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1.2 Weicht die Pädagogik Wertfragen aus?

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Bildung und Wertfragen

Mit Blick auf Wertfragen besteht in der Pädagogik eine große Verunsicherung, die auf die Schule abfärbt. Um Werte geht es erstens bei der Frage nach dem angemessenen Maß von Freiheit und Disziplin, von Lust und Frust, das Schülern zuzumuten ist. Um Werte geht es zweitens bei der Diskussion darüber, welcher Umgang mit Werten im Unterricht angebracht ist. Kann man Schülern Werte vermitteln? Darf man das überhaupt? Um Wertfragen geht es drittens in der Debatte über Bildungsziele und generell bei der Festlegung von Lernzielen. Das erste Thema ist auf den vorangehenden Seiten schon zur Sprache gekommen. Im Folgenden geht es vor allem um den zweiten und dritten Fragenkreis.

Grenzen ohne Freiheit – Freiheit ohne Grenzen

Zwei der häufigsten Vorwürfe an schulischen Unterricht sind einander diametral entgegengesetzt. Die Kritik der Antipädagogen lautete, in der Schule dominiere ein autoritärer Stil, Kinder würden unterdrückt und indoktriniert. Die Gegenkritik lautet, Schule verfahre im Gegenteil zuwenig autoritär, sie erziehe Kinder eigentlich gar nicht, sondern lasse sie an Gummiwände rennen (BUEB 2008). Der Kritik am Setzen von „Grenzen ohne Freiheit“ steht die Kritik an einer Erziehung der „Freiheit ohne Grenzen“ gegenüber. Dem Mittelweg entspricht ein Erziehungskonzept der „Freiheit in Grenzen“ (SCHNEEWIND/BÖHMERT 2008, 2009). Dieser Mittelweg darf sich nicht darauf beschränken, lediglich die Extreme zu vermeiden, sonst orientiert er sich ex negativo an ihnen. Der Mittelweg ist denn auch kein Kompromiss, sondern verfolgt eine Linie – die Erziehung zur Autonomie, zur Selbstbestimmung, durch Pflege der Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern und durch eine dialogische Haltung.

Was den Umgang mit Werten im Klassenzimmer betrifft, lassen sich wiederum drei Positionen unterscheiden: eine dogmatische, eine relativistische und ein Mittelweg (CORTINA 2005, S. 88). Einerseits will man Indoktrination vermeiden – eine solche hat es in der deutschen Vergangenheit oft genug gegeben. Beim Versuch, Jugendlichen ein Verbot rassistischer Äußerungen oder ein Mobbing-Verbot nahezubringen, geht zudem der Schuss leicht nach hinten los: Einsicht in Werte lässt sich ebenso wenig befehlen wie Spontaneität. Andererseits kann man Kindern und Jugendlichen nicht jedes Verhalten durchgehen lassen. Wenn ein Schüler mit einer Waffe oder mit Drogen zur Schule kommt, wenn er einen Kameraden zusammenschlägt oder eine Lehrkraft grob beleidigt, darf man das unter keinen Umständen tolerieren. Die Devise des „Anything goes“ ist Gift für jede Pädagogik.

Rekurs auf Common Sense und Zeitgeist

Ruft man aber Schüler zur Ordnung oder sanktioniert sie, so muss man ihnen die Gründe dafür transparent machen, und das geht nicht ohne Bezugnahme auf Werte. Die Reflexion über Werte ist also nicht zu umgehen. Es mag naheliegend erscheinen, sich dabei im Wesentlichen „auf kollektiv gebilligte Werte“ zu konzentrieren, wie es etwa Giesecke in einer späten Publikation tut (GIESECKE 2005, S. 42). Eine andere Möglichkeit wäre, Werte nach sozialen Gruppierungen oder Organisationen zu differenzieren. Die Schule kann, wie die Familie, Kirche, Pfadfinder, Jugendgruppen usw., als ein „sozialer Ort“ unter mehreren, mit einem eigenen Ensemble an Werten und Regeln betrachtet werden. Lehrkräfte sollen sich deshalb nur auf diejenigen Werte und Regeln beziehen, die am „sozialen Ort“ Schule gefragt sind (ebd. S. 39, S. 201). Sie sollten beispielsweise mit den Schülerinnen und Schülern die Regeln aushandeln, die die schulische Arbeit begleiten. Dies entspreche dem Zeitgeist. Wegen des hohen Zeitaufwandes möge man diese Methode aber auf besondere Situationen beschränken. Basis schulischer Wertbezüge sind nach diesem Konzept also Common Sense und Zeitgeist.

