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2. Grundlegung des völkischen Nationalismus: Bernhard Förster und Otto Glagau

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Am Ende des ersten Jahrzehnts nach der Reichsgründung stehen somit diametral entgegengesetzte Begründungen der Judenfeindschaft im Raum, was für alle, die aus affektiven Gründen zu dieser Disposition neigen, erhebliche Probleme hinsichtlich der gedanklichen Konsequenz und intellektuellen Dignität ihres Standpunktes aufwirft. In Reaktion hierauf – und zweifellos auch auf das zu dieser Zeit zu verzeichnende Abebben der ersten antisemitischen Woge – setzen noch in den 80er Jahren Bemühungen ein, die divergierenden Positionen zu harmonisieren und der Bewegung dadurch neuen Schwung zu verleihen. Wichtige Impulse gehen dabei nicht von Wagner selbst, wohl aber von jenem Teil seiner Anhänger aus, der sich mit der radikalen Zeit- und Weltablehnung des Meisters schwertut – Ludwig Schemann, Adolf Wahrmund, Houston Stewart Chamberlain und vor allem: Bernhard Förster, der zusammen mit seinem Bruder Paul und Max Liebermann von Sonnenberg die Antisemiten-Petition von 1880 initiiert.1 Andere Anstöße kommen von Otto Glagau, der schon in den 70er Jahren mit einer aufsehenerregenden Artikelserie in der Gartenlaube hervortritt, im Anschluß daran einige auflagenstarke Broschüren herausbringt und von 1880 bis 1888 mit dem Kulturkämpfer eine der wichtigsten Zeitschriften des antisemitischen Spektrums ediert.2 Im Schrifttum dieser Autoren zeichnen sich zum erstenmal die Konturen der völkischen Ideologie ab.

Daß ausgerechnet Bayreuth hierzu einen erheblichen Beitrag leistet, ist auf den ersten Blick überraschend, scheint doch von dort keine Brücke zu den Auffassungen zu führen, wie sie Dühring in bezug auf Wissenschaft und Religion hegte. Sieht man näher zu, so zeigt sich allerdings, daß die Distanz weit mehr von seiten Dührings als von seiten Bayreuths betont wird. Während Dühring den Wagnerschen Kreis den „rückläufigen und romantischen Elementen“ zurechnet und sich, „bei aller Achtung vor der Persönlichkeit Schopenhauers“, von dessen lebensfeindlichen und weltflüchtigen Bestrebungen distanziert3, weist Wagner Dührings Schrift über die Judenfrage einzig wegen ihres Stils zurück, nicht wegen ihres Inhalts; und es sind Dührings Invektiven gegen seine Person, nicht diejenigen gegen die Juden, die Wagner verärgern.4 Einen absoluten Hiatus, wie er von der Sache her durchaus bestand, hat Wagner in bezug auf Dühring nicht wahrgenommen, sonst hätte er auch wohl kaum die Erziehung seines Sohnes Siegfried einem Hauslehrer anvertraut, der sich beim Einstellungsgespräch zum Erschrecken Cosimas als „Dühringianer“ entpuppt.5 Der neue Erzieher, Heinrich von Stein (1857 – 1887), wird sich zwar unter dem Einfluß Wagners weit von seinem Ausgangspunkt entfernen, besonders was die Einstellung zur Religion betrifft, doch wird er Dühring, bei dem er 1875 studiert hat, zeitlebens Respekt zollen. Der Aufsatz Über Werke und Wirkungen Rousseaus, der im Dezember 1881 in den Bayreuther Blättern erscheint, setzt mit einer Reverenz vor Dühring ein, für die sich Stein zuvor beim Herausgeber Hans von Wolzogen (1848 – 1938) – und damit indirekt von Wagner – das Plazet holt. Er sei zwar, schreibt er am 5. November 1881, Dühring im tiefsten Grunde seines Gemütes entfremdet, seit er zu Wagner gehöre, doch fühle er sich durch Dührings „einem so gänzlich verschiedenen Grund entkeimten und dennoch gleichen Lehren bestärkt in unseren Resultaten.“6 Und Wolzogen beeilt sich zu erwidern:

