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III

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Die modrige Atmosphäre der Morgue, der süßliche Geruch nach Formalin und Verwesung, das Bewusstsein, dem Tod in seiner grausigsten Gestalt gegenüberzustehen, benahm der feinen Familie den letzten Rest ihrer frechen Sicherheit.

Mrs. Jane zog es vor, mit einem leisen Aufschrei in Ohnmacht zu fallen.

O'Keene war darauf vorbereitet gewesen und überließ sie der Obhut einer Beamtin.

Erst dann führte er den totenbleichen Mann zu einer Bahre und riss mit einem Ruck das Tuch weg, das die sterblichen Überreste des Toten aus der Park Avenue gnädig verhüllt hatte.

Wenn er den Wankenden nicht gestützt hätte, wäre er gefallen.

Die Augen quollen Proctor aus den Höhlen, und er stieß nur mehr ein unartikuliertes Lallen aus.

„Nehmen Sie sich zusammen!“, fauchte der Leutnant. „Sind Sie ein Mann oder sind Sie keiner?“

Proctor deutete entsetzt auf die Leiche. „Da – da – da! Das ist Georges Anzug. Ich erkenn ihn genau wieder. Hab ihn selbst aus der Reinigungsanstalt geholt, damals. Großer Gott, ist es denn …?“

Der Polizeioffizier musste dreimal trocken schlucken. „Erkennen Sie in der Leiche Ihren früheren Untermieter George Anderson wieder?“

Proctor nickte.

„Mit absoluter Sicherheit?“

„Mit absoluter Sicherheit!“, echote der Mann „Ich täusche mich nicht. Der Anzug ist es. Seine Hände sind es. Sehen Sie, das Überbein am linken Daumen. Und die breiten Nägel. Fort hier, Sir, fort hier!“ Er brüllte aus Leibeskräften. „Ich will fort, fort, fort. Ich kann es einfach nicht mehr ertragen. Lassen Sie mich fort!“

*

Nachdem sich die beiden wieder einigermaßen erholt hatten, fuhr O'Keene mit ihnen zum Hauptquartier und setzte langsam und umständlich ein Protokoll auf.

Obwohl ihm das Ehepaar den Gefallen tat, über jede einzelne Frage lange zu diskutieren, saß er doch wie auf Kohlen und war erlöst, als er endlich ins Nebenzimmer ans Telefon gerufen wurde.

„Ich bin es, Smith“, hörte er die Stimme seines Sergeanten. „Ich bin mit drei Leuten in Proctors Wohnung gegangen und habe mich umgesehen. Wir fanden im Kohlenkeller drei Koffer, vier Anzüge und etwas Wäsche, leider aber keine Dokumente. Die Koffer sind mit dem Monogramm G. A. Gezeichnet. Die liebe Nachbarschaft hat natürlich gemerkt, was los ist, und mir bereitwillig wertvolle Hinweise gegeben. Die Proctors wurden mir als arbeitsscheu und trunksüchtig geschildert. Proctor verdiente als Gelegenheitsarbeiter im Hafen gerade das Salz in der Suppe. Am fünfundzwanzigsten März kauften sie bei dem Radiohändler McPherson die Musiktruhe und das Televisiongerät. Sie zahlten bar. Außerdem haben sie sich in einem führenden Bekleidungshaus ausstaffiert. Gearbeitet hat Proctor seit fünfundzwanzigsten März nichts mehr, nur noch geschlemmt und getrunken.“

Der Leutnant lachte trocken auf. „Ihr Eindruck, Smith?“

„Da würde jeder Hilfsschüler durchsehen, Sir. George Anderson scheint genügend Geld zum Leben gehabt zu haben, Bargeld, meine ich, weil er weder eine Rente bekam noch ein Bankkonto hatte. Die Proctors haben ihn in das Haus am Park gelockt und ermordet. Und dann haben sie ihn beerbt. Anders lassen sich die Dinge wohl nicht erklären. Sehr geschickte Verbrecher sind die Täter allerdings nicht!“

*

Der Polizeioffizier kehrte in sein Zimmer zurück und teilte den entgeisterten Gästen mit, er müsse sie als wichtige Zeugen vorübergehend festhalten.

Als sie, wütend protestierend, abgeführt waren, setzte er sich mit seinem nächsten Vorgesetzten in Verbindung und trug ihm seine Meinung vor.

Zwei Stunden später hatte er einen Haftbefehl gegen die beiden in Händen und ließ sie wieder vorführen.

O'Keene kümmerte sich gar nicht um das Gekeife des erfreuten Ehepaares, sondern unterbrach durch eine kurze Handbewegung.

