Читать книгу Ein Sommer in Nirgendwo - Thomas Plörer - Страница 5

Im Baumhaus

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Als Shawn nach Hause kam, saß Laurie in ihrer kleinen Küche am Tisch und spielte lustlos mit der Kordel des Vorhangs, der am Fenster hing. Im Backofen schmorte ein Braten vor sich hin, der das ganze Haus in einen abenteuerlich guten Geruch hüllte, und in einem Topf, der nur noch bei halber Hitze auf dem Herd stand, warteten die Kartoffeln darauf, die Dunkelheit hinter sich zu lassen, um auf einem Teller zu landen.

Er blieb im Türrahmen stehen.

„Du bist eine super Köchin, weißt du das eigentlich?“

„Warte nur mal, bis du es probiert hast. Das, was mein Vater kocht, riecht auch immer gut.“

Shawn zuckte mit den Schultern. „Bei dir bin ich mir sicher.“

Sie lächelte ihn an. „Ich mir bei dir auch.“

Ihre Blicke trafen sich und Laurie spürte, wie am ersten Tag ihres Kennenlernens, wie ihr Herz höherschlug. Er kam ganz durch die Tür, bückte sich zu ihr herunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie berührte ihn am Arm und streichelte ihn sanft.

„Wie war dein Tag?“

„Nichts Besonderes. Der Briefkasten der alten Mrs. Tekle ist in der Nacht schon wieder zerstört worden.“

„Schon wieder?“

„Ja. Sie sagt, sie hat in der Nacht ein Geräusch gehört, aber in der Dunkelheit nichts gesehen. Sie glaubt, dass es ihr Nachbar ist, aber es ist nicht so leicht, dem etwas nachzuweisen. Gründe dafür hätte er genug – und ich wäre der letzte Mensch, der ihn nicht verstehen würde. Die Frau ist verrückt, Laurie, einfach nur verrückt! Hat ihn bei Alf angeschwärzt, dass er angeblich in seinem Keller irgendwelche illegalen Dinge mit Alkohol macht.“

„Schnaps brennen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich. Weil sie in der Nacht ab und zu Licht in seinem Keller sieht und es so komisch riecht.“ Er stöhnte während er einen Blick in den Ofen warf und dann anerkennend das Gesicht verzog. „Als ob man auf der gegenüberliegenden Straßenseite riechen könnte, wenn jemand im Keller Schnaps brennt.“

„Geht ihr der Sache nach? Als verantwortungsvolle Polizisten solltet ihr das machen“, sagte Laurie ernst und erwiderte den genervten Blick von Shawn mit einem Lächeln. „Ich möchte nicht in einer Stadt leben, wo Verbrecher tun und lassen können was sie wollen, ohne dass ihnen die Staatsbediensteten auf die Finger klopfen!“

„Mhm.“

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und streckte sich. „Vielleicht unterstütz ich euch in den nächsten Wochen ein bisschen. Ich werd dafür ‘ne ganze Menge Zeit haben.“

„Du könntest uns unterstützen indem du hin und wieder einen Kuchen im Revier vorbeibringst.“

„Damit ihr faul und fett werdet?“ Sie überlegte kurz. „Nein. Aber ich kann euch jeden Tag einen Apfel und eine Birne bringen.“

„Hauptsache ich kann dich sehen.“

„Du Schleimer!“

Er lächelte. „Aber jetzt würde ich töten für ein bisschen Essen. Wie steht es mit dem Ding da im Ofen?“

„Mit diesem Ding meinst du sicher meinen weltberühmten Krustenbraten. Wie sieht er denn für dich aus?“

„Fertig?“

„Ist das jetzt eine Antwort?“

„Bin ich der Koch? Er ist außen knusprig. Was weiß ich, ob der innen noch roh ist – ist mir im Moment aber auch egal. Zur Not würde ich ihn gefroren essen und dann lutschen.“

„So hungrig, mein müder Krieger?“

„In einem Comic hätte ich jetzt ein Loch im Magen.“

Er malte mit seinen Händen die Form eines Kreises vor einem Bauch und setzte einen traurigen Blick auf.

„Na dann“, stöhnte Laurie und stand auf, gab ihm einen Kuss auf die Wange und machte sich daran, den Tisch einzudecken. Jetzt war es Shawn, der sich hinsetzte. Am Anfang ihrer Beziehung hatte er ihr noch beim Tischdecken geholfen, aber nachdem sie immer was auszusetzen gehabt hatte, hatte er es aufgegeben und kümmerte sich seitdem lieber um den Abwasch. Damit konnten sich beide gut arrangieren.

„Wie war dein Tag?“

„So lala. Einerseits bin ich froh, jetzt ein paar Wochen meine Ruhe zu haben, aber andererseits werden mir manche von den Kleinen schon ganz schön fehlen.“

„Alle zufrieden gemacht mit ihren Zeugnissen?“

„Über dem Durchschnitt. Hab ich dir doch erzählt.“

„Und keine Ausreißer?“

„Nö.“

„Du bist eine gute Lehrerin.“

Sie lächelte ihn schelmisch an. „Ja, ich weiß.“

Nach dem Essen blieb Laurie in der Küche sitzen und trank ein Glas Rotwein, während Shawn an der Spüle stand und leise vor sich hin pfiff während er das Geschirr zunächst spülte, dann abtrocknete und zu guter Letzt wegräumte.

