme war schwer und lallte ein wenig. Kirchenmusik und keine Umarmung – dann musste Vater schlecht gelaunt und wohl auch angetrunken sein. Nach weiterem Alkohol- und Musikgenuss würde er irgendwann anfangen, lauthals mitzusingen.

»Ich mache sofort Reibekuchen«, rief Mara mit aufgesetzter guter Laune. Bloß es jetzt nicht verschlimmern. Sie ging erst gar nicht in ihr Zimmer. Zog lediglich die Uniformjacke aus und hängte sie an die Garderobe, bevor sie die Schuhe abstreifte. Ihre Tasche lehnte sie an die Wand und betrat die Küche. Ein leiser Seufzer entfuhr ihr. Es sah aus wie gestern. Natürlich sah es das. Wer sollte aufräumen, wenn sie es nicht täte?

Sie setzte den Herd unter Feuer und schnitt ein kleines Eckchen Butter in eine Pfanne. Das musste reichen. Kartoffelbrei hatte sie noch vom letzten Abend. Der wäre brauchbar. Ihr Vater mochte Reibekuchen, das war schön, denn die waren leicht herzustellen und es ging schnell. Leider stank danach alles nach Fett, aber sie hielt die Tür zu ihrem Zimmer immer geschlossen und dahin würde sie sich alsbald zurückziehen.

Kurze Zeit später brutzelte es in der Pfanne. Ihr Vater rief irgendwas, viel zu laut. Das war typisch. Wenn er getrunken hatte und Musik hörte, saß er in seinem dicken Sessel und konnte die Lautstärke seiner Stimme nicht mehr einschätzen. Er lallte nicht nur, sondern lallte brüllend – oder umgekehrt. Gleichmütig ertrug sie es, denn es ging keine weitere Gefahr von ihm aus. Soeben lancierte sie die Plinsen aus der Pfanne auf einen Teller, als die Küchentür aufgestoßen wurde.

»Hast du es nicht mehr nötig, mir zu antworten?«, keifte er, sich am Türpfosten festhaltend.

Sie schichtete die fettigen Scheiben säuberlich auf einen Stapel und hielt ihm den Teller hin.

»Hier. Lass es dir schmecken. Ich habe dich nicht gehört. Das Fett spritzt und knistert.«

Ohne ein Wort nahm er das Essen und ging wieder zurück in das Wohnzimmer. Mara balancierte den zweiten Teller und folgte ihm.

Die gute Stube war nur so groß, wie es ein kleines Refugium unter dem Dach zuließ. Ein schmales Wandregal, ein Tisch, vier Stühle, ein Sofa, der Volksempfänger und das alte Grammophon. Die anderen Wohnungen im Haus waren geräumiger, bis auf die vom Butzke ganz unten, die dürfte wegen des Hausflurs ebenso winzig sein. Aber er hatte ja die Werkstatt nebenan.

Die Musik war verstummt. Die Nadel lag noch auf dem Plattenteller, der aufgezogene Motor war schlicht abgelaufen und ihr Vater hatte sich nicht die Mühe gemacht, das Getriebe wieder aufzuziehen. Dann muss er die letzten Minuten das Geleier einer ständig langsamer laufenden Platte ertragen haben. Schrecklich.

Er brummte anerkennend, als er hungrig die ersten drei Reibekuchen fast gleichzeitig verschlang. Mara aß nur einen, den sie sich selber genommen hatte. Während sie an diesem mümmelte, vertilgte ihr Vater die anderen. Einen halben ließ er übrig und lehnte sich zurück. Er sah sie an, offenbar sanfter gestimmt. Sie hatte keinen Appetit mehr, aber aß trotzdem auf. Man durfte nichts verkommen lassen in diesen Tagen. Mit Bezugsscheinen einkaufen zu gehen bereitete schon nur wenig Freude. Da musste man erst recht Reste vermeiden.

»Das Fahrkartengeschäft macht dir keinen Spaß, wie?«, fragte er unvermittelt. Mara steckte sich das letzte Stück in den Mund und kaute langsamer. Wie meinte er das? Warum wollte er das wissen?

