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Einleitung: Gesichtspunkte zur Differentialdiagnostik

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Wer sich anschickt, ein Panoramabild der völkischen Bewegung in Deutschland zu entwerfen, kann zumindest in einer Beziehung mit einer klaren Vorgabe rechnen: in der Wahl des Fluchtpunktes. Seit Adolf Hitler, nicht erst in Mein Kampf, dort aber am entschiedensten, für die NSDAP das Recht und die Pflicht in Anspruch nahm, „sich als Vorkämpferin und damit als Repräsentantin“ der „völkischen Ideen“ zu fühlen1 und darin von deren Erzvater Theodor Fritsch bestärkt wurde, der der NSDAP bescheinigte, „ein Glied der allgemeinen völkischen Bewegung“ zu sein2, ist die Leitlinie vorgegeben, an die jede Behandlung des Gegenstands sich halten muß. Nicht als ob dieser Fluchtpunkt der einzig mögliche wäre. Hätte es die NSDAP nicht gegeben, wären wohl auch andere Realisierungen der „völkischen Ideen“ denkbar gewesen. Die Geschichte hat es jedoch nicht so gefügt, und damit steht jede Rekonstruktion vor der Aufgabe, die völkische Bewegung auf den Nationalsozialismus zu beziehen.

Schon mit der nächsten Frage indes, wer alles auf dieses Bild gehört, tut sich ein wahrer Rattenkönig von Schwierigkeiten auf. Soll als „völkisch“ bereits gelten, wer den nationalen Gedanken mit dem der Macht verkuppelt und die eigene Nation „als den höchsten Wert annimmt, den Vergangenheit und Gegenwart aufweist“?3 Das hieße, den völkischen Nationalismus mit dem Nationalismus schlechthin gleichzusetzen und alle Differenzen herunterzuspielen, durch die sich die Völkischen von anderen Nationalisten abgegrenzt haben, vom „alten“, bürgerlichen Nationalismus, wie ihn die Alldeutschen oder die Deutschnationalen pflegten, bis zum „neuen“ Nationalismus der Wehrbünde in der Weimarer Republik4, um vom „westlichen“, auf die „Staatsnation“ bezogenen Nationalismus zu schweigen.

Oder soll darunter nur jener Nationalismus verstanden werden, der sich, anstatt auf die „Staats-“ oder „Kulturnation“, auf den Begriff der „Volksnation“ beruft, dem Völker „als überindividuelle und überhistorische Wesenheiten mit einer ererbten spezifischen Prägung (Nationalcharakter beziehungsweise -geist)“ gelten, deren Erhaltung höher zu bewerten sei als die individuellen Menschenrechte?5 Eine solche Sichtweise ist aus mehreren Gründen problematisch. Sie ist es, erstens, aus methodischen Gründen, weil das Dual zumeist nicht wertfrei eingesetzt, sondern im normativen Sinne verstanden wird, mit eindeutiger Präferenz für die Staatsnation und korrespondierender Abwertung der Volksnation, der bisweilen auch schon einmal Drogenqualitäten zugeschrieben werden, um ihre Verteidiger in möglichst ungünstigem Licht erscheinen zu lassen.6 Wie es freilich möglich sein sollte, wissenschaftlich zwischen dem Wert individueller Rechte und demjenigen kollektiver zu entscheiden, ist unerfindlich. Sie ist es, zweitens, aus sachlichen Gründen, weil prominente Völkische auch mit der Staatsnation argumentieren, wo es ihren Absichten dienlich ist.7 Und sie ist es, drittens, weil sie das völkische Denken mit dem ethnischen Gemeinsamkeitsglauben gleichsetzt und damit eine Entgrenzung des Erkenntnisobjekts bewirkt. Der ethnische Gemeinsamkeitsglaube indes – der Glaube an bestimmte Gleichartigkeiten der Herkunft und der Kultur, „primär der Sprache, aber auch der Alltagssitten, der Religion, bestimmter kollektiver Symbole u. ä.“8 – ist eine viel zu weit verbreitete und gerade heute in Gestalt der „ethnischen Mobilisierung“ überall auf dem Globus anzutreffende Erscheinung, als daß sie eine historische Besonderheit wie die völkische Bewegung in Deutschland hinreichend zu erklären vermöchte. Überdies sind ethnische Zugehörigkeiten in hohem Maße interpretationsoffene Kategorien, die sehr unterschiedliche Verbindungen mit politischen Präferenzen eingehen können, gegenwärtig etwa in Gestalt der Allianz von Multikulturalismus und Linksliberalismus oder derjenigen von Ethnopluralismus und Rechtspopulismus – beides Formen von Ethnopolitik.9 Gerade in Deutschland, wo der Rekurs auf Ethnizität das Nationalbewußtsein zweifellos stärker geprägt hat als etwa in Frankreich oder den Vereinigten Staaten von Amerika, hat sich keineswegs nur die politische Rechte über die Markierung ethnischer Grenzen definiert.10 Da der Begriff „völkisch“ durch den Nationalsozialismus kontaminiert ist, teilt sich dies durch die Gleichsetzung mit Ethnizität auch den liberalen, demokratischen und sogar sozialistischen Adaptionen des ethnisch gedeuteten Nationalbewußtseins mit, mit der Folge, daß die neuere deutsche Geschichte als eine einzige Bewegung auf 1933 zu erscheint.11 Das entspricht zwar den Selbstdeutungen der völkischen Germanistik und Geschichtswissenschaft der NS-Zeit, sollte aber aus eben diesem Grund nicht fortgeschrieben werden.12

