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Paris, November 1859, einen Monat später

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Seit Stunden regnete es ohne Unterlass. Der Wind fauchte wie ein Ungetüm, fuhr in und durch alle Ritzen und legte offen dar, wie unzulänglich wir nach dem letzten Herbststurm die Kuppel und die schrägen, einsam im Wind vor sich hin flatternden Seitenwände des Zeltes ausgebessert hatten. Wir, damit meinte ich Phillip de la Tour und seine Frau Margaret, beide wie ich Hochseilartisten. Dann waren da natürlich Julius Wegener, unser Clown, Mary und Jo Ann, zwei Schwestern aus Schweden, die ohne Ausnahme alle Männer verrückt machten, wenn sie ihre Röcke durch die Luft wirbelten und man ihre nackten Schenkel bewundern konnte. Kenneth, unser Messerwerfer, und Paul Bailey, ein Ire, der von Bordeaux aus zu uns gestoßen war, gehörten ebenfalls dazu, und dann natürlich Carmen, meine über alles geliebte Carmen.

»Die Niagarafälle? Das ist Selbstmord!«

Phillip saß auf einem vom Regen feuchten Strohballen und rauchte.

Wir anderen tranken heißen Kaffee mit einer Spur Cognac darin. Es war kalt. Der Atem wurde zu Eiskristall, sobald er die Lungen verließ, unsere Finger waren klamm und blau, unsere Nasenspitzen rot und mit feinen Adern durchzogen. In den Augen der anderen bemerkte ich ein seltsames Glänzen, das ich nicht nur mit dem Alkohol in Verbindung bringen wollte.

Hatte es vielleicht mit meinen verwegenen Plänen zu tun?

»Irgendwann wird es jemand wagen, und dieser Jemand wird reich und berühmt werden!«, hielt ich dagegen.

Phillip sah mich aus müden Augen an. Er kannte meine Ambitionen und wusste, dass meine Worte hauptsächlich an Carmen gerichtet waren, die einige Schritte weiter entfernt den Kopf gehoben hatte und unser Gespräch höchst aufmerksam verfolgte.

Sie sah mich an, wurde rot und sah schnell wieder weg.

Plötzlich war Phillip hellwach. Ihm war wohl der Ernst in meiner Stimme erst jetzt aufgefallen.

»Ich kenne da aber jemanden, der angeblich schon mal dort war«, sagte er aufgeregt.

»Am Grand Canyon?«, fragte ich sprachlos und mein Herz schlug Stakkato.

Er blinzelte leicht irritiert.

Ein kurzer Seitenblick verriet mir, dass, der Kälte zum Trotz, fast alle dem Thema nun ihre vollste Aufmerksamkeit gewidmet hatten, und das war schon mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte.

»Nein, nein, nicht am Grand Canyon«, sagte Phillip. »Wir sprachen doch von den Niagarafällen!«

Auch er erhob sich. Sein mahnender Blick wirkte ernüchternd auf mich, berührte jedoch einen Stachel, der sehr tief saß.

»Dieser Jemand«, fragte ich aufgewühlt. »Könnte er uns hinführen?«

»Zu den Niagarafällen? Die Reise würde Monate dauern! Außerdem«, so fuhr er etwas ernüchtert fort, »ist der Mann, von dem ich spreche, weit über neunzig, bettlägerig und halb blind. Leider, und das ist wohl das Schlimmste an der Sache, spielt ihm seit kurzem auch sein Gedächtnis ab und zu einen Streich. Wenn ich es mir jetzt so richtig überlege, denke ich, ich hätte ganz einfach meinen Mund halten sollen. Also lasst uns die Sache einfach vergessen und …«

»Und was?«, unterbrach ich ihn entrüstet. Nichts hielt mich mehr auf dem Strohballen, der meinem Hintern eh nur Frostbeulen bescherte. »Sollen wir warten, bis Paris aufwacht und händeringend nach unseren drittklassigen Aufführungen schreit? Sollen wir hier im Dilettantismus versinken, während in der Neuen Welt eine dicke Scheibe vom großen Kuchen auf uns wartet?«

Ich hatte meine Stimme erhoben und sah, wie sich die anderen neugierig näherten. Carmen stand hinter mir, und so konnte ich den entzückten Ausdruck in ihrem Gesicht nur erahnen. Es gab nun kein Zurück mehr. Euphorisch erklärte ich mich.

»Gut! Es müssen nicht gleich die Niagarafälle sein. Aber lasst uns zumindest Spektakel machen, großes Spektakel!«

Ich machte eine weit ausholende Geste, drehte mich langsam um die eigene Achse und blinzelte Carmen zu.

»Hier kennt uns niemand, warum wohl eurer Meinung nach?«

Keiner machte sich die Mühe mir zu antworten. Wie eine Herde Schafe, die es gewohnt war, dass man die Antworten auf Fragen gleich mitlieferte, glotzten sie mich nur abwartend an.