„Kannst du mir einen Gefallen tun, wenn du morgen wieder auf dem Revier bist?“

Shawn drehte sich um und trocknete sich gerade seine Hände ab. Er zog die Augenbrauen in die Höhe.

„Jeden Gefallen den du dir wünscht. Wieso?“

Er sah Lauries nachdenklichen Blick, den sie sonst nur aufsetzte, wenn ihr wirklich etwas auf dem Herzen lag und sehr beschäftigte. Mit einer eleganten Bewegung schmiss er das Küchentuch aufs Fensterbrett und schnappte sich dann einen Stuhl, um sich ihr gegenüber zu setzen. Dann hätte er gerne etwas gesagt, aber im Laufe der Jahre hatte er gelernt, wann es besser war, wenn man schwieg, und so saß er einfach nur da, schaute ihr tief in die Augen und wartete ab. Egal, was es war: es musste von ihr kommen.

Laurie überlegte, wie sie es formulieren sollte. Sie spielte einige Szenarien in ihrem Kopf durch und entschied sich dann, die Sache so einfach wie möglich anzugehen.

„Wenn ich dir den Namen eines Kindes sage, dann könntest du doch sicher etwas über seine Eltern herausfinden, richtig?“

„Über welches Kind?“

Sie verzog das Gesicht. „Versprichst du mir, dass du nur unauffällig ein paar Informationen einholst? Vielleicht ist es nämlich überhaupt nichts und ich möchte nicht, dass irgendjemand Wind davon bekommt.“

„Wenn du das möchtest.“

Sie nickte und holte tief Luft.

„Der Name des Kindes ist Beverly Marks.“

„Und was ist mit dieser Beverly?“

„Nichts … Naja, vielleicht doch, aber das weiß ich noch nicht. Ich möchte nicht, dass du da mit irgendwelchen Vorurteilen rangehst.“

„Du traust mir also nicht zu, professionell zu sein? Laurie, das ist mit Job! Ich bin Profi genug, das kannst du mir schon glauben.“

„Jaja, das weiß ich. Und trotzdem …“

Sie brach ab und legte ihre Hand auf seine.

„Bitte.“

Ihre Blicke trafen sich. Shawn konnte sehr gut in ihren Augen lesen und war sich sicher, dass er mehr aus ihr herausbekommen hätte können, doch dann beließ er es dabei und nickte.

„Klar.“ Er zog einen Notizblock und einen Stift aus seiner Tasche. „Marks?“

„Ja. Danke mein Schatz.“

„Der Name kommt hier in der Gegend vielleicht häufiger vor. Hast du noch mehr Anhaltspunkte?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ihre Eltern waren noch nie bei einem Elternabend oder einer Veranstaltung dabei – zumindest wären sie mir nie aufgefallen. Meine Schülerin heißt Beverly und ist 13 Jahre alt. Das schränkt den Kreis der Möglichkeiten vielleicht weit genug ein?“

Shawn notierte sich auch den Vornamen und nickte schließlich, als er den Block wieder verschwinden ließ. „Damit kann ich arbeiten. Soll ich nach etwas speziellem Ausschau halten?“

Laurie überlegte wieder kurz.

„Nein. Noch nicht.“

Beverly und Michael trafen sich an ihrem ersten Ferientag auf einem alten Spielplatz am Stadtrand. Michael hatte ihr vorgeschlagen, sie von Zuhause abzuholen, aber Beverly hatte das abgelehnt. Wenn sie ehrlich war, dann schämte sie sich ein bisschen dafür, wo und wie sie lebte. Klar – früher oder später würde er ihr Haus vielleicht sehen, und wenn er auf eigene Faust einmal vorbeikommen würde ohne es vorher mit ihr abzustimmen, aber im Moment war sie darum bemüht, es so weit wie möglich nach hinten zu schieben.

Der Spielplatz war vor gut zwanzig Jahren gebaut worden und damit lange vor ihrer oder Michaels Geburt. Seitdem hatte sich in der Stadt viel getan: Straßen waren gebaut worden, Häuser saniert und Parks und Grünflächen angelegt. Nun, dieser Spielplatz war dabei wohl vergessen worden, denn alles, was von ihm noch übrig war, war ein großes, rostiges Klettergerüst. Die anderen Geräte, überwiegend aus Holz, waren so heruntergekommen, dass man sie nicht mehr benutzen konnte. Überhaupt war der ganze Spielplatz eigentlich nicht mehr dafür geeignet, von Kindern zum Spielen benutzt zu werden. Davor warnte auch ein großes Schild an der verschlossenen Eingangstür, auf dem mit großen, roten Buchstaben „BETRETEN VERBOTEN“ geschrieben war. Irgendjemand hatte darunter ein paar unschöne Bemerkungen und Bilder gekritzelt, die Michael aufmerksam studiert hatte, als er angekommen war.