Schule und Wertepluralismus

In einer pluralistischen Gesellschaft kann diese Option aber nicht befriedigen. In den meisten Klassen sitzen Schüler, deren Eltern aus unterschiedlichen Ländern eingewandert sind und eine eigene „Kultur“ mitgebracht haben. Einen Konsens kann man hier nur in sehr allgemeinen und grundsätzlichen Fragen erwarten. Die einen verbieten z.B. die Strafe in Form einer verbalen Erniedrigung, die anderen verbieten den Klaps auf die Hand. Ein dichter Wertekonsens lässt sich höchstens in kleinen Gruppen erwarten. In größeren Gruppen hat man es gewöhnlich mit einem Meinungspluralismus zu tun. Dieser ist für Giesecke aber kein möglicher Ausgangspunkt für eine pädagogische Wertevermittlung (ebd. S. 25). Dabei begünstigt gerade der Pluralismus die Entdeckung des Werts der Toleranz.

Kritik an der Konsensorientierung

Die Orientierung am Konsens, am Common Sense und Zeitgeist ist noch aus einem tiefer liegenden Grund problematisch: Wie die Mehrheitsentscheidung, ist auch der Konsens irrtumsanfällig. Man muss in der Geschichte nicht weit zurückgehen, um auf Beispiele zu stoßen, die dies belegen. Schließt man sich einfach der Mehrheitsmeinung oder dem, was gerade Konsens ist, an, so entscheidet man unter Konformitätsdruck, nicht auf Basis guter Argumente: Man unterwirft sich der herrschenden Meinung, der „normativen Kraft des Faktischen“.

Kritik am Relativismus

Mit dem Hinweis, für eine bestimmte Ansicht gebe es zu wenig Unterstützer, kann man abweichende Stimmen und mit der Berufung auf einen Konsens Gegner zum Schweigen bringen. In beiden Fällen zwingt man Andersdenkende zur Anpassung. Der Rekurs auf einen Konsens oder ein Mehrheitsvotum wird dann zur autoritären Geste. Die Mehrheit kann ein Interesse daran haben, dass die Minderheit ihre Meinung nicht artikuliert. Was hindert eine Gesellschaft dann daran, „diesen Anspruch auch mit autoritären Mitteln durchzusetzen? Es braucht nicht viel Fantasie, um sich politische Situationen vorzustellen, in denen für Notstandsgesetze‘ schnell ein entsprechender Konsens gefunden werden könnte“ (STEINHERR 2013, S. 426).

In gewissen Situationen kann die Orientierung am Konsens ins Gegenteil umschlagen. Wer ernst nimmt, dass unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen unterschiedliche Wertvorstellungen haben, gelangt leicht zur relativistischen Konsequenz, man solle jeder Gruppe unbesehen ihre Werte zugestehen, selbst wenn diese mit den Menschenrechten kollidieren. Ebenso leicht schlägt der Relativismus in Dogmatismus um: Eine Lehrkraft, die sich zur Auffassung bekennt, die Vielfalt von Regel- und Wertesystemen sei eine Bereicherung, kann sich in einem Konflikt trotzdem dazu hinreißen lassen, den Eltern eines Kindes mit Migrationshintergrund zu erklären, „hierzulande“ gälten eben die und die Regeln, daran hätten sich alle zu halten, auch Zuwanderer. Autoritären und relativistischen Einstellungen ist eine dialogische Haltung überlegen, die sich darum bemüht, der Gegenseite den Sinn der bestehenden Regeln zu erklären und ihr unterstellt, dass auch sie aus ihrer Sicht das Beste will – für ihr Kind und für die Klassen- und Schulgemeinschaft. Der Dialog, der Diskurs, die Konsenssuche gehören zu den Grundlagen einer Pädagogik, die die Schüler zur Selbstbestimmung, zur Autonomie führen will, einfach deshalb, weil man seine Überzeugung nur im Dialog bzw. Diskurs begründen kann: Die Kritik an Gewalt, Grobheit und allen Formen der Diskriminierung setzt deshalb Offenheit für den Diskurs über Wertfragen voraus (STEINHERR 2013; vgl. Kap. 5.3.1).

Humanitäteine Fiktion?