»Herrgott!«, entfuhr es meinen Lippen. Ich war mir dabei der Theatralik des Augenblicks nur allzu sehr bewusst. »Weil es hier Künstlertrupps, wie wir es sind, zu Hunderten gibt. Das Podium ist platt, übersättigt, gelangweilt. Dort aber …«

Ich deutete mit dem Zeigefinger auf die gegenüberliegende nackte Wand, was Sinn machte, denn dort war Westen. »Dort drüben bauen sie neue Städte. Große Städte, und die Männer und Frauen dieser Städte heischen im Stillen nach Abwechslung. In den vorgeschobenen Forts langweilen sich Soldaten zu Tode. Soldaten, Büffeljäger und Trapper verbringen ihre Tage mit Saufen und …«

Kurzatmig hielt ich inne und sah kurz zu Carmen hinüber, bevor ich hitzig fortfuhr.

»Nun ja … Mit Saufen und mit dem nackten Fleisch irgendwelcher Squaws. Nur allzu gern würden sie die Hälfte ihrer Ersparnisse für eine etwas zivilisiertere Zerstreuung ausgeben. Oder stellt euch nur die Goldgräber vor, die unsere Vorstellungen sicherlich mit Goldstaub oder Nuggets bezahlen könnten, oder die Eisenbahnarbeiter, die sich gegenseitig die Köpfe einschlagen würden, nur um Marys und Jo Anns Cancan-Künste zu bewundern, und ...«

»Ärsche!«, fiel Paul mir laut ins Wort. »Marys und Jo Anns Arsch wollen sie bewundern, weil’s zur Abwechslung mal weiße Ärsche sind und keine braunen der Squaws.« Er lachte.

Carmen wurde wieder rot, doch Paul legte noch einen drauf.

»Es heißt ja, dass Indianersquaws nicht so katholisch sind wie unsere prüden Bräute hier in Europa. Ich könnte mir sogar vorstellen ...«

Mein scharfer Blick ließ ihn augenblicklich verstummen. Innerlich triumphierte ich, denn als ich wieder das Wort übernahm, klebten alle Blicke förmlich an meinen Lippen. Meine Idee hatte alle in ihren Bann gezogen. In allen Augen sah ich mehr als nur ein interessiertes Funkeln. Ich sah endlich Hoffnung!

Kenneth, die stumpfen Wurfmesser in der Hand, schob sich in den Vordergrund.

»Und woher weißt du das alles?«

»Ja«, fragte nun auch Phillip. »Woher weißt du das?«

»Woher, woher!«, äffte ich sie nach. »Könnt ihr denn nicht lesen? Die Zeitungen sind voll davon, New York, New Orleans, Baltimore. Jeden Monat laufen Schiffe aus. Sie fahren in die Neue Welt, kommen zurück mit Menschen an Bord, die drüben waren. Und die davon erzählen ...!«

»Ja. Menschen, die zurückkamen und erzählen, dass sie’s nicht geschafft haben!«, warf Phillip erzürnt ein. Er kam mir vor wie jemand, der sogar mitten im Hochsommer beim kleinsten Problem kalte Füße bekam. Sein Mangel an Abenteuerlust, an Mut und an Vertrauen missfiel mir immer mehr. War das der Phillip, den ich vor Tagen noch auf dem Hochseil bei einer waghalsigen Nummer und ohne Netz und doppelten Boden gesehen hatte?

Mir platzte endgültig der Kragen.

»Falls ich jedes Mal, wenn ich Angst habe etwas nicht zu schaffen, gleich die Flinte ins Korn werfe, dann sollte ich den Beruf wechseln. Angst lähmt, Angst ist der schlimmste Feind von Zuversicht, Angst hat noch nie dazu beigetragen, irgendwo eine bessere Welt zu schaffen!«

Ich schrie es fast, worauf alle entsetzt zurückwichen. Ich musste wohl ausgesehen haben wie der Teufel in Person, doch ich sprach aus Überzeugung.

Die Verwirrung dauerte nur einige Sekunden.

»Und was ist mit den Niagarafällen?«, erkundigte sich Kenneth.

»Das ist ein Gerücht, Ken«, erwiderte ich aus dem Bauch heraus, denn ich wusste die Antwort nicht. »Wer sollte schon so etwas Unsinniges gewagt haben wie die Niagarafälle zu überqueren? Niemand!«

Ich hielt den Atem an.

»Bis jetzt zumindest. Aber ich werde es tun. Wenn wir erst einmal berühmt sind, dann …«

»Blondin!«, sagte plötzlich eine laute Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um und sah verwundert, aber auch etwas verärgert in Carmens haselnussbraune Augen.

»Blondin?«

Sie nickte, strich sich dabei eine rebellische Strähne aus dem Gesicht. Eine Geste, die ich nur allzu gut kannte. In diesem Augenblick wäre ich für sie sogar die Niagarafälle runtergesprungen, nackt mit einer Feder im Arsch, wenn sie es verlangt hätte!