„Donald und Jane Proctor, ich verhafte Sie unter dem dringenden Verdacht, am sechzehnten März George Anderson ermordet zu haben …“

Krebsrot vor Zorn fuhr Donald auf, aber zwei kräftige Beamte warfen sich über ihn und legten ihm Handschellen an.

„Folgende Punkte sprechen gegen Sie“, fuhr der Leutnant unerbittlich fort. „Ich habe inzwischen eine Haussuchung veranlasst und folgendes festgestellt …“

Erbarmungslos prasselten seine Worte auf die Entsetzten nieder. Am Ende sagte er barsch: „Das aufgenommene Protokoll ist keinen Schuss Pulver wert. Ich möchte jetzt die Wahrheit von Ihnen hören. Also, was haben Sie mir zu sagen?“

„Das haben wir jetzt davon, du dumme Gans!“, brüllte Proctor seine Frau an. „Du hast uns das eingebrockt!“

„Ach nee!“, piepste seine bessere Hälfte. „Und wer hat nicht mehr arbeiten wollen? Wer kam auf die Idee, George zu beerben?“

„War ich das, oder …?“

Die beiden hätten eine solide Balgerei inszeniert, wenn sich die Beamten nicht dazwischengeworfen hätten.

„Abführen, die Frau!“, befahl O'Keene.

Als Donald allein zurückgeblieben war, beugte er sich lauernd zu ihm vor. „Pflichtgemäß muss ich Sie darauf aufmerksam machen, Proctor, dass Sie nur in Anwesenheit Ihres Anwalts aussagen müssen. Wenn Sie sich aber dazu entschließen, ohne Ihren Anwalt auszusagen, dann müssen Sie schon mit der reinen Wahrheit herauskommen!“

„Ich will aussagen!“, brüllte der Verhaftete. „Ja, ja, ja, ich sage aus. Ich bin kein Mörder! Ich will die Strafe tragen für das, was ich getan habe, aber ich bin kein Mörder!“

Er schlug die gefesselten Hände vors Gesicht und schluchzte wie ein kleines Kind.

*

O'Keene wartete angewidert, bis sich Proctor wieder etwas gefasst hatte, und donnerte ihn dann an: „Jetzt berichten Sie von Anfang an, Mann. Aber die reine Wahrheit!“

„Was soll ich schon sagen, Sir?“, brummte der Verhaftete. „Sehen Sie, ich lernte George Anderson im August vierundfünfzig in meiner Stammkneipe kennen. Wir kamen ins Gespräch, und er sagte mir, er suche eine ruhige Bleibe. Irgendwie war er ein mächtig feiner Mann, Sir, aber er konnte auch so … ich meine, ich meine, die Sprache …“

„Er konnte auch Ihre Sprache sprechen. War es so?“, half ihm der Polizeioffizier.

Proctor nickte erleichtert. „Genau das war es, Sir! Ich nahm ihn mit nach Hause. Er erzählte mir, dass er viel Pech im Leben gehabt hätte. Ich hatte immer den Eindruck, Sir, dass er mal gesessen hätte, Sie verstehen?“

O'Keene verstand. „Und wie ging alles weiter?“

„Well, Anderson ließ das Zimmer herrichten und kaufte sich bei einem Altwarenhändler Möbel. Er war sehr eigen. Er hielt seinen Raum selber sauber …“

Kein Wunder, dachte der Leutnant, bei dem Dreck, der in der restlichen Wohnung herrschte!

„… und richtete sich auch selbst das Essen.“

„Sprach er über seine Vergangenheit?“

„Nie, Sir!“

„Well, und woher hatte er das Geld zum Leben?“

„Er hatte eine Menge Bargeld irgendwo versteckt. Wo, wusste ich nicht.“

„Bekam er Post?“

„Bei uns nie. Einmal habe ich ihn dabei ertappt, wie er einen Brief verbrannte. Ich nehme an, er hat sich seine Briefe postlagernd schicken lassen.“

„Das ist wohl möglich. Kommen wir jetzt auf den sechzehnten März zu sprechen.“

Proctor überlegte und suchte mühsam nach Worten.

„Sehen Sie, Sir, das war so“, berichtete er. „Anderson war schon immer so zurückhaltend. Aber in der letzten Zeit war er ganz durcheinander. Ich fragte nichts, weil ich doch keine Antwort bekommen hätte. Am sechzehnten März zog er seinen braunen Anzug an und ging am Nachmittag weg. Ich begegnete ihm auf der Treppe, und er sagte, er müsse sich mit einem alten Kumpel treffen. Das hat mich sehr überrascht …“

„Wieso?“

„Weil er in Cleveland keinerlei Freunde und Bekannte hatte. Er ging im Sommer meist den ganzen Tag weg. Ich glaube, er war viel am See. Im Winter holte er sich immer Bücher aus der Leihbücherei und las. Okay, George ging also fort. Er kam nicht wieder. Nach vier Tagen bekam ich es mit der Angst zu tun und wollte die Polizei verständigen. Gewiss, das wollte ich. Sie können mir glauben. Meine Frau ist an allem schuld!“

