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1.4 Ist Chancengleichheit realisierbar?

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Die Kritik lautet: Mit dem Bildungswesen verbindet sich zwar der Anspruch der Chancengleichheit, doch diesen Anspruch erfüllt es nicht. Chancengleichheit – ausgerechnet der Wert, den die Schulen und ihre übergeordneten Behörden unisono verteidigen, bleibt ein leeres Versprechen. Das hat Ivan Illich schon vor vierzig Jahren kritisiert: „Anstatt (…) Gleichheit der Chancen zu schaffen, hat das Schulwesen deren Zuteilung monopolisiert.“ Soziale „Rollen werden zugeteilt, indem man ein Curriculum von Bedingungen festlegt, die der Bewerber erfüllen muss, wenn er aufsteigen soll.“ Der Schüler erwirbt neue Fertigkeiten oder Erkenntnisse; ob er aber befördert wird oder nicht, hängt von der Meinung ab, die sich andere über ihn bilden. Die Auswahl der Kandidaten für besser bezahlte Berufe hängt immer weniger von ihrer Leistung, dafür „immer mehr von der Länge des Schulbesuches ab“. Diese Effekte zusammen führen „zur Polarisierung einer Gesellschaft“ (ILLICH 1973, S. 24–27).

Bedeutung von Chancengleichheit

Was hat sich seit dieser Kritik geändert? – Vor allem dies, dass wir heute über mehr und detaillierteres empirisches Wissen und Zahlen verfügen. Illichs Thesen sind nach wie vor gültig. Winfried Kronig stellt fest: Bildungserfolg hängt nicht in erster Linie von der Leistung (Begabung und Anstrengung) ab, sondern von äußeren Faktoren, und zwar sowohl von natürlichen als auch von institutionellen (KRONIG 2007). Chancengleichheit bedeutet, dass soziale Ungleichheiten keinen Einfluss auf den Bildungserfolg haben dürfen. Es sollte insbesondere vermieden werden, dass sich soziale Benachteiligungen, die auf die Faktoren Natur und Zufall zurückgehen – auf Geburt, Elternhaus, soziale Schicht- und ethnische Zugehörigkeit –, durch gesellschaftliche Institutionen noch verschärfen. Genau dies geschieht aber faktisch im Bildungswesen – zwar nicht generell und flächendeckend, aber der Trend ist statistisch signifikant. Eine soziale Ordnung, die bestehende Benachteiligungen weiter zuspitzt, ist nach den Rawlsschen Gerechtigkeitskriterien vom Zustand der Gerechtigkeit weit entfernt (RAWLS 1971, S. 80, S. 98).

Unter aristokratischen Verhältnissen war für alle Menschen klar, dass die Söhne in die Fußstapfen ihrer Väter treten sollten, gleichgültig, ob sie Bauern, Handwerker, Ärzte oder Barone waren, während den Töchtern typisch weibliche Aufgaben vorbehalten blieben. Diese Ordnung ist ungerecht (ebd., S. 81) – den oberen Ständen werden Privilegien zugewiesen, die sie sich nicht verdient haben. Welche soziale Rangposition jemand erreicht, soll in modernen Gesellschaften einzig von seiner Leistung abhängen: Privilegien muss man sich erarbeiten. Das ist das Prinzip der Meritokratie. Gehobene Stellungen sind aber, gemessen mit den Begehrlichkeiten, die sie wecken, knappe Güter. Da der Zugang zu privilegierten Posten nicht mehr über Abstammung und Geburt geregelt wird, erfolgt die Zuteilung über den Wettbewerb. Menschen haben unterschiedliche Fähigkeiten, Interessen, Motive und einen unterschiedlich starken Durchhaltewillen; allein nach diesen Kriterien sollen sich die Gewinnchancen bemessen.

Damit der Wettbewerb einigermaßen zivilisiert abläuft und die Konkurrenten ihre Ansprüche nicht mit brachialen Mitteln austragen, muss er durch Regeln domestiziert werden, die für alle verbindlich sind. Dies gilt in der Konkurrenz um gehobene soziale Positionen genauso wie im Sport. Chancengleichheit ist dabei das wichtigste ethische Kriterium: Als Maßstab für den sozialen Aufstieg fungiert allein die Tüchtigkeit, und diese bemisst sich in der Regel an der schulischen Leistung.

