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Was wir von unseren Hunden über den bewussten Umgang mit ihnen lernen können

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Als ich vor neunzehn Jahren in einer Blindenführhundschule lernte, wie man Blindenführhunde ausbildet, ahnte ich nicht, dass sich mein Glaubenssystem bezüglich der Ausbildung von Hunden und dem Umgang mit ihnen komplett verändern würde.

Aber zurück zum Anfang …

Als ich im Jahre 2000 meine Ausbildung zur Blindenführhund-Trainerin absolvierte, ging es im Großen und Ganzen darum, dass der zur Verfügung stehende Hund mittels vieler Wiederholungen die Aufgaben eines Blindenführhundes lernen sollte. Damals wurden die infrage kommenden Hunde zwar auch vorab getestet, aber nicht in diesem Umfang, wie ich das heute tue. Dies führte dazu, dass der ein oder andere Hund für diese verantwortungsvolle Aufgabe als Führhund nicht wirklich gut geeignet war. Das erschwerte nicht nur dem Hund, sondern natürlich auch dem Ausbilder die Arbeit ungemein und war auch im Nachhinein nicht sinnvoll, weil es mit diesen Hunden dann auch immer wieder Probleme bei den sehbehinderten und blinden Kunden gab.

Als Beispiel möchte ich den Schäferhund Karl nennen, der vor seiner Ausbildung in einer Familie lebte und dort in einem Zwinger gehalten wurde. Die Haltung an sich alleine wäre nicht der Ausschluss gewesen, aber Karl erhielt im ersten Jahr zu wenig Kontakt zu anderen Hunden und war somit nicht gut sozialisiert. Darüber hinaus kannte Karl das Leben in der Wohnung nicht und damit auch nicht die Regeln, die im Haus herrschten, wie zum Beispiel: Kein Essen vom Tisch stehlen, nicht über Tische und Bänke springen oder sich einfach mal ruhig auf seine Decke zu legen. Da Karl in der damaligen Führhundschule, wo ich die Ausbildung erlernte, auch weiter im Zwinger gehalten wurde, änderte sich am Verhalten im Haus nichts. Das Sozialverhalten wurde aufgrund des täglichen Spiels mit anderen Hunden der verschiedensten Rassen von Tag zu Tag besser. Bei Karl zeigte sich während er Ausbildung ein großer Arbeitseifer. So groß, dass er aufdrehte, wenn es zum Ausbilden ging. Er zog so stark im Führgeschirr, dass mir abends nach dem Training immer der Arm wehtat, mit dem ich das Führgeschirr festhielt. Ein weiteres Problem zeigte sich im letzten Drittel der Ausbildung. Karl hatte ein Problem damit, in schwierigen Situationen die Führung zu übernehmen. Er war mit diesen Situationen schlichtweg überfordert und suchte dann Hilfe, indem er stehenblieb und mich anschaute. Aufgrund der motivierenden Hilfe und der unzähligen Wiederholungen der Übungen war nach acht Monaten aus Karl ein Blindenführhund geworden. Bei seiner Einarbeitung mit dem sehbehinderten Kunden zeigte sich dann allerdings, dass Karl damit überfordert war. Als Ausbilderin hatte ich ihm noch Sicherheit geben können, aber der sehbehinderte Kunde konnte das nicht leisten. Es fiel die Entscheidung, dass Karl wieder in die Schule zurück muss. Als ich Karl mitnahm, verstand er die Welt nicht mehr. Warum durfte er dort nicht bleiben? Wo er doch endlich ein Körbchen in der Wohnung hatte, er jeden Tag ausgiebige Streicheleinheiten bekam und endlich seine eigene Familie hatte.

In dieser Zeit wurde mir etwas klar. Nicht jeder Hund, der die gesundheitlichen Anforderungen erfüllte und weder aggressiv noch ängstlich ist, ist auch in der Lage, diesen verantwortungsvollen Job als Blindenführhund zu übernehmen. Erst als der „echte“ sehbehinderte Kunde am Führgeschirr von Karl lief, kam die Unsicherheit von Karl voll zum Tragen. Als er nun alleine für die Führung verantwortlich war und am Anfang einer neuen Bindung stand, konnte er diese Aufgabe nicht mehr erfüllen.