Hilft es weiter, wenn man für die Bestimmung des Völkischen nur eine bestimmte Version der „Volksnation“ heranzieht, die sich durch die Betonung der Abstammungsgemeinschaft und deren „Biologisierung“ auszeichnet?13 Das hätte, nach der einen Seite, den entgegengesetzten Effekt einer Verengung zur Folge, würden durch diese Festlegung doch die in der völkischen Bewegung nicht minder verbreiteten „spiritualistischen“ Deutungsmuster ausgeschlossen, die die Volksnation primär als Geist, Seele oder „Gestalt“ auffassen und nur sekundär auf Vererbung rekurrieren. Nach der anderen Seite bringt das Kriterium des Abstammungsglaubens wiederum eine Ausweitung mit sich, da es, wenn nicht für alle, so doch für zahlreiche ethnische Großgruppen typisch ist, zum Beispiel auch für das deutsche Judentum, das sich selbst immer wieder als „Schicksals- und Stammesgemeinschaft“ (Ludwig Holländer) gedeutet hat.14 Ebenfalls im Sinne einer Extension des Objekts wirkt der Rekurs auf „Biologisierung“, vor allem aufgrund der naheliegenden Verbindung zum Begriff des „Rassismus“, der heute gern in einem umfassenden Sinne auf alle Formen gruppenbezogener Diskriminierung und Ausgrenzung angewendet wird, die mit naturalistischen Zuschreibungen operieren.15 Wie Ernst Cassirer und Hannah Arendt gezeigt haben, sind jedoch Rassismus und Nationalismus „in ihrem Ursprung, wie in ihrem Inhalt und in ihrer Tendenz scharf geschieden“16, bezieht sich doch der Nationalismus mit der Nation auf eine Größe, die vom Standpunkt konsequenter Rassentheorien als zusammengesetzt, als gemischt gilt. Das hat Nationalisten, zumal die völkischen, nicht daran gehindert, die Rassenlehren für ihre Zwecke zu adaptieren, wie es auch umgekehrt Rassisten nicht daran gehindert hat, ihrerseits den Nationalismus zu instrumentalisieren. Eine Begriffsbildung indes, der es um Differentialdiagnostik geht, hat nicht von den empirisch vorkommenden Verbindungen ihren Ausgang zu nehmen, sondern vielmehr danach zu streben, „durch Herauspräparierung der innerlich,konsequentesten‘ Formen eines aus fest gegebenen Voraussetzungen ableitbaren praktischen Verhaltens die Darstellung der sonst unübersehbaren Mannigfaltigkeit zu erleichtern.“17 Seiner letzten Konsequenz nach aber ist der Rassismus „überall ein dem Nationalismus entgegengesetzter und ihn wie jede Form des Patriotismus untergrabender Faktor“, der „wie ein ständiger Schatten die Entwicklung des Nationalstaats und des auf ihm gegründeten Gleichgewichts Europas (begleitete), bis (er) am Ende dieser Periode sich als die Waffe erwies, mit der man der Nation den Garaus machen konnte.“18 Da die Völkischen trotz aller Konzessionen an die Rassenlehren in letzter Instanz stets Volk und Nation den Vorzug gegeben haben, wird dieses Buch sie dem Nationalismus und nicht dem Rassismus zuordnen und die entsprechende Semantik vermeiden, die sich in Formeln wie „völkisch-rassistisch“ oder der verbreiteten Übersetzung von „völkisch“ mit „racist“ oder „raciste“ äußert.19

Soll man endlich den Schlüssel in einer spezifisch völkischen „Weltanschauung“ oder Religion suchen, wie die bislang kenntnisreichste Untersuchung dieses Gebietes empfiehlt?20 Dem steht die Plethora von Angeboten gegenüber, die sich keineswegs in Nuancen unterscheiden, sondern der ganzen Breite des Spektrums entsprechen, das die philosophische Weltanschauungstypologie entworfen hat, vom „Naturalismus“, dem der Prozeß der Natur als „die einzige und die ganze Wirklichkeit“ gilt und der sich daher in beständigem Gegensatz mit religiösen Auffassungen befindet, über den „Idealismus der Freiheit“ bis zum „objektiven Idealismus“, der um die Idee einer „allgemeinverbreiteten geistigen göttlichen Kraft im Universum“ kreist.21 Der Weg über Religion und Weltanschauung führt leider nicht „in das Zentrum der völkischen Weltanschauung und damit der Bewegung“22, sondern in ein Rhizom, in dem materialistische und monistische, aber auch theo-, ario- und biosophische Anschauungen, Spiritismus, Glacial-Kosmogonie, deutschchristliche, gnostische und polytheistische Motive in undurchdringlicher Gemengelage liegen und jedem auch nur halbwegs Einsichtigen das Eingeständnis abgenötigt haben, die „Grundforderung einer geschlossenen, völkischen Weltanschauung“ sei noch unerfüllt, man werde als Völkischer noch auf längere Sicht „zwiespältig und gebrochen“ sein.23