Beverly hatte Belle dabei (Hunde waren auf dem Spielplatz eigentlich auch verboten, aber nachdem er ja sowieso geschlossen war, kümmerte sich freilich niemand darum) und saß auf einer Sprosse auf dem Klettergerüst. Sie winkte Michael, als sie ihn durch den Zaun hindurch erkannte.

„Hallo Michael!“, rief sie. Belle legte den Kopf schräg und schaute aufmerksam zu dem Jungen hin. Sein Schwanz wedelte wild hin und her.

„Für Freunde bin ich Mike“, antwortete er.

Beverly lachte. „Komm rein, Mike!“

Mike schaute sich einmal um und griff dann nach dem Türgriff. Aber natürlich war abgesperrt. Verwirrt trat er wieder einen Schritt zurück.

„Aber da ist abgesperrt!“

„Natürlich ist da abgesperrt. Hast du denn das Schild nicht gelesen?“

„Und wie komme ich dann da rein? Muss ich da drüber klettern?“

Er schaute unbehaglich auf den gut drei Meter hohen Maschendrahtzaun, der sich um den Spielplatz zog. Ganz oben hatte jemand Stacheldraht angebracht, um zu verhindern, dass jemand auf die Idee kam, darüber zu klettern. Mike konnte sich sehr gut vorstellen, wie die Feuerwehr kommen musste, um seine Weichteile aus dem Stacheldraht zu schneiden und bekam eine Gänsehaut. Auch ohne den Stacheldraht hätte er daran gezweifelt, überhaupt drüber zu kommen. Wenn man es freundlich betrachtete, dann konnte man sagen, dass er nicht besonders gut in Form war.

„Da komm ich nicht drüber“, schloss er.

„Musst du auch nicht. Oder glaubst du, dass Belle da drüber geklettert ist?“

Er schüttelte den Kopf. „Wie dann?“

„Komm hierher“, rief sie und sprang vom Gerüst. Dann ging sie an einer zerfallenen Wippe vorbei, durch einen modrigen Sandkasten und zu einer Stelle, wo der Zaun mit einigen Büschen verwachsen war, die in den letzten Jahren einfach niemand mehr geschnitten hatte. Mike ging auch zu der Stelle.

„Schieb die Äste ein wenig zur Seite. Dahinter ist ein Loch im Zaun.“

„Wie hast du das gefunden?“, fragte Mike bewundernd und kroch durch. Er wäre fast stecken geblieben, aber irgendwie zwängte er sich dann doch durch. Mit ein paar Kratzern an den Armen, aber immerhin ohne Löcher in seinem Shirt oder seiner Hose.

Beverly lächelte. „Ich hab’s selbst reingemacht.“

„Und warum ausgerechnet hier?“, fragte Mike stirnrunzelnd und schaute sich um. Von innen wirkte der Spielplatz irgendwie gespenstisch und gefährlich. Von seinem früheren Charme war nicht mehr viel übriggeblieben, Kinder hatten hier sicher schon lange keine mehr gespielt und gelacht.

„Gefällt’s dir nicht?“

Er zuckte mit den Schultern. „Doch, ist ganz nett. Nur ein bisschen … verlassen.“

Unheimlich.

„Deswegen bin ich so gerne hier.“

„Wo genau ist „Hier“ eigentlich? Ich hätte fast nicht hergefunden.“

Sie lächelte ihn an.

„Nirgendwo.“

„Und wenn uns hier jemand sieht? Ein Erwachsener mein ich.“

„Was ist dann?“

Mike zuckte mit den Schultern. „Mein Dad hat mir beigebracht, dass man nicht einfach irgendwo hingehen darf, wo ein großes Schild mit der Aufschrift „BETRETEN VERBOTEN“ steht. Seine Ansichten mögen manchmal etwas spießig sein, aber irgendwie kann ich das dann doch nachvollziehen.“

„Es kommt keiner.“

„Woher weißt du das?“

„Mike, du bist ein Angsthase.“

„Bin ich gar nicht!“, widersprach Mike, dachte aber ehrlich darüber nach, ob er nicht doch einer war. Schließlich hatte er den ganzen Weg hierher über die Schulter geschaut, ob ihn die drei Typen von gestern nicht wieder verfolgten. Ein zweites Mal konnte und wollte er sich nicht retten lassen, schon gar nicht von einem Mädchen. Sollten sie ihn doch bewusstlos prügeln, ihm war es einerlei.

„Ich bin hier schon so oft gewesen und es hat sich nie jemand beschwert. Ab und zu bekommt man einen bösen Blick zugeworfen, aber die Menschen sind immer alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie sich groß um das kümmern, was sie nicht direkt betrifft.“

Wie um das zu bestätigen gab Belle ein lautes Bellen von sich. Mike zuckte zusammen.

