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Schlüsselerlebnisse

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Eines meiner Schlüsselerlebnisse zu Beginn meiner Ausbildung von Blindenführhunden war das folgende:

An einem schönen Samstagnachmittag war ein sehbehinderter Kunde namens Helmut angemeldet. Helmut wollte sich an diesem Tag den für ihn vorgesehenen Blindenführhund anschauen. An diesem Tag sollte sich dann entscheiden, ob die beiden zusammenpassen würden oder nicht. Bisher hatten wir diese Treffen immer so gestaltet, dass der sehbehinderte Kunde seinen für ihn geplanten Hund durch einen ausführlichen Spaziergang und einen anschließenden kleinen Führgang kennenlernen sollte. Wenn bei diesem Treffen der sprichwörtliche Funke zwischen den beiden übersprang, dann reservierten wir diesen Hund für ihn und setzten die weitere Ausbildung fort. Helmut war an diesem Tag sehr aufgeregt und konnte es kaum abwarten, „seine“ Labradorhündin endlich kennenzulernen. An diesem Tag kam es dann ganz anders als gedacht. Als Helmut erwartungsfreudig im Besprechungszimmer saß und wir die Labradorhündin Bella ins Zimmer führten, geschah Folgendes: Bella betrat das Zimmer, ging einige Schritte Richtung Helmut, musterte ihn kurz, drehte sofort wieder um und verließ den Raum. Diese Reaktion war auch deshalb so erstaunlich, weil Helmut zum ersten Kennenlernen von Bella schmackhafte Leckerchen besorgt hatte, die er jetzt in der Hand hielt. Als ich Bella noch mal zu mir rief, kam sie angelaufen, ließ sich aber nicht von Helmut heranlocken, nicht einmal mit diesen Leckerchen. Da ich dieses Verhalten vorher bei Bella noch nie erlebt hatte, konnte das nur bedeuten, dass Bella nicht zu Helmut wollte. Um sicherzugehen, starteten wir noch einen Versuch und gingen gemeinsam spazieren. Auch während dieses Spaziergangs war Bella weder an Helmut noch an seinen Leckerchen interessiert. Dieses Verhalten war dann doch so deutlich und so ungewöhnlich für Bella, dass ich meinen Eindruck, dass Bella nicht der richtige Hund für Helmut sei, mitteilte. Helmut sah es genauso. An diesem Tag zeigte mir Bella eindrucksvoll, dass ein Arbeitshund nicht mit jedem Menschen arbeiten möchte, sondern auch seine Vorlieben hat.

Da Bella kurze Zeit später die für sie passende Sehbehinderte traf und sich dort von Anfang an aufgeschlossen und freudig zeigte, wusste ich nun mit Sicherheit, dass es Bellas Entscheidung war.

Diese Erfahrung half mir in den folgenden Jahren sehr dabei, immer häufiger den richtigen Teampartner für den Sehbehinderten und für den Hund zu finden. Denn mit dem richtigen Partner ist das Leben leichter :-).

Da wir früher sehr viele Hunde aus privaten Familien zur Ausbildung ankauften, durfte ich auch dort einige Erfahrungen machen, die mich und meine Einstellung zu Hunden nachhaltig geprägt haben.

Eines Tages schaute ich mir eine Labradorhündin bei einer Familie in Frankfurt an. Die Hündin namens Stella zeigte sich mir gegenüber sehr freundlich und aufgeschlossen. Bei dem Ankaufstest, den ich bei jedem Hund durchführte, verhielt sich Stella ruhig und souverän. Sie lief an lockerer Leine mit mir und weder die städtischen Geräusche noch der Besuch des Bahnhofes oder eines großen Einkaufsmarktes konnten sie beeindrucken. Sie blieb ruhig und gelassen. Beim anschließenden Spaziergang ließ sie sich von mir heranrufen und sie beherrschte auch bereits verschiedene Kommandos, wie Sitz, Platz und Aus. Stella schien perfekt als Führhund zu sein und so nahm ich sie mit in unsere Schule.

Am nächsten Tag zeigte Stella ein ganz anderes Wesen. Durch den Verlust ihrer sicheren Umgebung und ihrer Bezugsperson verlor Stella ihren Halt. Sie zeigte nun ängstliches Verhalten und hatte große Mühe damit, sich mit der für sie neuen Situation anzufreunden. Stella hatte so großen Stress, dass ich die vorherigen Besitzer anrief und ihnen davon berichtete. Die Besitzer reagierten wütend. Sie wollten mit der „Sache“ nichts mehr zu tun haben und legten einfach den Hörer auf.

Nun war ich sprachlos und gleichzeitig ahnte ich, warum Stella sich bei meinem Ankaufstest so ins Zeug gelegt hatte. Sie wollte unbedingt, dass ich sie mitnahm.

Im Nachhinein denke ich, dass Stella einfach diese Gelegenheit nutzte, um aus ihrem bisherigen Zuhause rauszukommen.

Ja, ich weiß, dass das jetzt für den ein oder anderen Leser zu viel Interpretation ist und das ist auch in Ordnung.

Ich spreche von meinen Eindrücken, meinen Erfahrungen und meinem Bauchgefühl, das mir auf vielfältige und immer wiederkehrende Weise diese Erfahrungen beschert hat, bis ich sie begriffen hatte. Immer wenn ich eine Erfahrung auf einer tieferen Ebene verstanden hatte, tauchte diese Erfahrung nicht mehr auf. Für mich ist das, im Nachhinein betrachtet, keine Überraschung mehr, denn immer, wenn eine Lernaufgabe, ein Feedback verstanden wurde, ist keine weitere Erfahrung in diesem Bereich notwendig. Klingt logisch und ist es auch!