Darüber hinaus führt dieser Weg zu einer Überbetonung der bizarren und verstiegenen Züge, die hier zweifellos in hoher Blüte stehen, von denen jedoch nicht bewiesen ist, ob sie tatsächlich für das durchschnittliche Mitglied, sagen wir des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes oder der Deutschvölkischen Freiheitspartei, verbindlich waren. Die Begriffsbildung an diesen Zügen zu orientieren, hieße, die Peripherie für das Zentrum, die Ausnahme für die Regel zu nehmen und damit gerade das zu verfehlen, was die völkische Bewegung in sozialer Hinsicht ausmacht: ihre Verankerung im juste milieu. Entsprechend zu relativieren sind auch die überstrapazierten Topoi des Irrationalismus, der Mystik, der romantischen oder kulturpessimistischen „Stimmung“, die aus einigen willkürlich ausgewählten Texten abgelesen werden, unter Ausblendung aller gegenteiligen Aussagen, die auf Optimismus, Fortschritts- und Wissenschaftsgläubigkeit schließen lassen.24 Eine plausible Erklärung, wie sich der den Völkischen unterstellte „Angriff auf die Modernität, auf den ganzen Komplex von Ideen und Einrichtungen, in dem sich unsere liberale, weltliche, industrielle Zivilisation verkörpert“, mit der dort keineswegs seltenen „freisinnig-fortschrittlichen“, antiklerikalen Grundeinstellung verträgt, mit der Begeisterung für Eugenik, für Bevölkerungspolitik, für eine Stadtplanung, die selbst in Gartenstädten nicht auf U-Bahnen und elektrische Beleuchtung verzichten will25, sucht man in Darstellungen dieses Genres vergeblich.

Mit der hier angedeuteten zwiespältigen Haltung gegenüber der Moderne ist indes eine Stelle erreicht, von der aus sich Gesichtspunkte zur begrifflichen Bestimmung gewinnen lassen. Ein Blick in die Quellen lehrt, daß die meisten Völkischen zwar den wissenschaftlich-technischen Fortschritt durchaus bejahen, ihn aber von unerwünschten Folgen begleitet sehen, die sie ausgeschaltet wissen wollen. Nicht der Fortschritt als solcher, aber irgendetwas in ihm stört die Harmonie, von der man meint, daß sie noch vor ein, zwei Generationen bestanden habe, um nun einem immer größer werdenden Chaos zu weichen, wie es zuletzt im untergehenden Römerreich der Fall war. Bis um 1830, so formuliert Paul Schultze-Naumburg diese Sichtweise, habe es „der Mensch […] verstanden, sich einen Lebensraum zu schaffen, der ihn tief innerlich beglückte und dessen Harmonie sich als Schönheit offenbarte.“ Im 19. Jahrhundert aber sei dieser „Lebensraum […] von einer schleichenden Krankheit befallen“ worden, die zu einer „Entartung des Volkes“ und zum Verlust dieser Harmonie geführt habe.26 Adolf Bartels gibt noch dreißig Jahre hinzu, sieht aber nach Ablauf dessen, was er als „silbernes Zeitalter“ bezeichnet, gleichfalls eine „Decadence“ einsetzen, eine „Erkrankung des Volkstums, die individuell abnorme Entwicklungen hervorruft.“27 Friedrich Lienhard kontrastiert die eben vergangene Periode des „synthetischen Idealismus“ dem nunmehr dominierenden „analytischen Naturalismus“ und erklärt durch letzteren „unser tiefstes Bedürfnis“ für gestört, „das Bedürfnis nach Harmonie“.28 In seiner Eröffnungsansprache zur sechsten Hauptversammlung der sächsischen Mittelstandsvereinigung in Dresden beschwört Theodor Fritsch fünfmal das „versöhnliche Moment der Harmonie“ als Antidot zur zerstörerischen Konkurrenz, die die gegenwärtige Wirtschaft in den Bankrott treibe.29 Julius Langbehn, in vieler Hinsicht der Stichwortgeber für Topoi dieser Art, benennt als Remedium für die zersetzenden, atomisierenden und zentrifugalen Tendenzen der Gegenwart die Fähigkeit des Deutschen, aus Disharmonie Harmonie zu entwickeln – eine Fähigkeit, die in noch einmal gesteigerter Form im Niederdeutschen gegeben sei, den seine Stammesnatur zur Synthese disponiere: „Jenen Beruf zur Synthese kann und wird der Niederdeutsche auch auf geistigem Gebiete bethätigen; er scheint daher besonders geeignet, den bisher vorherrschenden Zersetzungstendenzen innerhalb der deutschen Bildung ein Halt zuzurufen; Zusammenschluß, auf geistigem Gebiet, ist Aufbau. Ein Stamm, der die Devise ‚up ewig ungedeelt‘ hat und ausführt, ist hierfür ein bemerkenswerter Faktor; vielleicht, daß ihm, der einst in die Fremde verkauft war, unter seinen Brüdern noch einmal die Rolle des Joseph in Egypten zufällt; und gerade in künstlerischen Dingen.“30