»Charles«, sagte sie. »Charles Blondin. Er hat die Niagarafälle vor sechs Monaten überquert und das mehrere Male, soviel ich weiß!«

»Und woher weißt du das?«, fragte Phillip neugierig.

Carmen wurde rot. »Er … Er hat es mir gesagt!«

Nun war es heraus. Er hatte es ihr gesagt. Er, den ich gar nicht kannte, hatte sich nicht damit begnügt, mir meine Idee zu stehlen. Nein! Er hatte sogar die Dreistigkeit besessen in feindliches Gebiet vorzudringen, und das war Carmen allemal. Carmen, so dachte ich naiverweise, war mein Territorium, vermessen und abgesteckt in meinen kühnsten Gedanken. Doch was für ein Narr ich war! Hatte ich wirklich ernsthaft geglaubt, sie könnte mir allein gehören?

Dies alles ging mir im Bruchteil einer Sekunde durch den Sinn.

Mein Herz krampfte sich vor Enttäuschung zusammen. Alles Blut wich aus meinem Kopf, was dazu beitrug, dass ich keinen einzigen vernünftigen Gedanken mehr fassen konnte. Es schien, als konnten alle in diesem Augenblick meine Gedanken lesen, meine Angst und meine Enttäuschung riechen.

»Charles ist mein Cousin!«

»Und er hat die Niagarafälle überquert?«, hörte ich Kenneth wie von weitem fragen.

Carmen nickte. »Als Erster!«

Wieder stach ein Dolch in meine Eingeweide, aber meine Gedanken waren nun plötzlich klar, mein Angstschweiß getrocknet. Wie ein wütender Stier suchte ich nach der nächsten Herausforderung. In meiner Verzweiflung wandte ich mich an Phillip.

»Weiß dein Freund auch, wie wir zum Grand Canyon kommen?« Und mit einem mahnenden Blick auf Carmen: »Oder war dein geliebter Cousin dort etwa auch schon?«

Noch am selben Tag besuchten wir den unbekannten Alten, von dem Phillip gesprochen hatte. Er wohnte in einer Seitenstraße des Boulevard du Montparnasse und tatsächlich, der Mann schien sich auszukennen. Er erzählte uns von Landstrichen beiderseits zweier großer Flüsse, die er Mississippi und Missouri nannte. Während er erzählte, waren seine von einer mysteriösen Krankheit fast erblindeten Augen auf das halb geöffnete Fenster gerichtet. Sie erschienen mal trübe und matt, funkelten eine Weile später jedoch schon wieder wie glühende Kohlen. Wir selbst waren entzückt. Er sprach von satten grünen Wiesen, von Antilopenherden, welche die Ufer der Flüsse so zahlreich säumten, dass man ihre Zahl nur schätzen konnte, von endlosen Büffelherden, von friedlichen schwarzen Bären und von Wölfen, die in ganzen Rudeln auftauchten. Und er erzählte lebhaft von den Goldfunden und von den Menschen, die nach diesem Gold schürften. Obwohl er die Worte Milch und Honig nicht erwähnte, kam es uns genauso vor ... ein Land, in dem Milch und Honig floss! Was dieser Alte uns erzählte, sprengte bei weitem den Rahmen unserer Vorstellungskraft. Selbst den größten Gefahren, die von den Einheimischen, er nannte sie Indianer, ausgingen, gewann er nur eine gewisse träumerische, romantische Seite ab, und wir sahen das ebenso. Weshalb auch sollten die Indianer uns etwas anhaben wollen, würden wir doch nichts anderes verlangen, als dass sie uns in Ruhe ließen?

Als wir dem Boulevard du Montparnasse den Rücken zukehrten, hatten wir den Grand Canyon längst aus unserem Gedächtnis gestrichen. Unser tatsächliches Ziel war nun dieses geheimnisvolle Land nordwestlich einer Ortschaft Namens Fort Benton am oberen Missouri. Ein Land, und davon waren wir überzeugt, das Zukunft hatte. Wir handelten rasch. Zunächst warfen wir all unsere Ersparnisse in einen Topf. Das Ergebnis? Umgerechnet etwas mehr als siebentausend Dollar! Das war zu der Zeit eine beträchtliche Summe. Dazu kam eine Handvoll Edelsteine. Ich glaube sogar, es handelte sich dabei um Diamanten. Meine Mutter, Gott sei ihrer armen Seele gnädig, hatte sie mir am Tag, bevor sie starb, anvertraut. Ein silberner Armreif, den sie jahrzehntelang getragen hatte, vervollständigte meinen Reichtum. Die Einzige, die davon wusste, war Carmen; und so sollte es auch bleiben. Die wenigen Habseligkeiten, die wir besaßen, reduzierten wir auf ein striktes Minimum, drei große Kisten alles in allem. An einem grauen Morgen, als Paris noch schlief, stiegen wir in eine Kutsche. Unser Ziel war Toulon, wo wir hofften, sobald als möglich ein Schiff zu finden, das uns in die Neue Welt bringen sollte.

Dog Soldiers

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