Der Leutnant sah einen neuen Zusammenbruch des äußerlich so robusten Mannes und half ihm barsch über den toten Punkt weg. „Weiter, Mann, weiter, zum Donnerwetter!“

„Da ist nicht viel zu sagen, Sir. Meine Frau sagte: George ist irgendwo verschüttgegangen. Wenn man ihn gefunden hätte, hätten wir was in der Zeitung gelesen. Pass auf: wir sagen, er sei abgereist. Nach New York. Er hat nie Geld bekommen und war auch nie auf einer Bank. Also muss er genug Kies zum Leben versteckt haben! Leider, leider wurde ich schwach. Wir filzten seine Sachen durch und fanden in einem seiner Koffer einen doppelten Boden. Dort drin hatte er rund fünfzehntausend Dollar in großen Noten versteckt.

Jetzt war Polen offen. Ich wollte ja sofort Leine ziehen, aber Jane meinte, das würde auffallen, wir sollten noch ein paar Monate in Cleveland bleiben. Wie dann alles ausgegangen ist, wissen Sie ja.“

„Sehr richtig. Und wo ist das Geld jetzt?“

„Wir haben ein paar tausend Dollar ausgegeben, Sir. Der Rest ist in unserer Stube. In dem Holzklotz, der als viertes Tischbein dient.“

O'Keene wurde ausgesprochen sanft. Proctor hätte das als schlechtes Zeichen genommen, wenn er ihn besser gekannt hätte.

„Also, mein Lieber“, lächelte der Polizeioffizier. „Wir sind fast fertig. Fehlt nur noch eine schöne Geschichte. Eine schöne Geschichte. Woher wussten Sie, dass das Haus fünfundsechzig Park Avenue leersteht? Wo beschafften Sie sich die Schlüssel? Wodurch gelang es Ihnen, Anderson in das Haus zu locken? Hat Ihre Frau Beihilfe zum Mord geleistet?“

Donald Proctor ließ ihn ruhig ausreden. Er nickte dreimal kräftig. „Dacht ich mir‘s doch, dass Sie versuchen würden, mir den Mord ans Bein zu hängen, Sir. Ich habe nicht gelogen, ich habe die reine Wahrheit gesprochen. Ich habe Andersons Geld gestohlen, das gebe ich zu, aber ich habe mit seinem Tod nichts zu schaffen.“

O'Keene mochte anstellen, was er wollte, der plötzlich viel ruhiger gewordene kleine Gauner blieb bei seinen Worten.

*

Auch das Verhör der Ehefrau förderte keine anderen Aussagen zutage. Sie behauptete lediglich, nicht sie habe Donald dazu überredet, Andersons Habseligkeiten und Geld zu unterschlagen, sondern Donald sie.

Im wesentlichen Punkt aber deckte sich ihre Aussage völlig mit der ihres Mannes. Sie schwor bei allen möglichen Heiligen, dass sie so wenig mit dem Mord zu tun hätte wie ihr Mann.

Der Leutnant ließ sie endlich verärgert abführen.

Er spannte einen Bogen in seine Schreibmaschine, um einen Funkspruch aufzusetzen:

„SSD!

An Stadtpolizei New York.

Am 16. Maerz wurde hier George Anderson ermordet. A. soll 55 Jahre alt sein und bis August 1954 in New York gewohnt haben. Groesse etwa eins-achtzig, Figur korpulent, aber nicht fett, Haar grau, frueher rot. Mehr ist nicht bekannt. Erbitte Eilnachricht, falls der Ermordete dort amtsbekannt sein sollte. Fingerabdruecke werden gleichzeitig durch Bildfunk übermittelt.

Bill O'Keene Leutnant; Stadtpolizei Cleveland, Ohio, Abteilung für Kapitalverbrechen“

Er las den Text noch einmal aufmerksam durch und klingelte seinem Schreiber, um ihn zu bitten, den Funkspruch und die Fingerprints des Toten sofort durch die Nachrichtenzentrale nach New York weitergeben zu lassen.

Jetzt endlich gönnte sich der Polizeioffizier ein sehr verspätetes Mittagessen.

Als er aus der Kantine zurückkam, wartete Sergeant Smith bereits auf ihn.