Verlust der Harmonie: das läßt zunächst an eine spezifisch deutsche Katastrophe denken, ist Deutschland doch zu dieser Zeit überzogen mit Hunderten und Aberhunderten von Gesangvereinen, die auf Namen wie „Harmonia“ und „Concordia“ hören und nichts so gerne schmettern wie das Mozartsche Bundeslied, das mit den Worten beginnt: „Brüder, reicht die Hand zum Bunde! Diese schöne Feierstunde führ uns hin zu lichten Höhn! Laßt, was irdisch ist, entfliehen! Unsrer Freundschaft Harmonien dauern ewig fest und schön.“31 Daß es sich gleichwohl um ein allgemeineres Problem handelt, zeigen die Hinweise von Marx in seinen Analysen zum Ausgang der Revolution von 1848, die der „Sozial-Demokratie“, einer spezifisch französischen „Koalition zwischen Kleinbürgern und Arbeitern“, das Bestreben attestieren, mittels demokratisch-republikanischer Institutionen den immer schärfer hervortretenden Gegensatz zwischen Kapital und Lohnarbeit „abschwächen und in Harmonie“ verwandeln zu wollen32, woraus sich schließen läßt, daß Kapitalismus und gesellschaftliche Harmonie inkompatible Größen sind. In einem etwas abstrakteren Zugriff wird dies auch in neueren Arbeiten zum Prozeß der Modernisierung so gesehen, für die der Übergang von der ersten beziehungsweise liberalen Moderne zur zweiten Moderne beziehungsweise Postmoderne in sozialer Hinsicht durch den Niedergang der bürgerlichen Lebensform und den Aufstieg der Massendemokratie, in kognitiver Hinsicht durch die Ersetzung der „synthetisch-harmonisierenden Denkfigur“ durch die „analytisch-kombinatorische Denkfigur“ bestimmt ist. War das bürgerliche Denken grundsätzlich bestrebt, ein Weltbild zu konstruieren, bei dem unterschiedliche Momente und Kräfte trotz partieller Gegensätze doch insgesamt ein harmonisches und gesetzmäßiges Ganzes bilden, und korrespondierte dies einem sozialen Aufbau, in dem sich die Klassen und Schichten in einem dynamischen Gleichgewicht befinden, so geht der Aufstieg der „analytisch-kombinatorischen Denkfigur“ mit einer Verfassung der Gesellschaft einher, in der „die soziale Mobilität prinzipiell keine Grenze kennt und ständig neue Besetzungen der sozial verfügbaren Rollen gestattet“, in der weiterhin die prinzipielle Beteiligung aller Atome, die die Massendemokratie konstituieren, „auf allen Ebenen eine unendliche Anzahl von Kombinationen (ermöglicht), deren Vielfalt und zugleich Vergänglichkeit eben jeden Substanzgedanken verschwinden und an seiner Stelle bloß funktionale Gesichtspunkte gelten läßt.“33 In der Terminologie Ulrich Becks, der den Vorgang freilich auf einen späteren Zeitpunkt datiert, stellt sich dieser Wandel als Übergang von der „einfachen“ zur „reflexiven Modernisierung“ dar, die auf die „Modernisierung der Prämissen der Industriegesellschaft“ abstellt, von den Lebens- und Arbeitsformen in Kleinfamilie und Beruf über die patriarchalischen Geschlechterverhältnisse bis hin zur Trennung von Staat und Gesellschaft, zum mechanistischen Weltbild und zur gegenständlichen Kunst.34

Wie schon die erste Modernisierung erzeugt auch die zweite Gewinner und Verlierer. Zu den ersteren gehören die Besitzer großer Kapitalien ebenso wie diejenigen, die nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben: Arbeiterschaft und neuer Mittelstand. Diese Klassen profitieren je auf ihre Weise von der Weltmarktexpansion der deutschen Industrie, von der Erweiterung des sekundären und tertiären Sektors und vom Anstieg der Reallöhne. Da sie keinen Anlaß haben, einer verlorengegangenen Harmonie nachzutrauern, kommen sie als potentielle Klientel der Völkischen nicht oder jedenfalls nur sehr begrenzt in Frage. Anders steht es mit den Angehörigen des primären Sektors, dessen Anteil an der Zahl der Beschäftigten sich zwischen 1878 und 1913 von der Hälfte auf ein Drittel verringert, während gleichzeitig der Anteil an der wirtschaftlichen Wertschöpfung sinkt: von einem ungefähren Gleichstand mit dem sekundären Sektor um 1887 auf nur noch ein Drittel des letzteren.35 Auch der alte Mittelstand in der Stadt gehört zu den Verlierern, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß. Die Zahl der Kleinbetriebe im Handwerk geht zwischen 1882 und 1907 um knapp fünfzehn Prozent zurück, der Anteil der dort gewerblich Beschäftigten halbiert sich; besonders stark ist der Rückgang der Alleinbetriebe, deren Zahl sich im gleichen Zeitraum fast um ein Drittel verringert. Die immerhin beachtliche Zunahme der Zahl der gewerblich Beschäftigten (von 5,5 Millionen auf 9,9 Millionen) geht deshalb überwiegend auf die größeren und mittleren Betriebe zurück, so daß auch hier der generelle Trend von ökonomischer Selbständigkeit zu abhängiger Beschäftigung weist.36 Eine ähnliche Konstellation findet sich im Handel, wo sich zwar die Zahl der Betriebe und der dort Beschäftigten insgesamt erhöht, der Anteil der Kleinbetriebe jedoch abnimmt.37 Aus den Reihen dieser Verlierergruppen haben die Völkischen immer wieder Zustrom erhalten, allerdings meist nicht zur gleichen Zeit, da die Konjunkturentwicklung in Stadt und Land unterschiedlichen Rhythmen unterliegt. Die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts sind eine Zeit des Preisverfalls für landwirtschaftliche Güter, was den agrarischen Protest begünstigt, wohingegen der erneute Preisanstieg für diese Produkte zwischen 1900 und 1914 und dann besonders die Inflation von 1923 die städtischen Konsumenten mobilisieren.38