„Ich freue mich sehr gerade auf diesen Ihren Rousseau; und am allerwenigsten beängstigt mich dabei die Ihnen nötig erscheinende Erwähnung Dührings. Wir stehen wahrhaftig nicht auf jenem Standpunkte des litterarischen Verkehres, auf welchem es heisst: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘, und wo jede persönliche Missachtung mindestens durch Nichtachtung erwidert werden muss. Mich dünkt, wir haben die Pflicht, einmal auch eines Mannes wie Dühring mit allergrösster Gerechtigkeit ausdrücklich zu gedenken.“7 Im Kampf gegen die „Schemen semitisch-lateinischer Zivilisation“ ist Bayreuth von Anfang an nicht wählerisch bei der Suche nach Bundesgenossen.8

Während aber Stein und Wolzogen, bei aller Konzessionsbereitschaft, noch an Wagners Gegenstellung gegen die Modernität festhalten – Stein mehr mit der Präferenz für einen ästhetischen, Wolzogen mehr mit der für einen nationalreligiösen Fundamentalismus9 – wird der Schritt zum typisch völkischen Kompromiß zwischen Ablehnung und Bejahung des ‚Fortschritts‘ erst von Bernhard Förster (1843 – 1889) vollzogen. Ein Gymnasiallehrer mit hochfliegenden Ambitionen, der für das Stocken seiner Karriere die Juden verantwortlich macht und sich deshalb in öffentliche Auseinandersetzungen verstrickt, die ihn 1880 sein Amt kosten, betätigt sich Förster von Anfang an als ein „Agent Bayreuths“.10 Schon sein erster öffentlicher Auftritt gilt der Apotheose Wagners, der als „Begründer eines deutschen Nationalstils“, als Prophet einer ‚konservativen Revolution‘ und als Erneuerer „unsere(r) schon vergrabene(n) und vergessene(n) Wotan’s-Religion“ gefeiert wird11; ein weiterer Vortrag walzt Wagners Invektiven gegen die Rolle des Judentums in der Musik aus und sieht in ihrem Urheber eine Reinkarnation des Dürerschen Ritters zwischen Tod und Teufel.12 Seine „Gedanken über Deutsche Cultur, Wissenschaft, Kunst, Gesellschaft etc.“ veröffentlicht Förster 1883 unter dem Titel Parsifal-Nachklänge. Auch sonst läßt er bei jeder Gelegenheit den Jünger durchblicken, sei es, indem er sich Wagners Kampf gegen die Vivisektion zu eigen macht, sei es, indem er dessen Idee einer Regeneration durch Musik gegen die Polemik Eugen Dührings verteidigt.13 Noch das Kolonisationsunternehmen, das Förster im Februar 1886 nach Paraguay führt, geschieht in Ausführung von Überlegungen, die der späte Wagner in Religion und Kunst (1880) ventiliert.14 Wenn Förster wenige Monate vor seinem Ende die Bayreuther Gemeinde beschwört, daß er seine Arbeit in Nueva Germania als geistiger Sohn Richard Wagners leiste, kann er der Bestätigung und Unterstützung durch Bayreuth gewiß sein.15

Gleichwohl fällt auf, daß Wagner diesem Jünger gegenüber auf Distanz hält. Die eben geknüpfte Beziehung droht schon zu Anfang wieder zu zerreißen, als Wagner Bedenken gegen Försters Mangel an Besonnenheit im Umgang mit dem Christentum äußert und ein von diesem eingereichtes Manuskript nur mit den Kürzungen Wolzogens in den Bayreuther Blättern bringen will.16 Mehrere Bitten Försters um Wagners Unterschrift unter die von ihm initiierte Antisemiten-Petition werden abschlägig beschieden, desgleichen die Aufforderung zur Unterstützung einer geplanten antisemitischen Zeitung. „Sehen Sie, ob Sie in Fürst Bismarck’s Kram passen“, schreibt Wagner ihm am 22. Januar 1881 aus Neapel und fügt hinzu: „und Sie scheinen in den Kram zu passen, denn Sie adoptieren sein ganzes Programm“. Auch die Kolonisationspläne stoßen mitnichten auf Wagners Zustimmung. Am 9. 2. 1883 notiert Cosima Wagner: „Beim Frühstück besprechen wir die organisierte Auswanderung durch B. Förster, von welcher wir vernehmen, daß sie zahlreich vor sich gehe, daß Eltern ihre Söhne ihm anvertrauen; das erschrickt R. sehr, da er kein großes Vertrauen hegt.“17