Chancengleichheit bleibt unerfüllt

Wettbewerb und Chancengleichheit sind wie die zwei Seiten derselben Münze: Der Wettbewerb ist das institutionelle Arrangement, die Chancengleichheit definiert die legitimierende Norm. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus? Die „Bedingungen für den Erwerb eines Bildungstitels“ sind höchst ungleich, werden aber „als gleich angesehen“; „Leistung und Leistungsbewertung sind nicht kongruent“ (KRONIG 2007, S. 216), das Ergebnis der Leistungsmessung entsprechend verzerrt: „Die Abbildung der individuellen Leistung ist in sehr direkter Weise von den Klassenmitgliedern abhängig. Leistungsniveau und Leistungsstreuung der Schulklasse, der ein Schüler mehr oder minder zufällig zugeteilt ist, steuern seinen Notendurchschnitt“ (ebd. S. 219). „In leistungsschwächeren Klassen bekommt man bessere Noten“ (ebd. S. 194). „Außerhalb des Klassenzimmers verlieren Noten deshalb jegliches Maß an Reliabilität [Vergleichbarkeit]“ (ebd. S. 219). Für dieselbe Leistung in Mathematik kann ein Schüler in der einen Klasse Note 2 erhalten, in der anderen Note 4 (ebd. S. 219). Es kommen sogar Differenzen um bis zu drei vollen Notenpunkten vor (THIEL/VALTIN 2002, S. 73ff.). Umgekehrt verbergen sich „hinter gleichlautenden Abschlüssen (…) ganz unterschiedliche kognitive Kompetenzen“ (ALLMENDINGER 2012, S. 129).

Um diese Probleme abzumildern, wurde vorgeschlagen, zwischen „formativer“, d.h. den Lernprozess unterstützender, und „summativer“, d.h. das Lernergebnis festhaltender Beurteilung zu unterscheiden (VÖGELI-MANTOVANI 1999, S. 26ff.). Der Quervergleich bezieht sich auf die summative Beurteilung, die formative Beurteilung hingegen ist für die Rückmeldung an den Schüler wesentlich. Doch diese Differenzierung schafft die Schwierigkeit nicht aus der Welt: Die erwähnten Unscharfen in der Beurteilung beziehen sich alle auf das Lernergebnis, die summative Leistungserhebung.

Selbst im Unterricht sind die Erfolgschancen der Schüler ungleich. Die einen werden intensiver gefördert, die anderen weniger intensiv. Einzelne werden häufiger und stärker ermutigt, andere seltener. Schlechte Zensuren, negative Rückmeldungen, die Nichtzulassung zu einer Prüfung fügen „der Schülerin eine narzisstische Kränkung zu, die einen Leistungsabfall zur Folge haben kann“ (STRECKEISEN et al. 2007, S. 12). Sowohl bei der Leistungsbewertung als auch bei der Aneignung von Bildungsinhalten erfüllen unsere Schulen das Kriterium der Chancengleichheit also nicht: „In beiden Fällen wird das mit gesellschaftlicher Billigung aufgestellte (…) Leistungsprinzip außer Kraft gesetzt“ (KRONIG 2007, S. 216).

Schule ohne Selektion?

Fachleute fordern deshalb, das Selektionswesen in der Schule abzuschaffen (ALLMENDINGER 2013, S. 105; KRONIG 2007, S. 226). Dieser Vorschlag ist umso bedenkenswerter, als der Zusammenhang von schulischem Leistungsausweis und Berufskarriere durch die hohe Arbeitslosigkeit, die in manchen Ländern die Jugend, einschließlich junger Akademiker, überproportional trifft, ohnehin aufgeweicht worden ist.

Es wäre bereits eine Verbesserung, wenn die Lehrkräfte ihre Mitwirkung bei selektionswirksamen Prüfungen an eine schulexterne Instanz abträten. An deutschen Schulen ist es ursprünglich, im 18. und bis ins 19. Jahrhundert, auch so gewesen: Das Selektionswesen konzentrierte sich „zunächst auf die neuralgische Nahtstelle zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem“ (STRECKEISEN et al. 2007, S. 17). Bei der Abnahme des Abiturs ist noch heute eine außerschulische staatliche Behörde federführend, und der Begriff „Staatsexamen“ für bestimmte Professionen hat sich bis in die Gegenwart erhalten. Doch die meisten selektionswirksamen Prüfungen finden in den Schulen selber statt. Dies bedeutet zweierlei: Die Lehrkräfte, die eigentlich Advokaten ihrer Schüler sein sollten, geraten mit ihrer richterlichen Beurteilungspflicht in einen Rollenkonflikt und werden für die Schüler als Partner in einem Lernbündnis unglaubwürdig. Zudem wird der Wettbewerb in die Schule selbst hineinverlagert. Dadurch gerät alles, was mit Noten zu tun hat, in den Sog von Leistungsvergleich und Konkurrenzdenken. „Der gesamte schulische Alltag, jedes zustimmende Lächeln und jedes kritische Stirnrunzeln der Lehrperson stehen unter dem Stern der Selektion“ (ebd., S. 12).