Ich habe nach dieser Erfahrung noch viele erlebt, wo ich im Nachhinein wusste, warum der Hund alles gab, damit ich ihn mitnehme.

Noch ein Beispiel dazu: Seit einigen Jahren kann ich die Hunde nicht nur verstehen, sondern ich kann sie auch sehr gut fühlen. Das bedeutet, wenn ich einen Hund kennenlerne, merke ich sehr schnell, wie es ihm dort geht, wo er jetzt ist, und ob er dort glücklich ist oder nicht. Woran ich das merke? Das ist ein gute Frage! Es ist eine Kombination aus meinem Gefühl und aus dem Ausdruck in den Augen des Hundes. Es ist mir dann so, als würde der Hund durch seine Augen zu mir sprechen. Ich schaue in seine Augen und sehe sein Leid oder seine Freude. Anders kann ich das nicht beschreiben.

Als ich mir vor zwei Jahren eine Labradorhündin angeschaut habe, hatte ich genau dieses Gefühl, und zwar von Anfang an.

Ich klingelte bei der Familie, die die Hündin abgeben wollte, und trat ins Haus. Ich wurde von einer wild springenden Hündin empfangen und einen Blick in deren bernsteinfarbene Augen verriet mehr als tausend Worte. Die Augen waren glanzlos und wirkten sehr traurig.

Die Besitzerin erzählte mir, dass Kira weg müsse, weil sie ihr viertes Kind erwarte und sie mit dieser Gesamtsituation überfordert sei. Und genau das spiegelte sich in Kiras Augen. Sie war nur noch eine Last und deshalb war die Freude aus ihren Augen gewichen. Ich wollte Kira näher kennenlernen und einen Spaziergang mit ihr unternehmen. Die Besitzerin drückte mir Kiras Halsband und eine geflickte Leine in die Hand und schickte mich alleine mit ihr los. Als ich das Haus mit Kira verließ, konnte sie es kaum abwarten, rauszukommen. Sie zog an der Leine wie ein Zugpferd und ich hatte Mühe, Kira mit ihren gut gemeinten dreißig Kilo festzuhalten. Als ich ein paar Meter gegangen war, schreckte Kira vor einem entgegenkommenden Lastwagen so zurück, dass mir in diesem Moment schon klar war, dass sie kein Blindenführhund werden würde. Mein Verstand sagte mir tausend Gründe auf, warum ich diesen Hund sofort wieder zurückbringen musste. Ich folgte meinem Verstand und brachte Kira zurück mit der Begründung, dass sie nicht als Blindenführhund geeignet war. Die Besitzerin nahm sie emotionslos entgegen und verabschiedete sich ganz schnell von mir, und so stand ich wieder vor dem Haus ohne Kira.

Auf dem kurzen Weg zu meinem Auto überkam mich eine unglaubliche Traurigkeit, und im Auto angekommen musste ich furchtbar weinen. Ich weinte und weinte und weinte. Ich verstand zuerst nicht, was los war, rief eine gute Freundin an und fragte sie um Rat. Sie gab mir den entscheidenden Hinweis, der so naheliegend war. Wenn ich solch eine Traurigkeit spürte, nur weil ich Kira wieder in ihr altes Zuhause zurückgebracht hatte, konnte ich nun entweder weiter weinen oder nach meinem Herzen handeln. Ich dankte meiner Freundin, stieg aus meinem Auto, klingelte am Haus und kaufte Kira.

Der Hund machte Freudensprünge, als ich ihn in mein Auto einlud. Es war total verrückt, mein Verstand drehte durch und mein Herz hüpfte vor Freude. Ich wusste, dass ich dieser Hundeseele mit dem Kauf geholfen hatte, und ich wusste auch, dass ich sie in ein wunderschönes Zuhause weitervermitteln wollte. Bis dahin sollte Kira bei mir leben und alles lernen, was sie für ein entspanntes Hundeleben so brauchte.

Jetzt mag der ein oder andere Leser mich komplett für verrückt halten und ich kann dich verstehen! Ich hätte vor zehn Jahren auch noch so gedacht. Ich hatte jetzt einen Hund, der nicht als Blindenführhund geeignet war, der einen meiner Ausbildungsplätze für die Zeit belegte, bis ich ein schönes Zuhause gefunden hatte, und der meine Zeit in Anspruch nehmen würde. Das Verrückte daran war, dass es mir mit dieser Entscheidung sehr gut ging, denn diese Entscheidung kam aus meinem Herzen. Ich arbeite schon so viele Jahre mit Hunden und meine Wertschätzung und Dankbarkeit für diese Arbeit mit diesen wundervollen Geschöpfen konnte ich diesem Hund nun zurückgeben.

Für diesen Hund hat es den entscheidenden Unterschied gemacht und das wusste ich, als ich sie gekauft habe.

Nach sieben Monaten fand ich dann das perfekte Zuhause für sie und dort wird sie genauso geliebt, wie sie ist. Mit allen Kanten und Ecken. Dafür hat sich die Arbeit und die Zeit gelohnt. Kiras Augen leuchten jetzt wieder in vollem Glanz und ihre Besitzer lernen so viel von ihr, jeden einzelnen Tag. Ein weiterer Schlüsselmoment.

Schattenspieler

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