Nach den Gründen für diese Distanzierung muß man nicht lange suchen. Förster stimmt zwar in puncto Antisemitismus, Antivivisektion und Vegetarismus durchaus mit einigen Anliegen Wagners überein, schwächt dessen Zeitablehnung jedoch in entscheidenden Punkten ab. Der gegen die Vivisektion gerichtete Aufsatz spricht sich bei aller Kritik sehr wohl für die Freiheit der Wissenschaft aus und bezeichnet es als ein „erhabenes Ziel“, „ins Innere der Natur einzudringen, dem Leben seine Gesetze ablauschen zu wollen“; zurückgewiesen wird lediglich, wie später bei Chamberlain, der Totalitätsanspruch der Wissenschaft, der durch den Hinweis auf die veredelnden Wirkungen von Kunst und Moral relativiert wird.18 Ein Umgang mit der Natur, wie ihn neben Goethe Kant, Darwin u. a. gepflegt hätten, wirke wohltätig auf Verstand und Phantasie ein und bilde gleichzeitig den Charakter. Eine umfassende technische Schulung wird ebenso ins Auge gefaßt wie eine am preußischen Vorbild ausgerichtete Militarisierung, die durch eine neu zu schaffende „Gesundheits-Armee“ zu ergänzen sei, „welche der ‚Hygiene‘, das heißt der physischen Wohlfahrt der Gesammtheit“ dienen solle.19 Unternehmungen industrieller Art werden keineswegs grundsätzlich verworfen, wie bei Wagner, sondern lediglich mit der Auflage versehen, daß die von ihnen erzielten Gewinne allen an ihnen Beteiligten, einschließlich der Arbeiter, zugute kommen sollen.20 Der Kapitalismus muß sich zwar heftige Anklagen gefallen lassen, doch begnügt sich die vollmundig verkündete „Vernichtung“ dann am Ende doch mit einer „höhere(n) Besteuerung der Börse, jeglicher Form des Luxus und überhaupt des beweglichen Besitzes“ in Form einer progressiven Einkommens- und Erbschaftssteuer.21 Daß es keineswegs gegen den Kapitalismus schlechthin geht, sondern nur gegen den undeutschen, jüdischen, wird am klarsten in Wolzogens Unterstützungsaufrufen für das Paraguay-Unternehmen ausgesprochen, in denen die Leserschaft aufgefordert wird, ‚deutsches Kapital‘, „ja ich möchte sagen: Bayreuther Kapital“ zu spenden, das nicht der Erzielung von spekulativen Profiten dienen soll, sondern der Sicherung von deutscher Arbeit und deutschem Leben „auf dem Grunde einer neuen, verjüngten, gesunden, germanischen Kultur“.22 Nimmt man weitere Forderungen hinzu, wie die nach einem expansiven Rüstungsprogramm oder nach Verstaatlichung der Eisenbahnen, dann wird deutlich, wie berechtigt das Urteil Veit Veltzkes ist, nach dem sich Förster „in krassem Gegensatz zu Antimilitarismus und Antistaatlichkeit seines ‚verehrten und lieben Meisters‘ und dessen Perhorreszierung Bismarcks“ befand.23

Nicht alle diese Abweichungen von Wagner lassen sich dem Einfluß Dührings zuschreiben, dem Förster sich nach 1881 geöffnet hat24 – am wenigsten die mit Aufrüstung und Militarisierung verbundenen Komplexe. Dühringschen Geistes aber ist zweifellos das positive Verhältnis zu Wissenschaft und Industrie, sind manche, wiewohl nicht wirklich durchdachte Äußerungen über die „Judenfrage“ als „Rassefrage“25, ist endlich auch das Amalgam von libertären und, sit venia verbo, kommunitaristischen Vorstellungen, nach denen Förster sein „Deutschland der Zukunft“ gestaltet wissen will. Wie der Berliner Privatgelehrte weist Förster den römischen Cäsarismus, aber auch den Feudalismus mit seiner Ständeordnung zurück und wirbt für eine Ordnung, die auf einem Maximum an Dezentralisation und kommunaler Autonomie beruht.26 Die Gemeinden sowie die auf ihnen aufbauenden größeren Einheiten wie Gaue und Stämme sollen den größten Teil ihrer Angelegenheiten (Infrastruktur, Gerichtsbarkeit, Schule) in eigenverantwortlicher Selbstverwaltung regulieren und dabei „völligste, absolute, Denk-, Gewissens-, Lehr-, Mittheilungs-, Versammlungs-Freiheit“ genießen27; für die auf diese Weise nicht zu bewältigenden Aufgaben wie Vertretung nach außen, Verteidigung, „Oberaufsicht über das Ganze“, soll es eine Regierung geben, die nach dem germanischen Prinzip der „Führung eines selbstgewählten und freiwillig anerkannten Oberhauptes“ einzurichten sei.28 Diese Wahlmonarchie sei durch eine Volksvertretung zu ergänzen, die sich aus Delegierten der zu bildenden Berufskörperschaften zusammensetzen soll. Der westliche Parlamentarismus hingegen mit seiner Repräsentation atomisierter Individuen wird als undeutsch verworfen, womit einmal mehr eine Schnittmenge von Wagner und Dühring bezeichnet ist.29 Mit seiner Präferenz für eine funktional differenzierte, gleichwohl harmonisch und organisch verstandene Ordnung, die um die mittleren Gruppen der Gesellschaft aufgebaut ist und sozialen Polarisierungen entgegenwirkt, entspricht dieses Programm dem völkischen Harmoniepostulat; mit seiner Hypostasierung des Deutschtums – „Wer unter den Nationen Europas ist denn jetzt ausser uns Deutschen noch Träger eines grossen Kulturgedankens??“30 – dem Rechtsnationalismus, wenngleich in einem Sinne, der sich sehr von den zeitgenössischen Manifestationen des bürgerlichen Nationalismus unterscheidet: denn das Deutschtum, dem die ‚große Aufgabe in der Geschichte der Völker‘ zugewiesen wird, eine „Läuterung und Neugeburt der Menschheit – somit auch Sicherstellung der menschlichen Cultur“ zu bewirken, ist nicht das reale, gegebene Deutschland, sondern ein ideales, durch das Projekt einer „nationalen Neugeburt“ erst herzustellendes, in welchem dem Genius eine führende Rolle zukommt.31