Dennoch gibt es Stimmen, die das Bemühen um Humanität in eben diesem Sinn als autoritär brandmarken. Dieter Lenzen bezeichnet sie als „Fiktion“ und empfiehlt, Pädagogik solle es vermeiden, sich an dieser „Fiktion“ zu orientieren. Jede Ausrichtung an einem Ideal, auch an Humanität und Menschenwürde, schließe andere Ideale aus, und dies laufe auf Indoktrination hinaus, denn Indoktrination bestehe nicht in dem, was man Schülern lehre, sondern in dem, was man ihnen vorenthalte: „Verschweigen ist Indoktrination“ (LENZEN 1997, S. 952, nach STEINHERR 2013, S. 431).

Natürlich kann es nicht darum gehen, Humanität und Menschenwürde missionarisch zu vertreten. Das wäre schon deswegen unangebracht, weil der Humanismus just zu der Zeit in Blüte stand, als die europäischen Konquistadoren die indigene Bevölkerung Amerikas abschlachtete, so wie später die Einführung des demokratischen Liberalismus mit Kolonialismus und Sklaverei synchron ging. Zu den Idealen von Humanismus und Aufklärung zählt aber die Selbstbestimmung, weshalb die Aufklärer repressive Praktiken stets kritisiert haben. Verbannt man, was zum besten Erbe der Aufklärung gehört, aus der Pädagogik, so zeigt man sich nicht so sehr tolerant und offen als vielmehr indifferent: Man fördert eine Tendenz zum Wegblicken, auch dort, wo man einschreiten müsste.

Dogmatismus und Relativismus sind nicht als solche inhuman. Der Dogmatiker greift aber womöglich zu inhumanen Methoden, um seine Ziele durchzusetzen. Der Relativist möchte es allen recht machen und verwickelt sich dabei in den Widerspruch, auch rassistische und inhumane Standpunkte einschließlich solcher, die ihn selbst bekämpfen, akzeptieren zu müssen. Die „Frage, ob Werte und Normen relativ oder allgemein gültig sind, ist keine theoretische Spitzfindigkeit, sondern hat (…) Konsequenzen für die Erziehungspraxis“ (STEINHERR 2013, S. 430).

Selbstbestimmung als zentraler Wert

Läuft das Festhalten an allgemeingültigen Werten nicht doch letztlich auf einen Selbstbetrug hinaus? Auf diese Frage wird in Kapitel 5.5 näher eingegangen. Hier soll nur ein thematisch besonders naheliegendes Beispiel diskutiert werden: Repräsentiert Autonomie einen allgemeinen Wert, einen Wert für alle Menschen? Versteht man Autonomie als wesentliches Ziel der Aufklärung – des „Ausgangs des Menschen aus seiner (…) Unmündigkeit“ (KANT, WiA S. 53), so schließt sie zweierlei ein, erstens die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, zum Selber-Denken, und zweitens die Fähigkeit, sich im Dialog, im Diskurs, in der Kooperation auf den Standpunkt des anderen zu stellen, also die Fähigkeit, den eigenen Standpunkt zu relativieren, beziehungsweise den Egozentrismus wenigstens in seinen elementarsten Formen zu überwinden. Piaget bezeichnete diese Fähigkeit als „Dezentrierung“ (vgl. 7.1).

Man kann die These, Autonomie sei allgemein wertvoll, nicht bestreiten, ohne in einen Diskurs einzutreten und sich auf eine Argumentation einzulassen. Argumentieren verlangt erstens gedankliche Beweglichkeit, also Denken, und zweitens die Bereitschaft, den Standpunkt, den man widerlegen möchte, vorher zu prüfen. Das bedeutet, der Argumentierende lockert die Fixierung auf seine eigene Perspektive mindestens für die Dauer des Gesprächs. Den Wert von Selbstbestimmung, Denkfähigkeit und Überwindung seines Egozentrismus kann also nur bestreiten, wer bereit ist, selber zu denken und seinen Egozentrismus zu überwinden. Damit gerät er in einen Widerspruch.

Kritiker mögen einwenden: Daraus folgt nicht, dass Autonomie und Selbstbestimmung einen für alle Menschen verbindlichen Wert repräsentieren. Tatsächlich existieren auch rein instrumentelle Bildungskonzepte, die Bildung nicht als Selbstzweck begreifen. Das führt uns zum nächsten, dem dritten Kritikpunkt am Schulwesen.

Ethik und Erziehung

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