An diesem Tag versprach ich mir selbst, weitere Möglichkeiten zur besseren Auswahl der Hunde und ihrer Ausbildung zu finden. Ich absolvierte in den nächsten Jahren unzählige Hundeausbildungslehrgänge und Fortbildungen, um diese Fragen zu klären. Darüber hinaus lernte ich das meiste von meinen, in dieser Zeit ausgebildeten Hunden. Ich begann, unter der Dunkelbrille an meinen Hunden zu laufen, damit sie ein Gefühl für den „Ernstfall“ bekamen, und ich ließ meine Hunde von anderen Trainern überprüfen.

Eine weitere Entscheidung, die ich getroffen hatte, war weitreichender. Ich sorgte dafür, dass nun alle in Ausbildung befindlichen Hunde bei mir und bei meinen Ausbildern zu Hause im Familienverband lebten. Dadurch lernten die Hunde den natürlichen Rhythmus in einer Familie und die Regeln im Haus. Das führte natürlich dazu, dass jeder Ausbilder nun nur noch zwei Hunde statt vormals vier Hunde ausbilden konnte.

Darüber hinaus beschlossen wir als Schule, dass wir ein Patenprogramm ins Leben rufen würden, damit der Nachwuchs an qualifizierten Hunden gesichert sei. Der Gedanke an sich war auch sehr gut, aufgrund unserer mangelnden Erfahrung mangelte es dann allerdings auch an der qualifizierten Umsetzung. Wir suchten über eine Zeitungsanzeige interessierte Familien, die bereit waren, einen Welpen für zehn Monate bei sich aufzunehmen und ihn groß zu ziehen. Als wir die ersten Vorstellungstermine mit den interessierten Familien vereinbarten, machten diese auch immer einen sehr interessierten und motivierten Eindruck. Wir ließen uns auf die Patenfamilien ein und teilten unseren Labradorwurf (den wir selbst gezüchtet hatten) auf diese Familien auf. Jede Familie bekam einen Labradorwelpen zur Aufzucht. Bei den anschließenden Besuchen dieser Familien nach den ersten zwei Monaten der Patenschaft stellten wir fest, dass fünf der acht Familien mit der Aufzucht des Welpen überfordert waren und der Junghund ihnen bereits jetzt auf der Nase herumtanzte. Daraufhin suchten wir Hundeschulen in der Nähe der Patenfamilien heraus und finanzierten einen Welpen- und anschließenden Junghundekurs für sie. Wir hofften, dass ihnen diese Kurse bei der Aufzucht helfen könnte. Leider verließen wir uns in der folgenden Zeit auf die positiven Aussagen der Patenfamilien und machten uns erst am Ende der Patenzeit ein Bild über den Entwicklungs- und Erziehungsstand unserer Welpen. Bei der Abholung der Junghunde und dem vorher stattfindenden Abschlussspaziergang fielen uns einige erlernte Unarten bei den Junghunden auf. Nachdem wir die Junghunde dann vier Wochen lang in unserer eigenen Blindenführhundschule getestet hatten, mussten wir vier der acht zurückgekommenen Junghunde privat vermitteln, weil sie Verhaltensweisen zeigten, die als Blindenführhund nicht vertretbar waren.

Einer der Hunde konnte nicht alleine bleiben. Der Stresslevel war dabei so hoch, dass keine Maßnahme half, ihn in dieser Situation zu entspannen und runterzufahren. Der nächste Junghund hatte in seiner Patenfamilie mehrmals hintereinander die Möglichkeit gehabt, Rehe und Hasen zu jagen, und war nun so motiviert, dass er bei jedem Spaziergang nur eine Gelegenheit zum Jagen suchte und dann reichte bereits eine Wildspur aus, um seinen Jagdinstinkt zu entfachen. Mit einem anderen Junghund wurde trotz vorheriger Absprache mit Bällen gespielt, sodass er so fixiert darauf war, dass es ihm nicht mehr möglich war, entspannt an einem Fußballplatz vorbeizugehen. Der letzte nicht geeignete Junghund hatte in seiner Junghundezeit gelernt, Exkremente von anderen Tieren und Menschen aufzunehmen, hatte jetzt einen Sport daraus entwickelt und ging bei jedem Spaziergang nach draußen auf die Suche nach solch einer Delikatesse.

Natürlich hätten wir als Hundetrainer diese Verhaltensweisen alle mehr oder weniger gut in den Griff bekommen, aber bei unseren Kunden wären diese wieder aufgetreten. Da wir das nicht riskieren wollten, boten wir diese Junghunde den Patenfamilien zum Kauf an und nahmen sie aus der Ausbildung.