In ähnlicher Weise wie Bernhard Förster hat Otto Glagau (1834 – 1892) versucht, seinen Platz zwischen Wagner und Dühring zu finden. Die Erfahrung, daß man recht gut damit und erst recht davon leben kann, wenn man seine persönlichen Mißerfolge den Juden anlastet32, treibt Glagau seit 1874 immer tiefer in den antisemitischen Enthüllungsjournalismus und läßt ihn bald auch den Schulterschluß mit den Exponenten der aufkommenden antisemitischen Bewegung suchen. Er unterhält Kontakte nach Bayreuth, besucht im Sommer 1881 Hans von Wolzogen und bringt in seiner Zeitschrift Der Kulturkämpfer wiederholt Beiträge über Wagner und die Festspiele; auch Bernhard Försters verschiedene Projekte, von der Antisemitenpetition bis zur Gründung von Nueva Germania, werden mit Wohlwollen und Aufmerksamkeit bedacht.33 Dabei läßt er jedoch nicht nur Distanz gegenüber dem in diesem Kreis gepflegten schwerfälligen Stil erkennen, sondern setzt sich auch von dessen Fundamentalismus ab, speziell der Philosophie Schopenhauers, die wegen ihrer pessimistischen Weltablehnung in toto zurückgewiesen wird.34 Dagegen werden Agitatoren und Publizisten wie Ernst Henrici und Adolf Wahrmund, die der Position Dührings nahestehen, ausdrücklich gelobt.35 Als der Vertreter Henricis auf dem Zweiten internationalen antijüdischen Kongreß in Chemnitz (27. / 28. 4. 1883) von der Versammlung ein generelles Bekenntnis zu Dühring verlangt, votiert Glagau, der die Verhandlungen führt, zwar mit der Gegenseite um Liebermann von Sonnenberg, begründet aber seine Entscheidung lediglich mit pragmatisch-taktischen, nicht mit prinzipiellen Argumenten – und dies, obwohl er dem Christentum bei weitem positiver gegenübersteht als Dühring.36