Dadurch, dass bereits während der schulischen Ausbildung selektioniert wird, verliert das Kriterium der Chancengleichheit an Schärfe, und dies gleich in mehrfacher Hinsicht: Die Definition von Chancengleichheit sagt nichts darüber aus, welcher Anteil am Leistungserfolg dem Schüler und welcher dem Elternhaus zuzuschreiben ist. Manche Lehrkräfte neigen dazu, eine Erfolgsprognose eher vom Elternhaus als von den Eigenleistungen der Schülerin bzw. des Schülers abhängig zu machen – sehr zum Vorteil der Kinder aus privilegierten Milieus. Die Definition von Chancengleichheit lässt zudem offen, zu welchem Zeitpunkt die Leistungen der Schüler gemessen werden sollen. Je nachdem, wann in der Schullaufbahn dies geschieht, verschiebt sich die Selektion mehr nach vorne oder nach hinten. Je früher dieser Zeitpunkt liegt, desto schwerer haben es Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern.

Chancengleichheit in drei Varianten

Theoretisch gibt es drei Möglichkeiten, wie die Schule Chancengleichheit zu verwirklichen versuchen kann (KESSELRING 2012, S. 276ff.): Setzt man die Leistungserhebung und Selektion so früh wie möglich an, so kann man die am leistungsfähigsten erscheinenden Kinder schon in zartem Alter herausfiltern und sie dann in anspruchsvolleren Leistungsgruppen fördern. Dieses Vorgehen lässt sich mit dem Argument rechtfertigen, es nütze der Gesellschaft als ganzer, denn je früher man die „Zugpferdchen“ fördere, desto tüchtiger seien sie nachher. Setzt man Leistungserhebung und Selektion umgekehrt so spät wie möglich an, so lassen sich die schwachen Schülerinnen und Schüler entsprechend länger und intensiver fördern. Auch hier kann man mit dem Nutzen für die Gesellschaft argumentieren, denn je mehr Schülerinnen und Schüler im späteren Leben reüssieren, desto geringer ist die Zahl der Dropouts. Entsprechend sinken die Ausgaben für die Sozialhilfe und die Kriminalitätsbekämpfung. Man kann auch einen Mittelweg beschreiten und – zumindest im Sinne eines theoretischen Ideals – alle Schülerinnen und Schüler bis zum Schluss exakt gleich intensiv fördern, unabhängig davon, wie leistungsfähig sie sind. Bei dieser Option geht es einfach darum, die Investitionen – an Aufmerksamkeit, Zeit, Geld, Zuwendung usw. – genau gleich auf alle Schülerinnen und Schüler zu verteilen. Dieses Verfahren ist in seiner mathematischen Austariertheit natürlich pure Fiktion. Es veranschaulicht aber, was es bedeuten würde, den Wert strikter Neutralität in der Schulpraxis umzusetzen.

Leistungsmessung beeinflusst die Leistung

Die Realisierung von Chancengleichheit wird noch durch einen weiteren Faktor erschwert: Schülerleistungen lassen sich nicht in der gleichen Weise messen wie etwa die Fließgeschwindigkeit in einem Wasserlauf. Während sich bei einem Bach das Durchflussvolumen nicht dadurch verändert, dass man es misst, verbessern oder verschlechtern Schülerinnen und Schüler ihr Leistungsverhalten häufig gerade deswegen, weil sie getestet werden oder worden sind. Die Messung beeinflusst die Leistungen. Sie ermutigt und stimuliert die Schüler oder entmutigt und demotiviert sie. Es wäre ein Kurzschluss, aus dem Umstand, dass sich eine Leistungsvoraussage erfüllt, zu folgern, die Prognose sei eben richtig und exakt gewesen. Wahrscheinlicher ist, dass es sich überhaupt nicht um eine empirische Prognose gehandelt hat, sondern um eine „sich selbst erfüllende Prophezeiung“ (Robert Merton). Pädagogen sprechen in diesem Kontext auch von „Pygmalioneffekt“ (ROSENTHAL/JACOBSON 1968) oder „Ödipuseffekt“ (TAUBER 1997).