»Ich habe ein gutes Wort eingelegt für dich, damit du bei der Reichsbahn unterkommst. Das ist nicht leicht in diesen Zeiten.«

Sie schluckte und nickte. »Danke Paps.«

»Wenn du dankbar wärest, würdest du keinen Anlass zu Beschwerden geben.«

»Was? Ich … warum Beschw…«, weiter kam sie nicht.

»Herbert hat angerufen. Er sagt, du seist nicht bei der Sache. Würdest lesen am Arbeitsplatz anstatt dich nützlich zu machen.«

»Nützlich machen? Da ist …«, hob sie an, aber Vater fiel ihr ins Wort.

»Und du behandelst die Fahrgäste schlecht. Du ignorierst sie.«

»Paps, das ist nicht wahr. Es …«

»Leugne nicht«, wurde er lauter und bedrohlicher. »Herbert hat angerufen. Mich beinahe herbeizitiert. Paul Butzke rief mich runter zu seinem Apparat und hat alles mit angehört. Peinlich war das. Ausgerechnet. Ich habe mein gutes Wort für dich bei ihm eingelegt. Und du enttäuscht mich so. Als wir 1917 im Argonnerwald ganz alleine …«

Jetzt war es an ihr, ihn zu unterbrechen. Sie kannte die alten Kriegsgeschichten. Die ihres Vaters, die von Bahnhofsvorsteher Bommel – immer die gleichen. Sie unterschieden sich nur in der Anzahl der Feinde, die herangestürmt und von ihnen besiegt worden waren.

»Ich arbeite gut da, aber es passiert oft lange gar nichts. Und es ist auch nichts zu tun. Ich werde nicht noch die Gleise blank putzen.«

»Eine Frechheit«, fuhr ihr Vater hoch. »Du könntest dir wenigstens mal anhören, was Herbert …«

»Vorsteher Bommel, Paps. Er hört den ganzen Tag Musik und lässt sich nie blicken, außer um mal die Abfahrtspfeife zu blasen und bei der Einfahrt eines Zuges kurz dem Triebwagenführer zuzuwinken. Und sonst …«, sie wollte den Rest ungesagt lassen, aber ihr Vater war angriffslustig.

»Was ist sonst? Herbert hat viel Verantwortung, die auf seinen Schultern ruht. Innerhalb des Bahnhofsbereiches ist der Bahnhofsvorsteher auch gleichzeitig der örtliche Luftschutzleiter. Daneben ist er für alle Maßnahmen des Warn- und Meldedienstes, der Verdunkelung und des Feuerschutzes verantwortlich. Und für die Reisenden! Und …«

»Er kümmert sich aber mehr um sein doofes Grammophon und Frollein Hanisch als um seine Arbeit.«

Jetzt erhob er sich, leicht schwankend. Daher hielt er sich gebeugt an der Armlehne fest.

»Es steht dir nicht zu, seine privaten Angelegenheiten zu kommentieren. Er hat sich für das Vaterland verdient gemacht und wenn er auf seine alten Tage … junges Blut …«, mehr sagte er nicht, die Worte fehlten ihm. Aber sie hatte genug, nahm Besteck und Teller und trug sie in die Küche, um abzuwaschen.

»Ich möchte, dass du dich am Montag bei ihm entschuldigst und dass das nicht mehr vorkommt«, rief er von hinten. Das Plumpsen und Knarren von Sprungfedern verriet, dass er wieder in den Sessel gefallen war.

»Ich habe dich auch lieb, Paps«, sagte sie halblaut vor sich hin, erledigte den Abwasch und ging für den Rest des Abends auf ihr Zimmer. Ob sie sich rechtfertigen würde, war überhaupt nicht raus. Nun freute sie sich erst einmal auf das Wochenmagazin vom Darburg und den Artikel über die Sternwarte. Damit würde sie genüsslich die Zeit verbringen. Und vielleicht noch eines der alten amerikanischen Hefte durchblättern, die sie sorgfältig hinter dem Kleiderschrank versteckt hatte. Ihr Vater brauchte von deren Existenz nichts zu wissen, er verstand die Sprache ohnehin nicht.

Irgendwann dudelte die Musik im Wohnzimmer wieder durch den Flur. Nachdem sie den Artikel über die Sternwarte Treptow dreimal gelesen hatte, schlief sie zufrieden und mit einem träumerischen Gesichtsausdruck ein.

Kleine Frau im Mond

Подняться наверх