„Du bist wirklich ein Angsthase, hm?“, fragte Beverly ihn lächelnd und bückte sich zu ihrem Hund, um ihn hinter dem Ohr zu streicheln. „Der tut keinem was. Wenn ich ehrlich bin, dann ist das der wahrscheinlich liebste Hund auf der ganzen Welt.“

„Ich hatte nur noch nie einen Hund“, gab Mike zu bedenken. „Deshalb weiß ich auch nicht, wie ich mich verhalten muss.“

„Streichle ihn doch einfach.“

Mike bückte sich ebenfalls und kraulte Belle hinter dem anderen Ohr.

„Siehst du: er mag dich.“

„Ja?“

„Gehen wir auf das Klettergerüst?“

„Sicher.“

Das Klettergerüst war ein wahres Monstrum und thronte in der Mitte des Spielplatzes wie eine Burg. Die Stangen und Stützen waren alle verrostet und färbten unschön ab, wenn man sie berührte, aber alles in allem machte es den Eindruck, als würde es auch noch in zwanzig Jahren so stehen können. Selbst das Netz, das zwischen den zwei großen Hauptelementen gespannt war, war ein feinmaschiges Geflecht aus Stahl und nicht wie üblich aus Tauen gemacht. Beverly kletterte geschickt darauf und ließ sich an einer Stelle nieder, wo das Netz an einem Haken befestigt war. Direkt daneben war eine Art Stufe, auf der sie sitzen konnte – es war sozusagen ihr Stammplatz.

Mike schaute ihr interessiert zu, wie sie das Gerüst erklomm und Beverly musste belustigt feststellen, dass es für Mike nicht ganz so einfach war wie für sie, die Sprossen und Stangen zu bezwingen. Er wirkte etwas ungeschickt und tollpatschig, aber als er es dann geschafft hatte und sich mit einem roten Kopf und laut schnaufend eine Stufe unter ihr niederließ, sah sie ein stolzes Flackern in seinen Augen. Als ob er ihn loben wollte gab ihr Hund unter ihnen ein leises Bellen von sich und legte sich dann hin.

„Gefällt es dir hier?“, fragte sie ihn.

Er ließ den Blick schweifen. Hier, etwa vier Meter über dem Boden, hatte man einen schönen Ausblick auf die umliegenden Felder und die nahen Häuser. Nur Menschen waren keine zu sehen, was sicher daran liegen konnte, dass es um diese Tageszeit wahnsinnig heiß war und viele es vorzogen, schwimmen zu gehen oder die Zeit im Kühlen zu verbringen.

„Es ist schön.“

Beverly nickte. „Ja.“

„Bist du oft alleine hier?“

„Nicht immer alleine, aber ich mag den Ort. Meistens ist Belle bei mir.“

„Hast du keine Geschwister?“

„Nein. Du?“

„Nein, ich bin Einzelkind.“ Mike wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von seiner roten Stirn. „Aber das ist cool.“

„Wieso?“, fragte Beverly interessiert. Sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als Geschwister zu haben. Am liebsten hätte sie eine ältere Schwester, die ihr half, die Haare schön zu flechten oder – später einmal – zeigte, wie man sich richtig schminkt.

„Meine Eltern arbeiten beide sehr viel. Aber wenn sie Zuhause sind, dann bin ich die Nummer eins.“

„Ganz schön eingebildet.“

„Gar nicht“, antwortete Mike empört. „Aber findest du es nicht auch schön, wenn du deine Eltern nicht mit jemandem teilen musst? Stell dir vor du hättest noch drei oder vier Geschwister – da muss man ja zu kurz kommen.“

Beverly zuckte mit den Schultern. „Es gibt immer zwei Seiten, von denen man das betrachten kann.“

Sie saßen schweigend einige Zeit da. Ein leichter Wind war aufgekommen und machte die sommerliche Hitze erträglicher. Über ihnen flogen die Wolken hinweg und zeichneten ihre Umrisse auf den Boden, so schnell, dass man sie gar nicht bewusst wahrnehmen konnte. Beverly stellte sich oft vor, wie es sei, wenn man auf den Wolken sitzen könnte, und die Welt und ihre Bewohner unter einem waren, ganz klein, und wo man einfach wegfliegen konnte, wenn man sich an einem Ort satt gesehen hatte. Weit weg über die Wälder und Felder, hinter die Berge und über die Meere, wo nur das Wasser war, über viele, viele Kilometer, und dann wieder zurück an Land, um vielleicht Regen zu bringen an Stellen der Erde, wo es fast nie regnete, und wo die Menschen dann auf die Straßen liefen und tanzten und jubelten, ohne …

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Mike plötzlich und Beverly schreckte aus ihren Gedanken hoch.

„Klar. Warum nicht?“, fragte sie ein wenig verlegen.