Persönliche Einstellung beeinflusst Leistungsmessung

Eine Lehrkraft kann ihre Schüler mit den Augen einer Mutter beurteilen, die ihrem Kind nur das Beste wünscht und ihm vielleicht mehr zutraut, als es im Augenblick leisten kann. Diese Haltung bezeichnet Fritz Oser (2001, S. 85) als „pädagogische Zumutung“. Eine Lehrkraft, die ihre Schüler so positiv wie möglich beurteilt, läuft jedoch Gefahr, ihre besten Schüler an eine höhere Schulform abtreten zu müssen und nur die schwächeren zu behalten. Wer will das schon? Nur wenige Lehrkräfte neigen zu dieser wohlwollenden Betrachtung der Schülerleistungen. Konsequenz:

Laut Jutta Allmendinger rutschten von 72.000 Schülerinnen und Schülern der siebten bis neunten Klasse, die im Schuljahr 2009/2010 die Schulform wechselten, „über die Hälfte, nämlich 51 Prozent, in eine niedrigere Schulform, die meisten vom Gymnasium in die Realschule. Den Sprung nach oben schafften lediglich zwölf Prozent. (…) Im Durchschnitt aller Bundesländer kommen auf jeden Aufstieg vier Abstiege, das Verhältnis liegt bei eins zu vier“ (ALLMENDINGER 2012, S. 98f.).

Immerhin sind die Zugänge zum Abitur vielfältiger geworden. Elf Prozent der Schülerinnen und Schüler schaffen ihr Abitur auf anderen Wegen als über das Gymnasium. „Zunehmend erreichen die Schüler auch hohe Abschlüsse außerhalb der allgemeinbildenden Schulen im beruflichen Schulsystem: Das ist wohl bisher das wichtigste Mittel, um die Fehlzuweisungen im gesamten Schulsystem auszugleichen“ (ebd. S. 101f.).

Dennoch ist der Trend eindeutig – auch außerhalb Deutschlands: In England etwa brechen dreißig Prozent der Schüler den Besuch der High School ab (ROBINSON 2013).

Es gibt mindestens drei Gründe, weshalb die Leistungsmessung bei Menschen nicht mit physikalischen Messungen vergleichbar ist:

(1) Menschen reflektieren auf ihre Leistungen; Messresultate, die ihnen zurückgemeldet werden, gehen in diese Reflexion ein.

(2) Bei Leistungstests befinden sich Schülerinnen und Schüler in Konkurrenz zueinander, darauf reflektieren sie ebenfalls, und das verstärkt den extrinsischen Erfolgsdruck oder im negativen Fall den Resignationseffekt.

(3) Prüfer und Prüfling stehen zueinander in einer menschlichen Beziehung. Emotionen, Interessen, wechselseitige Erwartungen prägen bewusst oder unbewusst diese Beziehung und können sowohl die Prüfungsleistung als auch die Leistungsbeurteilung beeinflussen. Diese ist entsprechend subjektiv.

Bildungsinstitutionen schaffen soziale Ungleichheit

Eine Diskussion über Werte wird dort unerlässlich, wo Entscheidungen über praktische Maßnahmen anstehen. Solche Maßnahmen setzen jedoch eine genaue Sachanalyse voraus. In Schulen und Schulklassen finden immer auch gruppendynamische und systemtheoretisch zu erklärende Prozesse statt, deren genaue Auswirkungen man erst zum Teil kennt. Konsens besteht heute aber über zwei Arten von Prozessen, die Ungleichheit produzieren: Einerseits entsteht „bei einheitlichem Zeitbudget und einheitlicher Lehrqualität für alle Schüler (…) eine Leistungsspreizung, die umso höher ausfällt, je besser es der Schule gelingt, die Kinder zu fördern“ (ALLMENDINGER 2012, S. 75). Dieser Effekt, der im Übrigen bei immerhin einem Drittel der Klassen nicht eintritt (KRONIG 2007, S. 221), ist nicht beabsichtigt, und es ist unklar, wie er sich vermeiden ließe. Andererseits bewirkt das Selektionswesen, dass ein Teil der Schüler zu den Gewinnern, ein anderer zu den Verlierern gehört. Ist auch dieser Effekt unbeabsichtigt? Unveränderbar ist er nicht! Kritische Stimmen interpretieren dies so: Der Zugang zu gesellschaftlichen Privilegien ist ungleich, also trifft es sich gut, dass die schulischen Abschlussqualifikationen ebenfalls ungleich sind. Schafften alle Schüler das Abitur, so wäre es, wie wenn sich im Theater alle von ihren Stühlen erhöben: Niemand sähe besser. Das Selektionswesen garantiert, dass die Verlierer sich ihre Benachteiligung selber zuschreiben (GRONEMEYER 1997).

Ethik und Erziehung

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