Eine weitere Gruppe, von der allerdings nur schwer zu entscheiden ist, ob sie zu den Gewinnern oder Verlierern der reflexiven Modernisierung gehört, ist das gebildete Segment des städtischen Mittelstands. Vermutlich trifft beides zu. Es gibt, bei den Lehrern, den Pfarrern, den Journalisten und Schriftstellern, den Freiheits- und Autonomiegewinn, wie er mit der verbesserten Ausbildung, dem erweiterten Horizont und den neuen Berufschancen und Aufstiegsmöglichkeiten einerseits, dem Brüchigwerden von Traditionen andererseits verbunden ist; und es gibt die kognitive Dissonanz, die aus der Spannung zwischen neuhumanistischen Idealen und einer Realität entspringt, die von Kapitalismus, Bürokratie und Szientismus bestimmt ist. Hinzu kommt als weitere beunruhigende Erfahrung, die auch die naturwissenschaftliche, medizinische und technische Intelligenz betrifft, daß dem ständig wachsenden Auflösungspotential der Wissenschaften eine offenbar nicht Schritt haltende Fähigkeit zur Retotalisierung, zur Schaffung sinnvoller Ganzheiten korrespondiert. Das mag hier und da kulturpessimistische Reaktionen ausgelöst haben, wie etwa bei Spengler, der das faustische Abendland unrettbar zum Untergang verurteilt sah. Im großen und ganzen aber überrascht eher das Gegenteil: die Zuversicht, mit der man seit der Jahrhundertwende daran geht, die verlorene, wie immer auch imaginäre Ganzheit im Rückgriff auf Kant, Goethe oder das Wagnersche Gesamtkunstwerk wiederherzustellen, und zwar nicht in einer schlichten Rolle rückwärts, sondern, wie man meint, auf der Höhe der Zeit. Von der um eine Synthese zwischen der Naturphilosophie Goethes und der darwinistischen Selektionstheorie bemühten „Theophysis“ Ernst Haeckels über die Umweltbiologie Hans Drieschs und Jakob von Uexkülls, die Gestaltpsychologie, die Anthroposophie, die literaturwissenschaftliche und kunstgeschichtliche Stilforschung, die universalistische Nationalökonomie im Sinne Othmar Spanns und seiner Schule bis hin zu den neuhegelianischen Reintegrationsversuchen des in alle Richtungen zerfasernden Formalrechts wird Deutschland zum Schauplatz einer intensiven „Suche nach Ganzheit“ (so der deutsche Titel eines instruktiven Buches von Anne Harrington), die sich quer zu den politischen Fronten vollzieht und zur Formierung zahlreicher neuer Vereine und Bünde führt.39 Monistenbund, Kepler-, Bruno- und Goethebund, Dürerbund, Weimarer Kartell und Gesellschaft für ethische Kultur, das sind nur einige Beispiele aus einem Feld, das zunehmend dichter besetzt ist.40

Damit ist der Kreis umrissen, der für eine Kritik der reflexiven Modernisierung empfänglich ist, die sich an der „synthetisch-harmonisierenden Denkfigur“ orientiert. Diese Kritik ist nicht einfach antimodern, da sie wesentlichen Strukturprinzipien der ersten Moderne – der funktionalen Differenzierung, der formalen Rationalisierung – verpflichtet bleibt, und sie ist auch nicht antikapitalistisch, da sie sehr genau zwischen ‚gutem‘, das heißt produktivem, und ‚schlimmem‘, das heißt spekulativem Kapital zu unterscheiden weiß.41 Sie täuscht sich jedoch über die diesen Strukturprinzipien innewohnende Dynamik, die nicht einfach beliebig aufgehalten oder in andere Bahnen gelenkt werden kann, und ist insofern zwar „standortadäquat“, aber nicht „zeitadäquat“ (Theodor Geiger), Ausdruck eines „falschen Bewußtseins“, „das in seiner Orientierungsart die neue Wirklichkeit nicht eingeholt hat und sie deshalb mit überholten Kategorien eigentlich verdeckt.“42 Die Wissenssoziologie spricht in solchen Fällen von Ideologie, einem Denkgebilde, „welches trotz subjektiv ehrlichen Erkenntniswillens den Anspruch auf objektive Geltung gar nicht, oder nicht in vollem Umfange, oder nicht in dem Sinne, den es sich selbst zumißt, erheben kann, und durch sozialstrukturelle Momente in jener Eigenart seiner „Deviation“ vom logisch-normativen Ideal bedingt ist, welche gerade es regelmäßig mit sich bringt, daß dieses Denkgebilde mit fraglichem – oder ganz ohne rein theoretischen – Erkenntniswert eine von anderen Werten her bewertbare „Funktionalität“ im sozialen Leben besitzt“.43 Näher besehen handelt es sich um eine „Mittelstandsideologie“44, die nach Emil Lederer durch das Oberziel bestimmt ist, „daß ein „gesundes Wirtschaftsleben“ eine größtmögliche Anzahl mittlerer selbständiger Existenzen verlange, als Gegengewicht gegenüber dem „Flugsand“ der Arbeiterschaft und der Kapitalsübermacht der Großindustrie“, und die dieses Ziel durch die verschiedenartigsten Maßnahmen zu verwirklichen sucht: durch „solche, welche das Prinzip der freien Konkurrenz ausschalten sollen (sobald es sich um die Konkurrenz des Mittelstandes in den eigenen Reihen handelt), und wieder solche, welche es vertreten (der Arbeiterschaft gegenüber), solche, welche die Staatshilfe in Anspruch nehmen (wenn es sich um den Mittelstand handelt) und die sie ablehnen, wenn es sich um die Arbeiterversorgung handelt.“45 Zu einer Formel verdichtet und mit dem für eine „objektive Ideologie“ im Sinne Scheltings erforderlichen Allgemeinheitsanspruch ausgestattet hat dies Theodor Fritsch in seiner bereits zitierten Rede vor der sächsischen Mittelstandsvereinigung:

„Die Mittelstands-Bewegung hätte kaum ein Daseinsrecht, wenn sie – wie ihre Gegner meinen – nichts Anderes wäre als ein Ausdruck der Klassen-Selbstsucht. Bezweckte sie nichts weiter, als die wirtschaftlichen Vorteile eines Standes zu sichern, der durch die moderne Entwicklung von allen Seiten bedroht ist, so wäre sie zwar so notwendig und berechtigt, wie jede andere Standes-Organisation zu wirtschaftlichen Zwecken, würde aber kaum ein höheres Allgemein-Interesse beanspruchen können. Sie würde die seit Jahrzehnten bestehenden Klassenkämpfe nur um eine neue Reibungsfläche vermehren, sonst aber schwerlich zur Lösung der sozialen Widersprüche beitragen. Die Mittelstands-Bewegung bedeutet aber mehr als einen solchen egoistischen Klassenkampf; sie bringt einen neuen Gedanken mit: das ist die organische Auffassung von Staat und Gesellschaft.“46

Eine solche Ideologie ist für sich genommen nicht „völkisch“. Organizistisches und holistisches Denken ist, wie der Blick auf so heterogene Geister wie Aristoteles oder Hegel lehrt, eine viel zu verbreitete Einstellung, als daß sie sich pauschal unter diesem Etikett verbuchen ließe47; auch das Streben nach einer nicht durch große Reichtumsunterschiede und Klassengegensätze zerrissenen Gesellschaft der mittleren Existenzen begleitet die soziale Entwicklung von Solon und den Gracchen bis in die erste Moderne und hat sich in so unterschiedlichen Strömungen wie dem Jakobinismus, der ‚moral economy‘ der englischen Unterschichten, dem Anarchismus (Proudhon) und dem Frühliberalismus artikuliert. Und was die zweite Moderne betrifft, so ist der verbreiteten Annahme einer Verbindung zwischen der Polarisierung der Sozialstruktur und einer damit einhergehenden „Faschisierung des Mittelstands“48 entgegenzuhalten, daß nicht nur die Prämisse nicht stimmt – der alte Mittelstand wird nach dem überwiegenden Befund der empirischen Sozialforschung keineswegs zerrieben, sondern vermindert sich nur relativ zu anderen Berufsgruppen49 –, sondern auch die Konklusion. Zum einen gibt es keine durchgängige Politisierung: für die Jahre unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg gilt für den alten städtischen Mittelstand eher das Gegenteil, eine weit verbreitete Resignation gegenüber der Politik, die sich in einem zunehmenden Rückzug aus den Verbänden und Parteien äußert.50 Zum andern muß die Politisierung, so sie denn stattfindet, keineswegs notwendig nach rechts oder gar zum Faschismus führen, wie das Beispiel jener durchaus zahlreichen Handwerker, Kleinhändler und Gastwirte vor dem Ersten Weltkrieg zeigt, die einen bedeutenden Anteil an den geschätzten 25 % nichtproletarischer SPD-Wahlstimmen stellen oder sich im Hansa-Bund gegen das „Kartell der schaffenden Stände“ engagieren.51 Daß man sehr wohl versuchen kann, die Disharmonien der zweiten Moderne im Rahmen und mit den Mitteln einer demokratischen Partei zu überwinden, lehrt das Beispiel Alfred Webers.52