Mike zuckte mit den Schultern. „Du hast so seltsam geschaut.“

„Seltsam?“

„Traurig“, sagte er leise. „Darum habe ich gefragt.“

„Mir fehlt nichts!“, sagte sie und lächelte ihn an. „Der Tag ist viel zu schön als dass man traurig sein sollte, oder?“

„Also mir ist warm“, stöhnte Mike und wischte sich zum wiederholten Male den Schweiß von der Stirn. Beverly stellte bewundernd fest, dass Mike sich die größte Mühe gab, seine Schweißflecken und sein angestrengtes Atmen zu verbergen und musste ein Schmunzeln unterdrücken, weil sie das wirklich niedlich fand. Ihr war schnell aufgefallen, dass Mike etwas rundlich war. Nicht wirklich fett - vielleicht auch nur noch nicht – aber auch ganz und gar nicht in Form. Aber allein die Tatsache, dass er sich zuerst durch das schmale Loch im Zaun hindurchgezwängt hatte und schließlich ohne zu Zögern oder zu Meckern mit ihr auf das Klettergerüst gestiegen war, zeigte ihr, dass er sich in seinem Inneren noch nicht mit der Tatsache abgefunden hatte, nicht alles machen zu können. Vielleicht würde irgendwann einmal der Tag kommen, an dem er sich mit seinem Schicksal abfinden würde und aufhörte, solche Dinge zu tun, die ihn anstrengten und bei denen er sich schwerer tat als andere Menschen, aber dieser Tag musste noch nicht kommen. Vielleicht entschied er sich anders, unbewusst oder bewusst. Die Zeit würde es zeigen.

„Willst du schwimmen gehen?“

„Nein!“, antwortete Mike, eine Spur zu schnell und heftig, als dass es Beverly nicht aufgefallen wäre. „Ich kann … also ich meine, meine Badesachen … die sind noch …“, stotterte er weiter, aber Beverly unterbrach ihn.

„Heute ist sowieso kein guter Tag. Mein Dad kommt früher nach Hause und ich muss ihm noch etwas zu Essen machen. Wenn ich jetzt heimgehe und meine Sachen hole dann ist es schon fast Abend, bis wir am See sind.“

Das war natürlich gelogen, aber in diesem Falle war es Beverly lieber, zu einer kleinen Notlüge zu greifen, die keinem weh tat, als Mike in dieser peinlichen Situation zu lassen. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er sich in seiner Haut nicht wohl fühlte, vor allem dann nicht, wenn er keine weiten Sachen tragen konnte, die ihn vor den Blicken der anderen schützten.

Mike nickte. „Okay. Vielleicht ein anderes Mal.“ Wenn sich Dankbarkeit jemals auf einem Gesicht widergespiegelt hatte, dann in diesem Moment.

„Gerne.“ Sie schwiegen und ließen die Blicke in die Ferne schweifen.

Dann: „Wollen wir vielleicht runter an den Fluss gehen? Ich möchte dir gerne etwas zeigen.“

Ein wenig überrascht legte Beverly den Kopf schräg. „Klar. Was denn?“

„Wirst du schon sehen“, antwortete er lächelnd. „Wenn du das Klettergerüst magst, dann wird dir das auch gefallen.“

„Hast du das alles alleine gebaut?“

„Nein. Ein Großteil von dem Zeug war schon da oben, als ich es entdeckt habe. Aber einige der Bretter waren schon morsch und hätten mich nicht mehr getragen, also hab ich sie ersetzt und danach ein bisschen weitergemacht, wenn ich Zeit hatte. Es ist noch nicht fertig, aber für zwei Personen groß genug.“

Sie standen in der Nähe des Flussufers. Der Fluss floss an der Stadt vorbei, etwa eine halbe Meile, und flankierte später über viele weitere Meilen den Wald, ehe er in den nächsten, größeren Fluss mündete. Sie waren jetzt an einer Stelle, die gut zwei Meilen vor der Stadtgrenze lag und gar nicht allzu weit weg war von Beverly’s Haus. Belle schnüffelte am Baumstamm, entschied sich dann aber dagegen, das Bein zu heben.

Aber nicht der Fluss war das Interessante, wegen dem sie gekommen waren, sondern das, was Mike in einer großen Eiche, keine hundert Meter vom Flussufer entfernt, zunächst gefunden und dann ausgebaut hatte: ein Baumhaus.

Man musste direkt unter dem Baum stehen, um es zu erkennen, und selbst dann fiel es einem schwer, weil es in etwa fünf Metern Höhe gebaut war, in einer Gabelung des Stammes, und von einigen kleineren Ästen und Zweigen gut versteckt war. Es bestand aus einer Bodenplatte aus dunklem Holz, jedoch keinem Dach, um vor Regen geschützt zu sein. Es hatte auch keine Seitenwände, aber Beverly war sich ziemlich sicher, dass der nächste Bauabschnitt welche mit sich bringen würde.

„Wie hast du die Bretter da hochbekommen?“, fragte sie staunend, während sie langsam einmal um den dicken Stamm der Eiche herumging. Sie zweifelte nicht daran, dass sie hinauf klettern konnte, auch wenn ihr bei der Höhe im ersten Augenblick etwas flau im Magen wurde, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie sie dabei auch noch ein Brett tragen sollte. Wie Mike überhaupt hinauf kam war eine Frage, die sie brennend interessierte.