„Ich habe das Protokoll bereits gelesen, Sir“, sagte er beim Eintritt seines Vorgesetzten bescheiden. „Ich bin im Bild. Also, Proctor will der Mörder nicht sein. Fragt sich, ob er damit durchkommt?“

O'Keene ereiferte sich. „Er wird nicht damit durchkommen, Mann. Dafür werden wir sorgen. Wir haben die Todeszeit Andersons ziemlich genau. Müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn es uns nicht gelänge, Zeugen zu finden, die Proctor und Anderson in der fraglichen Zeit zusammen gesehen haben. Wenn Sie mit Ihrem Kram fertig sind, verständigen Sie sich mit Boudy und gehen gleich an die Arbeit! – Haben Sie seit Ihrem Anruf noch etwas entdeckt?“

Smith legte einen Briefumschlag auf den Tisch. „Ich fand im Geheimfach des Koffers, wo Anderson vermutlich sein Bargeld aufbewahrte, diesen Umschlag, Sir!“

Als Absender war eine New Yorker Adresse angegeben:

Beryl Fogg

1339 Jamaica Avenue bei Simpson New York 19, N. Y.

Der Umschlag trug die Anschrift:

To:

G. A. 1000 Cleveland, Ohio hauptpostlagernd

O'Keene nahm den vom 14. Februar datierten Brief aus dem Umschlag und las die Mitteilung, die in schwungvollen, flüssigen Zügen geschrieben war.

„Lieber Pa, vor meiner Abreise schnell noch ein paar Zeilen. Wann ich wieder im Lande sein werde, kann ich nicht absehen. Mehrere Monate wird die Expedition wohl dauern. Auf jeden Fall hoffe ich, dass Du dann Deinen Starrsinn endlich aufgibst und mir erlaubst, Dich zu besuchen. Ich habe Dich seit Jahren nicht gesehen, und ich sehne mich danach, Dich endlich wieder einmal umarmen zu können. Was früher war, ist gebüßt; ich bin Deine Tochter. Alles andere spielt für mich keine Rolle.

Ich muss Dir – klopfenden Herzens wie ein kleines Mädchen – eine Mitteilung machen, die Dich vielleicht in Erstaunen setzen wird. Nach meiner kurzen Ehe mit James hatte ich all die Jahre geglaubt, ich würde mich nie wieder verlieben können, aber jetzt, nach so vielen Jahren, hat es mich doch mächtig gepackt.

John Casey ist der beste Mann unter der Sonne. Wir haben uns nach Neujahr im Ritz kennengelernt und uns sofort ineinander verliebt. Vielleicht wirst Du über Deine überschwängliche Tochter lächeln, lieber Pa, aber ich bin schließlich alt genug, um zu wissen, was ich will.

Mehr über John und mich erfährst Du, wenn ich wiederkomme. Für heute nur noch so viel: Ich habe bereits gekündigt, weil wir nach meiner Rückkehr gleich heiraten wollen.

Also, Pa, bis auf hoffentlich baldiges, gesundes Wiedersehen. Pass gut auf Dich auf, hörst Du? Alles Liebe, Gute und Schöne,

Deine Beryl.“

„Hm“, murmelte O'Keene, als er den Brief gelesen hatte. „Sieht so aus, als hätte Anderson eine Tochter. Der kann man ja schließlich den Tod ihres Vaters nicht vorenthalten. Bringen Sie mir das Telefonbuch von New York!“

Fünf Minuten später fand der Polizeioffizier die Nummer einer Dana Simpson, 1339 Jamaica Avenue, und meldete ein dringendes Ferngespräch nach New York an.

Als die Verbindung endlich zustande kam, meldete sich eine ferne Stimme: „Hier Dana Simpson!“

„Bill O'Keene aus Cleveland am Apparat“, erwiderte der Polizeioffizier vorsichtig, ohne Rang und Stellung anzugeben. „Ist Miss Fogg schon von der Reise zurück?“

„Mistress Fogg nimmt im Augenblick an einer Kulturfilm-Expedition der Columbus Film nach Feuerland teil.“

„Wann kommt sie zurück?“

„Vielleicht Ende April, vielleicht auch schon früher.“

„Ich muss ihr eine dringende Mitteilung zukommen lassen. Sagen Sie mir bitte, unter welcher Adresse ich sie erreichen kann.“

„Tut mir leid, die Columbus Film hat im Augenblick die Verbindung mit der Expedition verloren. Vermutlich hält sie sich in unbewohnten Gegenden auf; es hat den Anschein, als sei das Funkgerät ausgefallen.“

„Tut mir leid. Hoffentlich ist Mrs. Fogg nichts zugestoßen, Mrs. Simpson. Sobald Sie eine Anschrift erfahren, rufen Sie mich, bitte, auf meine Kosten an. Meine Nummer ist Cleveland vier-null-null-eins-null-sechs, Nebenstelle fünfzehn, mein Name Bill O'Keene.“

„Ich habe alles notiert, Mr. O'Keene. Sie erhalten Nachricht, sobald ich selbst mehr weiß.“

Schattenparade: Kriminalroman

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