Damit die Mittelstandsideologie im völkischen Sinne aufgeladen werden kann, bedarf es bestimmter, nur selektiv wirksamer Voraussetzungen. Dazu gehört, erstens, die Projektion der „synthetisch-harmonisierenden Denkfigur“ auf ein als handlungsfähig gedachtes Kollektiv, das gewiß auch durch gemeinsame Abstammung gekennzeichnet ist, damit jedoch nicht erschöpfend erfaßt ist. Die „Gemeinschaft des Blutes“, heißt es in einer der zahlreichen Erörterungen der Frage „Was heißt völkisch?“, bildet zusammen mit der Gemeinschaft des Bodens die unterste Stufe der völkischen Gemeinschaft, die sich darüber hinaus durch ein ganzes Ensemble sinnhafter, kohärenter und harmonischer Ganzheiten auszeichnet: die „Gemeinschaft der Arbeit“ ebenso wie diejenige der Sitte, die „Gemeinschaft des Rechts“ ebenso wie diejenige der Bildung.53 Eine solche in sich gegliederte, „organische“ Ganzheit ist in den Augen der Völkischen das Volk, woran sich bei Reventlow die Feststellung knüpft: „Der völkische Grundgedanke besteht, um es noch einmal zu sagen, in der Auffassung des Volks als eines organischen Ganzen.“54 In der Version Albrecht von Graefes, eines anderen Führers der Deutschvölkischen in der Weimarer Republik, liest sich das so: „Während für die nicht echt völkisch Empfindenden das Wirtschaftsleben alles, der beherrschende Gedanke, ‚die letzte deutsche Macht‘, und alles übrige nur Ideologie ist, ist für die Völkischen der beherrschende Gedanke, die besondere Eigenart des Volkstums auf allen Gebieten: Rasse, Moral, Religion, Kunst, Literatur, Wissenschaft und Wirtschaftsleben, dies letztere also nur als ein Teil von den vielen, die Volk und Staat in dem Unterschied mit anderen Völkern und Staaten ausmachen.“55

Zweitens bedarf es einer Bestimmung des Verhältnisses, in dem dieses Kollektiv zu anderen, ähnlich strukturierten Kollektiven steht. Das zu leisten ist Aufgabe der Gesinnung, des Ensembles der „wertbezogenen Grundeinstellungen und -optionen“, die „Urteil, Streben und Handlungen prädisponieren“ – in der Sprache Houston Stewart Chamberlains das „Steuerruder“, das „die Richtung und mit der Richtung zugleich das Ziel (vorgibt) – auch wenn dieses lange unsichtbar bleiben sollte“.56 Im Falle der Völkischen handelt es sich dabei um eine wertrationale Einstellung, die auch für andere Strömungen der politischen Rechten charakteristisch ist: um die Präferenz für dasjenige, „was die Menschen ungleich statt gleich macht“.57 Ob Julius Langbehn dekretiert: „Gleichheit ist Tod, Gliederung ist Leben“, ob Chamberlain das „grosse Naturprinzip der Vielseitigkeit, sowie der Ungleichheit in den Anlagen“ beschwört oder Theodor Fritsch dem „fahrlässige(n) Wort: ‚Alle Menschen sind gleich‘“ das „unanfechtbare Wort: ‚Alle Menschen sind ungleich‘“ entgegensetzt58, stets halten sich die Völkischen in jener durch den Modernisierungsprozeß ausgelösten Gegenströmung, die auf die Institutionalisierung rechtlicher, politischer und sozialer Gleichheit mit der Bekräftigung des Glaubens an die natürliche Ungleichheit reagiert. Im Unterschied zu den klassischen Konservativen der Vormoderne beziehen sie diesen Glauben auf das Volk, nicht mehr auf einen Stand; im Unterschied zu den Nationalisten der ‚zweiten Moderne‘ auf das Volk der ‚ersten Moderne‘, das sich durch eine Prädominanz der Mitte und ein geringes Maß an sozialer Polarisierung auszeichnet.59

Die Hypostasierung des holistisch verstandenen Volkes und die Präferenz für Ungleichheit rechtfertigen es, von einem spezifisch völkischen Rechtsnationalismus zu sprechen, auch wenn namhafte Repräsentanten dieser Strömung immer wieder Vorbehalte gegenüber dem Wort „national“ und seinen Ableitungen vorgebracht haben.60 Versteht man unter Nationalismus ein Nationalbewußtsein, das der eigenen Nation „ein sehr hohes ontisches und sittliches Gewicht, ja ein Dignitätsübergewicht gegenüber allen anderen sozialen Gebilden zumindest innerweltlicher Zielsetzung“ zuweist, welches zugleich „über die soziale Dignität ihrer Angehörigen, das heißt ihre nach der wahren Seinsordnung gegebene Würde, ihren Wert als soziale Wesen entscheide“61, dann gibt es keinen Grund, die Völkischen hiervon auszunehmen. Und tatsächlich hat sich die Mehrheit auch durchaus in diesem Sinne bekannt. Schon die antisemitische Bewegung versteht sich selbst als ‚nationale Bewegung‘ (Bernhard Förster) und will den „Grundstein zu einer großen deutsch-nationalen Partei“ legen.62 Der Gründer und erste Bundeswart des Deutschbundes, Friedrich Lange, überschreibt sein Opus magnum im Untertitel mit „Grundzüge einer nationalen Weltanschauung“; der spätere Großmeister des Bundes, Max Robert Gerstenhauer, charakterisiert die völkische Bewegung als „nationalistische Bewegung“, die sich selbst als den „Abschluß eines tausendjährigen Zeitalters, als Vertreterin einer neuen Weltanschauung, des Systems des Nationalismus“ betrachtet.63 Theodor Fritsch verlangt die Schaffung einer „Nationalpartei“, Adolf Bartels zählt sich selbst zu den „Radikalnationalen“, „Entschieden-Nationalen“ und selbstverständlich auch „Nationalisten“, und für Max Wundt „ist die völkische Bewegung als eine besondere Erscheinung innerhalb der nationalen Bewegung hervorgetreten“.64 Die Deutschvölkische Freiheitsbewegung nennt sich „die durch gemeinsame Weltanschauung verbundene Kampf- und Schicksalsgemeinschaft der völkischen Nationalisten“, und auch in den Nationalsozialistischen Briefen heißt es mit Blick auf die Deutschvölkische Freiheitsbewegung und die NSDAP im Ton größter Selbstverständlichkeit: „Beide völkischen Richtungen sind also Nationalisten.“65 Adolf Hitler macht hier keine Ausnahme. Seine Jugenderinnerungen stehen unter der Überschrift „Der junge Nationalist“ und geben darüber Auskunft, wie schon der Fünfzehnjährige „zum Verständnis des Unterschiedes von dynastischem ‚Patriotismus‘ und völkischem ‚Nationalismus‘“ gelangte.66