Mike lächelte. „Ein Zauberer verrät nie seine Tricks!“

„Du bist kein Zauberer, Mike! Sonst hättest du dich gestern auch alleine gegen diese Typen durchsetzen können. Hättest Flammen aus deinen Ärmeln schießen lassen oder so etwas in der Art.“

Mike senkte den Blick und errötete.

„Tut mir leid, das war gemein von mir.“

„Wohl wahr.“

Beverly seufzte. „Schmollst du jetzt?“

Am liebsten hätte sie das Gesagte ungeschehen gemacht und biss sich dafür selbst zur Strafe einmal auf die Zunge. Manchmal dachte sie einfach nicht nach, was sie sagte, und zu wem sie es sagte.

Er schaute sie traurig an, doch binnen weniger Sekunden konnte er ein Lächeln nicht mehr unterdrücken. „Nee, Schwamm drüber. Ich kann es mir nicht leisten auf alles und jeden immer gleich böse zu sein, nur weil man etwas Gemeines zu mir sagt. Dann hätte ich bald gar keinen mehr, mit dem ich meine Zeit verbringen kann.“

„Also, großer Magier: zeigst du mir jetzt, wie du die Bretter da hochbekommst?“

„Es wundert mich ein bisschen, dass du noch gar nicht gefragt hast, wie ich dort überhaupt hinaufkomme!“

„Du wirst klettern nehme ich an?“

Mike lachte laut auf. „Klar, ungefähr so geschickt wie ich das Klettergerüst hinaufgesprungen bin, oder?“

Beverly zuckte mit den Schultern.

„Nein“, meinte Mike und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. Beverly konnte nicht sehen, ob er da wirklich eine Träne hatte, oder ob er einfach nur so tat, um ihr zu zeigen, wie unendlich witzig sie doch war, verwarf den Gedanken dann aber wieder, weil es im Grunde genommen ja auch vollkommen egal war.

„Jetzt pass mal auf!“

Er ging ein paar Meter weiter in ein Gebüsch und verschwand, als sich die Äste hinter ihm wieder schlossen. Für Beverly schaute es so aus, als wäre er von einem Mund aus Pflanzen verschluckt worden. Einzig die Geräusche, die er von sich gab, zeugten noch von seiner Anwesenheit. Er brabbelte etwas vor sich hin, was Beverly aber nicht verstand. Auch Belle, der neben ihr im Gras lag, schaute ihm zunächst noch hinterher, entschied sich aber dann dafür, dass es interessanter war, wenn man einfach die Augen schloss und ein bisschen vor sich hindöste.

Als Mike zurückkam, hatte er einen ziemlich langen Ast in den Händen. Die Rinde war abgezogen worden und an der Spitze erkannte Beverly, als er näherkam, dass ein Haken hineingedreht worden war. Er war etwas größer als ein Angelhaken.

„Hast du den etwa versteckt?“

Mike schaute sie verblüfft an. „Natürlich! Wenn ihn jemand hier neben dem Baum stehen sieht, wäre es doch für jeden ein Leichtes, das zu tun, was ich jetzt vorhabe.“

Er stellte sich unter das Baumhaus und fing an, den Ast nach oben zu strecken. Er schwankte dabei, weil es für ihn offensichtlich schwierig war, das Gleichgewicht zu halten, während der große Ast hin und her schwang, aber Beverly merkte bald, dass er das nicht zum ersten Mal tat. Und so dauerte es nur wenige Augenblicke, bis der Haken auf Höhe des Baumhauses war und an etwas hängen blieb. Mike lächelte, zog einmal kräftig an, und in der nächsten Sekunde fiel eine irre Konstruktion aus Schnüren und Stöcken von oben herab.

„Eine Strickleiter?“, fragte Beverly verwundert.

„Klar.“

„Hast du die selbst gebaut?“

Mike nickte. „Das ist gar nicht so schwer, wenn man den Dreh mal raushat. Man muss nur aufpassen, dass man ein kräftiges Seil nimmt und die Knoten groß genug sind, damit die Sprossen nicht durchrutschen. Das kann nämlich ein Problem werden, wenn man in vier oder fünf Metern Höhe steht, weißt du?“

„Das ist … unglaublich!“, staunte Beverly. „Und ist sie sicher?“

„Sie trägt mich“, antwortete Mike schulterzuckend. „Und wenn sie mich trägt, dann trägt sich dich leicht, oder? Ich hab sie gleich gebaut, nachdem ich das Baumhaus hier entdeckt hatte. Hatte ziemliches Glück, weil es so gut versteckt war, aber ich dachte mir schon, dass hier irgendwo ein Baumhaus sein müsste. In der Stadt, wo ich früher gelebt habe, gab es auch immer welche, und dieser Baum schreit schon aus der Ferne danach, dass man ein Haus rein baut. “

„Wie bist du das erste Mal hochgekommen?“

„Was meinst du?“

Beverly runzelte die Stirn. „Naja, du hast die Leiter gebaut, nachdem du das Baumhaus entdeckt hattest. Du musst sie ja irgendwie dort hochbekommen haben, oder?“

Mike lächelte wieder. „Lass mir wenigstens dieses Geheimnis, hm?“

Sie musterte noch einmal den Baumstamm, dann wieder Mike, und nickte schließlich. Irgendwann würde er es ihr schon erzählen.