In der Forschung wird Glagau gern als Vertreter einer „ländlichen Romantik“ und als Befürworter einer Regression hinter die Moderne dargestellt.37 Daran ist soviel richtig, daß dieser Autor nicht zögert, „das Zusammenströmen der Bevölkerung in den großen Städten, das Fabrikwesen, de(n) Maschinenbetrieb“ zu den „Schattenseiten“ der modernen Kultur zu rechnen und Empfehlungen zu erteilen, „wieder mehr von der Fabrik- zur Hausindustrie, von der Maschinenzur Handarbeit zurück(zu)kehren“ und zu begreifen, „daß Deutschland von Natur nicht ein Industrie- und Handelsstaat, sondern ein Ackerbaustaat ist.“38 Über solchen Bekundungen sollte man indes nicht die Nachsätze und Einschränkungen überlesen, die das Gesagte sogleich wieder relativieren. Da sich nichts in der Weltgeschichte wiederholen lasse, sei es „thöricht, wenn man als eine Aushülfe etwa die Erneuerung der mittelalterlichen Stände vorschlagen wollte“, wie es auch nicht ratsam sei, für die „Rückkehr zu dem absoluten Regiment“ zu schwärmen. Das Bekenntnis zum Ackerbaustaat meint denn auch keineswegs Abbau und Eliminierung der Industrie, sondern lediglich ernährungswirtschaftliche Autarkie, Zollschutz und eine Gesetzgebung, bei der die Landwirtschaft „nicht länger als Stiefkind behandelt werde, sondern mindestens die gleiche Gunst erfahre, wie Industrie, Handel und Börse“.39 Dem Vorschlag, dem Handwerk seinen goldenen Boden zurückzugeben und dafür zu sorgen, daß es seine „ehemalige Größe und Herrlichkeit“ wiedergewinne, folgt alsbald die Präzisierung, daß „die Rückkehr zur geschlossenen Zunft“ eine „ungesunde Reaction“ sei, weshalb allenfalls die Einführung obligatorischer Innungen anzustreben sei.40 Die Polemik gegen den Manchesterkapitalismus wird wie bei Förster durch die Unterscheidung zwischen „semitischem“ und industriellem Kapital spezifiziert und dahingehend konkretisiert, daß man keineswegs für die Aufhebung des Capitals als solchem sei.41 So bleibt es bei bescheidenen Forderungen wie derjenigen nach einer Börsensteuer, einer Reform der Aktiengesetzgebung und einer Reorganisation der Reichsbank, die um einige „staats-sozialistische“ Programmpunkte wie die Verstaatlichung des Eisenbahnwesens und der Post ergänzt werden.42

Ganz wie bei Förster wird dieser Katalog durch Vorschläge verfassungspolitischer Art flankiert, die auf die Ersetzung der freien Repräsentation durch eine berufsständische hinauslaufen und damit dem ansonsten als „materialistisch“ perhorreszierten Interesse sein Recht geben: „Im schnurgeraden Gegensatz zu den ‚liberalen‘ Nachtwächtern, verlangen wir eine Interessenvertretung, eine ständische Interessenvertretung, die sich aus Deputirten der hauptsächlichsten Berufszweige, namentlich der Großgrundbesitzer und Bauern, der Arbeiter und Fabrikanten, der Handwerker und Kaufleute zusammenzusetzen hat. Advocaten und Richter, Beamte und Professoren, Journalisten und Börsianer müßten unbedingt ausgeschlossen werden.“43 Man tut gut daran, in Forderungen dieser Art weniger einen ‚sehnsüchtigen Primitivismus‘ (Pulzer) zu sehen als vielmehr eine – wie immer auch mit bestimmten Vorbehalten versehene – Anerkennung der modernen Berufs- und Arbeitswelt. Sie deckt sich im übrigen nicht von ungefähr mit dem zur gleichen Zeit von Bismarck für Preußen ins Leben gerufenen Volkswirtschaftsrat, dem die Aufgabe zugedacht ist, „im Gesamtbereich der staatlichen Wirtschaftspolitik die Parteien noch mehr als bisher in den Vorhof der eigentlichen Entscheidungen zu verbannen und die Interessenten auch formal auf direktere Wege der Einflußnahme auf die Exekutive und der Zusammenarbeit mit ihr zu verweisen.“44 Mit Hans-Ulrich Wehler lassen sich Institutionen dieser Art als Bestandteile des „Strukturtypus des ‚Korporativismus‘“ verstehen, der mehr autoritär oder mehr liberaldemokratisch ausgerichtet sein kann, in jedem Fall aber in die moderne wirtschaftspolitische Ordnung hineingehört, auch wenn er explizit als Abwehr bestimmter, als chaotisch empfundener Konsequenzen dieser Moderne konzipiert ist.45