Die Völkischen haben es bei solchen Bekenntnissen nicht belassen. Sie haben sich vielmehr zu Gesinnungsgemeinschaften zusammengeschlossen, die nach Max Weber durch den „bewußten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg“ bestimmt sind.67 In der völkischen Bewegung verbindet sich dies mit der mittelstandsideologischen Kritik der reflexiven Modernisierung, darüber hinaus mit weiteren Motivationen, wie sie für soziale Bewegungen typisch sind: solchen affektuell-emotionaler Art, die horizontale und vertikale Bindungen an Personen stiften, solchen traditionaler Art und nicht zuletzt solchen zweckrationaler Art, die in der Erwartung persönlicher Vorteile bestehen.68 Daß diese heterogenen ideellen und materiellen, sachlichen und persönlichen Interessen einer prästabilierten Harmonie folgen, ist eine ganz unwahrscheinliche Annahme, ebenso wie die Ansicht, daß es erst der Nationalsozialismus gewesen sei, der ihre Politisierung bewirkt habe69: um die Völkischen von der Nützlichkeit politischer Macht für die Durchsetzung ihrer Ziele zu überzeugen, bedurfte es nicht erst Hitlers, sondern nur der Lernprozesse, die jede Bewegung macht, deren Ziele quer zum Status quo stehen. Wie im Falle der Stellung zum Nationalismus sind deshalb auch mit Bezug auf den organisierten Betrieb von Politik die zweifellos reichlich vorhandenen Vorbehalte der Völkischen nicht zum Nominalwert zu nehmen.

Baut man den Grenzbegriff um diese Kernelemente auf – die Verbindung von Mittelstandsideologie, Kritik der reflexiven Modernisierung und Rechtsnationalismus im Rahmen einer sozialen Bewegung –, so verlagert sich der Fokus der Aufmerksamkeit. Die Forschung hat sich bisher stark darauf konzentriert, eine „völkische Religion“, eine „völkische Wissenschaft“ oder eine „völkische Literatur“ zu identifizieren und es sich dabei recht bequem gemacht.70 Die Evokation eines Volksgeistes, der Rückgriff auf Rassenlehren oder die Identifizierung ‚reaktionärer Gesinnung‘ genügten ihr häufig, um das Etikett „völkisch“ zu vergeben71; und sie mußten ihr auch genügen, da bei den in Rede stehenden Erscheinungen die religiöse, allgemein-weltanschauliche oder literarisch-künstlerische Kommunikation im Vordergrund steht und darüber hinausgehende Informationen nur selten vorliegen. Die folgende Untersuchung hält diese Erscheinungen zwar durchaus nicht für marginal, aber für zu wenig aussagekräftig, um in differentialanalytischem Sinne verwendbar zu sein. Sie legt deshalb den Schwerpunkt auf die politischen Artikulations- und Organisationsformen der Völkischen, die politischen Vereine, Verbände und Parteien, bei denen das Aussagenprofil in allen Dimensionen des Typus, auch und gerade in bezug auf die Einstellung gegenüber der reflexiven Modernisierung, gut zu sein pflegt. Erweist sich der Grenzbegriff auf diesem Feld als relevant, ist damit ein Anhaltspunkt auch für die Einstufung der „blasseren“ Erscheinungen gewonnen, wird deren Ort doch nicht allein durch die explizite Programmatik bestimmt, sondern auch durch das Netzwerk der Beziehungen und Allianzen.

Notiz zur Zitierweise: Forschungsliteratur nach 1945 sowie häufiger verwendete Nachdrucke und Werkausgaben werden in den Fußnoten nur in Kurzzitation angeführt und im Literaturverzeichnis aufgeschlüsselt. Quellen und zeitgenössische Literatur werden in den Anmerkungen vollständig angegeben, Rückverweise und Abkürzungen im jeweiligen Kapitel aufgelöst. Hervorhebungen in Zitaten wurden, wofern nicht anders vermerkt, gelöscht.

Die Völkischen in Deutschland

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