„Und wie wusstest du, dass niemand mehr hierher zurückkommt um weiter zu bauen? Du hast geraten, oder?“

„Teilweise. Von unten kann man nicht sehen, ob es in den letzten Monaten noch von jemand anderem betreten wurde, aber von oben kann man das schön beurteilen. Keine Spuren von menschlicher Zivilisation festzustellen.“ Er grinste und rüttelte dann auffordernd an der Leiter. „Sollen wir sie jetzt ausprobieren oder hast du Angst?“

„Angst? Es wäre mir eine Freude!“

Beverly stieg dennoch zögernd auf die erste Sprosse und war erschrocken darüber, wie sehr die Leiter hin und her schwang, als sie den zweiten Fuß dazu stellte. Sie lächelte nervös.

„Ist es dein erstes Mal auf einer Strickleiter?“, fragte Mike.

Sie nickte. Bislang war sie entweder auf Bäume geklettert oder hatte eine normale Leiter benutzt. Das wacklige Ding war ihr etwas unheimlich, aber das wollte sie sich nicht ansehen lassen.

„Es ist gar nicht so schwer. Pass auf.“

Mike stellte sich zu ihr und hielt beide Seiten der Leiter mit den Händen fest. Sofort hörte sie auf, sich zu drehen und Beverly fühlte sich ein ganzes Stück sicherer.

„Ich halte sie fest“, meinte Mike. „Wenn sie nicht so hin und her schwingt dann kommst du leichter rauf.“

„Und wenn ich oben bin?“, erkundigte sich Beverly mit einem fragenden Blick. Denn dort, wo die Leiter am Baum befestigt war, konnte sie nicht sehen, wie es weitergehen sollte. Da waren keine großen Äste, an denen man sich festhalten hätte können, bis auf den einen, an dem die Leiter selbst befestigt war. Und das würde bedeuten, dass man für einen kurzen Moment auf der Leiter stehen musste, ohne sich mit den Händen festzuhalten. Und das war etwas, was sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte.

„Oben gibt es zwei Stufen, die festgenagelt sind. Du siehst sie, wenn du dort bist.“

Er nickte ihr aufmunternd zu und nach einem kurzen Zögern stieg sie weiter. Die unteren Stufen waren noch anstrengend, aber schon nach der Hälfte des Weges hatte sie den Dreh raus und wurde sicherer und schneller. Oben angekommen konnte sie tatsächlich die beiden Stufen, die zwischen dem Gerüst und einem Ast befestigt waren, sehen. Sie griff nach einer, zog einmal daran um zu prüfen, ob sie auch fest war, und kletterte dann rasch auf die Plattform.

Unten applaudierte ihr Mike und Belle wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Er hatte ihr zugesehen, als sie den Boden verlassen hatte, und mit sorgenvollem Blick beobachtet, wie sie sich weiter und weiter von ihm entfernt hatte. Jetzt, wo er sie hoch oben auf dem Baum sitzen sah, legte er den Kopf schräg, gab ein leises Bellen von sich, als ob er ihr damit zeigen wollte, dass alles gut war, und legte sich wieder in den Schatten.

„Gut gemacht für ein Mädchen.“ Er streckte ihr die aufgerichteten Daumen beider Hände entgegen.

„Und jetzt du!“

„Sicher“, antwortete Mike, der schon damit begonnen hatte, die untersten Stufen in Angriff zu nehmen. Bei ihm schwankte die Leiter überraschenderweise überhaupt nicht, und so brauchte er auch nicht ganz so lange wie Beverly, um oben anzukommen. Er stieg in das Baumhaus und holte dann die Leiter wieder ein.

„Warum ziehst du sie wieder rauf?“, fragte Beverly interessiert.

Mike hielt kurz inne und dachte nach.

„Weil ich nicht will, dass jemand anders sie sieht. Wenn jemand weiß, dass es eine Leiter gibt, findet er auch eine Möglichkeit, hier hoch zu kommen.“ Er zog weiter, bis auch die letzte Sprosse wieder sauber über dem Ast hing. „Das ist mein Versteck. Mein Geheimnis.“

Er schaute sie an. „Eigentlich ist es jetzt sogar unser Geheimnis. Außer dir weiß niemand, dass es das Baumhaus gibt.“

„Auch nicht deine Freunde?“

Mikes Blick trübte sich ein wenig. „Ich habe nicht viele Freunde, weißt du?“

„Oh. Nun – noch nicht.“

„Genau.“ Dann lächelte er wieder bis über beide Ohren. „Mir würde eh keiner glauben, dass ich auf einen Baum steigen kann, hm?“

Beverly antwortete nicht darauf, aber damit wollte sich Mike nicht zufriedengeben.