Der Vergleich zwischen Glagau und Förster läßt wiederum die Kernmotive völkischer Gesinnung und Ideologie erkennen: die rechtsnationalistische Präferenz für Ungleichheit, sowohl innerhalb der Nation (zwischen dem Genius und der Masse beziehungsweise einzelnen Ständen) als auch zwischen den Nationen46; die Bejahung der ersten Moderne und die Zurückweisung der reflexiven Modernisierung mittels Externalisierung: der Zuschreibung derselben zu einem fremden Volksgeist, der in einem weiteren Schritt genauso ethnisiert und naturalisiert wird wie der eigene. Juden und Deutsche erscheinen als unterschiedliche Abstammungsgemeinschaften, deren Angehörige im Habitus und tendenziell auch im Phänotyp identisch sind, als „Rassen“, die für je spezifische Etappen und Möglichkeiten der Moderne stehen und in einem Kampf auf Leben und Tod begriffen sind.47 Es handle sich, heißt es mit einiger Dramatik im Editorial des Kulturkämpfers, „um die Erhaltung Deutscher Art und Deutscher Sitte gegenüber einem fremden Stamme, der mit seinem Wesen und Treiben Alles überwuchert und unsere ganze Kultur bedroht“, es gelte „die höchsten und heiligsten Güter der Nation.“48

Der Vergleich macht aber auch deutlich, daß diese Gesinnung weder mit einem einheitlichen politischen Programm noch mit einer einheitlichen Weltanschauung verbunden sein muß, vielmehr beachtliche Varianzen auf beiden Gebieten verträgt. So steht Förster für eine stärker kommunitäre Ausrichtung, wie sie auch bei Wagner und Dühring vorliegt, wogegen Glagau gewisse Neigungen zum Etatismus und „Staats-Socialismus“ erkennen läßt49, überdies dazu neigt, das nationalkulturelle Regenerationsprogramm auf die antisemitische Komponente zu verkürzen. Förster wiederum sieht, darin Stoecker nahestehend (den er gleichwohl durch seinen Radikalantisemitismus überbietet), als entscheidende Differenz zwischen Juden und Nichtjuden die Religion an; diese aber kann, wie jeder Glauben, abgestreift und ausgetauscht werden – nach Förster durch den gegenwärtigen Platzhalter der Religion, das Wagnersche Gesamtkunstwerk. „Jeder Jude“, schreibt er in der Antisemitischen Correspondenz, „der sich mit Liebe und Ueberzeugung einer Geistesrichtung ergiebt, welche ihrem Wesen nach unjüdisch ist, hört mit der Zeit auf, Jude zu sein.“ Dies gelte, wie für die Religion, so auch „von der arischen wissenschaftlichen Forschung, der Kunst, dem Leben für das Volk und die Gemeinde u. Aehnl.: wer sich solchem Thun mit ganzem Herzen und ächter Liebe hingiebt, ist kein Jude mehr.“50 Dieser idealistischen Weltanschauung, die trotz mancher Anleihen beim Vokabular der Rassenlehren in Glaube und Geist die letztlich entscheidende Kraft sieht51, steht bei Glagau eine eher naturalistische Auffassung gegenüber, die zwar ihrerseits nicht irreligiös oder antireligiös ist, den Schwerpunkt aber deutlich auf die Abstammung, die biologische Verwandtschaft, verlagert. Einen primär religiösen Standpunkt, wie ihn Stoecker, mutatis mutandis aber auch Förster in der „Judenfrage“ einnimmt, lehnt der Kulturkämpfer dezidiert ab: „Die Judenfrage will Stöcker nur als eine ‚social-ethische Frage‘ auffassen; er schrickt davor zurück, sie als Nationalitäts- und Racenfrage zu erkennen, was sie doch in letzter Instanz unbedingt ist. Vor dem getauften Juden macht Stöcker Halt und sieht in ihm einen Bruder; was er als Geistlicher auch wol nicht anders kann. Aber im Grunde genommen ist es eine Inconsequenz und eine Verkleisterung der Frage.“52 Denn, davon ist Glagau überzeugt: „Wenn alle Juden sich heute taufen ließen, so bestände die Judenfrage in voller Schärfe nach wie vor, denn der getaufte Israelit unterscheidet sich im Fühlen, Denken, Wollen und Handeln so gut wie in Nichts vom orthodoxen Juden, und selbst seine Enkel und Urenkel verrathen in körperlicher wie in geistiger Hinsicht noch ihre Abstammung, und sehen im Juden ihren Stammesgenossen.“53 Diese Spannung zwischen unterschiedlichen Weltanschauungen hat das völkische Denken auch später nicht verlassen, wie nicht nur die Unterschiede zwischen „idealistischem Antisemitismus“ und „Rassenantisemitismus“ zeigen, sondern auch die höchst divergenten Auslegungen des Rassenkonzepts selbst, die zwischen biologistischen und spiritualistischen Auffassungen schwanken.54 Den völkischen Nationalismus als solchen haben diese Divergenzen gleichwohl nicht berührt.

Die Völkischen in Deutschland

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