Dieses Erlebnis machte uns eins klar: Wenn wir mit Patenfamilien arbeiten wollen, dann nur mit solchen, die sich mit der Aufzucht und Ausbildung von Hunden auskannten. Da wir zu dieser Zeit solche Patenfamilien nicht zur Hand hatten, stellten wir das Patenprogramm und auch die eigene Labradorzucht wieder ein und kauften erneut erwachsene oder fast erwachsene Hunde bei seriösen Züchtern ein. Auch in dieser Zeit mussten wir feststellen, dass eine seriöse Zucht keine Garantie für einen gut erzogenen und gut sozialisierten Hund ist. Manchmal mussten wir in der vereinbarten Probezeit bereits am ersten Tag feststellen, dass der Hund alleine durch den Ortswechsel vom Züchter zu uns in die Blindenführhundschule überfordert war und ängstlich oder aggressiv reagierte. Da beides für unsere Arbeit nicht infrage kam, mussten diese Hunde sofort wieder zum Züchter zurück.

Die besten Hunde, die wir in dieser Zeit bekommen konnten, waren Hunde von Familien, die aufgrund einer Lebensänderung ihren Hund hergeben mussten, sei es wegen Berufswechsel oder Scheidung. Diese Hunde waren meist mit viel Liebe und Sachverstand aufgezogen und somit gut aufs Leben und die Arbeit als Führhund vorbereitet worden. Meist konnte sich die Familie auch leichter vom geliebten Hund trennen, weil sie wusste, dass ihr Hund irgendwann einem sehbehinderten oder blinden Menschen durchs Leben helfen würde. Dieser Gedanke half über so manchen Trennungsschmerz hinweg, insbesondere bei den Kindern der Familien.

Innerhalb der nächsten Jahre machten wir viele Erfahrungen, die uns letztendlich dabei halfen, unser jetziges Wissen zu entwickeln und nun mittels diesem Buch an viele Menschen weitergeben zu können.

Wenn du nun ein Buch über die Konditionierung oder klassische Ausbildung von Arbeitshunden erwartest, dann solltest du dieses Buch jetzt weglegen. Was du hier bekommst, ist ein Buch mit einem Erfahrungsschatz von siebzehn Jahren der Blindenführhundausbildung und der Ausbildung von Therapie- und Schulhunden. Diese Erfahrungen gehen weit über die Ausbildung hinaus. Vielmehr handelt mein Buch von der wirklichen Verbindung zwischen Mensch und Hund. Von dem tiefen Verständnis der Lebewesen untereinander und einer Teamarbeit, die aufgrund eines Bewusstseins besteht, das so viel mehr ist als die reine Nutzung eines Arbeitshundes.

In den letzten siebzehn Jahren habe ich eins gelernt: Hunde sind so viel mehr als Helfer auf vier Pfoten. Hunde sind unsere Seelenverwandten, die uns unser Innerstes spiegeln und uns unsere Entwicklungsmöglichkeiten und unsere Schattenseiten zeigen. Sie helfen uns, unser Bewusstsein zu entwickeln, wenn wir bereit sind, hinzuschauen und wirklich hinzuhören.

Wenn wir bereit sind, uns auf einer tieferen Ebene des Seins auf diese wundervollen Geschöpfe einzulassen und von und mit ihnen zu lernen. Sie sind so viel mehr als Arbeitshunde. Sie sind tierische Therapeuten und sie haben die Fähigkeit, uns so anzunehmen und zu lieben, wie wir sind, und das ist das größte Geschenk, das wir von ihnen bekommen. Diese bedingungslose Annahme, egal wie wir uns verhalten, egal welche Launen wir haben und wie ungerecht wir in manchen Situationen unserem Hund gegenüber sind, nur weil wir ihn noch nicht verstehen. Diese Erkenntnisse möchte ich dir näher bringen.

Fangen wir ganz langsam an. In den zurückliegenden neunzehn Jahren habe ich mittlerweile über siebzig Blindenführhunde selbst ausgebildet und mit ihrem sehbehinderten Besitzer zusammengebracht und in der Ausbildung sowie in der Zusammenführung sind mir so manche Kronleuchter der Erkenntnis aufgegangen.

Um diese Erkenntnisse besser nachvollziehen zu können, werde ich euch die Geschichten erzählen, die ich damals mit meinen Hunden erlebt habe. Ich freue mich auf unsere gemeinsame Reise von der Vergangenheit in die Zukunft. Eine Zukunft, die für Mensch und Hund gleichermaßen bereichernd sein kann, wenn ihr euch auf die Erkenntnisse einlassen könnt und sie im täglichen Miteinander mit euren Hunden umsetzt.

Schattenspieler

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