„Bev, du kannst mir eines glauben: ich kann mit Spott umgehen. Die anderen Kinder verarschen mich schon so lange ich denken kann – Kindergarten, Grundschule und so weiter und so fort. Du brauchst also nicht immer Rücksicht auf mich zu nehmen, okay? Ich kann in den Gesichtern der Menschen erkennen, wie sie es meinen, wenn sie etwas sagen.“

„Du meinst, ich soll Witze auf deine Kosten machen?“

„Genau das. Du würdest mir einen Gefallen damit tun.“

Beverly versuchte zu verstehen, was Mike da von ihr verlangte, konnte es aber im ersten Moment nicht. Sie verstand nicht, wie es ihm gefallen konnte, wenn man sich über ihn lustig machte.

„Mikes Lebensweisheit Nummer eins: du kommst viel besser durchs Leben, wenn du über dich selbst lachen kannst.“ Er grinste, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

„Du hast also schon eigene Lebensweisheiten?“

„Hey, dass ich fett bin, heißt nicht, dass ich blöd bin, oder?“

Und dann lachten sie beide.

Mike schlug vor, sie nach Hause zu bringen, als die Sonne langsam tiefer sank und die ersten Spuren der Dämmerung zu erahnen waren, aber Beverly lehnte es dankend ab.

„Belle wird mich nach Hause bringen.“

Und so war es dann auch. Sie verabschiedeten sich und verabredeten sich für den nächsten Tag. Das Wetter sollte gut bleiben und Mike war der Ansicht, dass er die Zeit nutzen sollte, um sein Baumhaus ein wenig wetterfest zu machen. Sie wollte ihm dabei behilflich sein so gut sie konnte und war froh, dass sie den Sommer nicht ganz alleine verbringen musste.

Jetzt ging sie auf der staubigen Straße zurück, Belle an ihrer Seite, und kickte mit den Füßen einen kleinen Stein vor sich her, der sich von irgendwoher auf die Straße verirrt hatte und jetzt das Pech hatte, als Fußball herhalten zu müssen. Früher, als Belle noch kleiner gewesen war, wäre das nicht möglich gewesen, weil er dann immer nach dem Stein geschnappt hätte (es war nicht nur einmal passiert, dass er auch einen heruntergeschluckt hatte), aber jetzt war er älter und kümmerte sich herzlich wenig um den Stein. Vielmehr zog er es vor, an jeder neuen Grundstücksgrenze am Zaun zu schnüffeln und ab und zu das Bein zu heben.

Sie erreichten ihr Zuhause und Beverly öffnete die quietschende Gartentür. Sie erkannte schon auf den ersten Blick, dass ihr Vater noch nicht da war. Vor ihrer Haustüre befand sich ein löchriges Fliegennetz, das seinen Namen nicht mehr verdient hatte. Für Gewöhnlich ließ er die Tür offen stehen und zog das Netz herunter, um die Fliegen draußen zu halten (was natürlich nicht funktionierte) und saß dann entweder auf der kleinen Veranda mit einem Bier in der Hand oder mit seinem Stuhl in der Tür, sodass man ihn von draußen fast nicht sehen konnte, weil es zu dunkel dafür war, er aber sehr wohl alles und jeden beobachten konnte, der sich seinem Grundstück näherte.

Jetzt war die Tür geschlossen und auch wenn Beverly es sich nie laut gesagt hätte, war sie froh, alleine zu sein.

Sie ging hinein und Belle blieb an der Türschwelle sitzen. Er ging nicht gerne ins Haus, auch wenn ihr Vater nicht da war. Es gab kein Radio, und so sang sie leise vor sich hin, während sie sich an ihre täglichen Aufgaben im Haushalt machte. Sie musste schon so lange sie denken konnte im Haushalt mithelfen. Um nicht zu sagen: alles erledigen. Das einzige, was ihr Vater noch machte, war das Holz aus dem Garten so klein zu hacken, dass sie damit den Ofen heizen konnte, aber es würde die Zeit kommen, dass ihre Arme dafür stark genug waren und sie das auch noch übernehmen musste. Sie beschwerte sich weder bei ihren Freunden, noch haderte sie mit ihrem vermeintlich harten Schicksal, sondern tat das, was getan werden musste, um den Laden am Laufen zu halten . Sie wusch, sie putzte, sie kochte, sie spülte, sie fegte – und wenn sie irgendwann noch Holz hacken musste, würde sie auch das machen. Ihr Vater war ein Mann, der einem das nicht offen dankte, aber das erwartete sie auch nicht. Für sie war es Dank genug, wenn er nach Hause kam und sich über nichts beschwerte, weil sie dann wusste, dass sie alles genau so gemacht hatte, wie er es haben wollte. Und wenn er zufrieden war, dann wurde er auch nicht …

Belle gab einen Laut von sich und verschwand aus der Tür. Beverly musste nicht aufzusehen, um zu wissen, dass ihr Vater nach Hause kam.

Ein Sommer in Nirgendwo

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