Читать книгу Ein Sommer in Nirgendwo - Thomas Plörer - Страница 6

Auf dem Revier

Оглавление

Alfred Rubert war Polizist aus Leidenschaft. Mit sechzehn Jahren hatte er die Schule abgeschlossen und sich für den Job als Polizist entschieden. Und jetzt, fünfundvierzig Jahre später, war er immer noch so glücklich mit seiner Entscheidung, dass es ihm morgens nicht schwerfiel, aus dem Bett zu steigen, und abends hatte er immer ein Lächeln auf den Lippen, wenn er die Uniform in seinen Spind hängte und zu seiner Frau nach Hause ging. Sicher – es gab Tage, an denen fragte er sich, was nur schief gelaufen war mit den Menschen, mit denen er Arbeiten musste: Gewalttäter, Räuber, Drogensüchtige. Aber er hatte früh gelernt, dass es nicht gut war, wenn man sich den Kopf über zu viele Dinge zerbrach, die man ja doch nicht ändern konnte. Und so half er, wo er helfen konnte und wo man ihn helfen ließ, und überließ alles andere dem Lauf des Schicksals, das er – wie er selbst wusste – nicht ändern konnte.

Alfred saß am Steuer des Polizeiautos, so wie er es die letzten zwanzig Jahre getan hatte. Neben ihm auf dem Beifahrersitz saß Shawn Davis und schaute aus dem Fenster. Sie fuhren gerade am Schulzentrum vorbei, wo heute keine Menschenseele unterwegs war, weil die Ferien vor einigen Tagen begonnen hatten. Am Abend konnte es hin und wieder sein, dass sich Menschen, vor allem Jugendliche, hierher verirrten und gemeinsam feierten, und dann mussten sie natürlich einschreiten und die Versammlungen auflösen, weil das Gelände außerhalb des regulären Unterrichts Sperrgebiet war. Shawn musste immer bei dem Gedanken lächeln, dass die Jugendlichen während der Schulzeit am liebsten überall sonst wären, es während der Ferien aber scheinbar keine zwei Tage aushielten, ohne dorthin zurück zu kehren.

„Wie kommt Laurie mit der vielen Freizeit zurecht?“, fragte Alfred. Er betätigte den Blinker und bog links ab in Richtung Stadtzentrum.

„Noch ganz gut. Aber frag mich in zwei Wochen nochmal.“

„Aber sie kocht dir jeden Tag etwas Gutes zu Essen, nicht wahr?“

Shawn lächelte. „Ja. Ein tolles Gefühl, wenn man nach Hause kommt, und sich um nichts mehr kümmern muss.“

„Wem sagst du das.“

„Wie lange sind du und Mary eigentlich schon verheiratet? Du hast es mir bestimmt schon mal erzählt, aber manchmal ist mein Gedächtnis wie ein Sieb.“

„Das wird im Alter nicht besser. Dreiunddreißig lange Jahre.“

„Lange Jahre?“

Alfred grinste verschmitzt, sagte aber nichts weiter dazu.

„Glaubst du, du könntest sie wieder einmal dazu überreden, uns diesen Kürbiskuchen zu machen? Der ist himmlisch.“

Alfred seufzte. „Wem sagst du das. Dir macht sie sicher einen, aber ich kann froh sein, wenn sie mich daran riechen lässt. Seitdem ihr Bruder vor einem Jahr an diesem Herzinfarkt gestorben ist, achtet sie peinlich genau drauf, was ich esse und wie viel ich esse.“

Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse des Leidens. „Ich hab John nie besonders gut leiden können, aber das werde ich ihm nie verzeihen.“

„Aber du bist doch gut in Form.“ Shawn musterte seinen Kollegen. „Zumindest für dein Alter.“

„Komm du erst einmal in mein Alter, Shawn“, brummte Alfred. „Dann können wir weiterreden.“

Sie fuhren jetzt auf der Mainstreet, einer Straße durch die Innenstadt, wo sich links und rechts eine Menge Läden befanden. Hauptsächlich Boutiquen, aber hier und da auch Lebensmittelläden und vereinzelt Wohnhäuser. Auf den Gehsteigen herrschte reger Betrieb.

„Scheinbar ist die halbe Stadt auf den Beinen.“

Alfred nickte. „Siehst du, wie viele Frauen hier mit Tüten in den Händen rumlaufen? Und siehst du, wie viele genervte Ehemänner und Freunde hinter ihnen her trotten, die sich im Augenblick nichts sehnlicher wünschen als den Tod?“

„Ich bin heilfroh, dass Laurie immer alleine einkaufen geht.“

„Oh, aber nicht für den großen Ball, da kannst du deinen Arsch drauf verwetten.“

Shawn zuckte nur mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“

„Aber ich weiß es. Glaub mir: dreiunddreißig Jahre Ehe haben mir so einiges beigebracht. Und wenn Frauen die Möglichkeit haben, sich an einem Abend so richtig hübsch zu machen, dann nutzen sie diese Chance, koste es was es wolle. Und dann wollen sie das volle Programm: Friseur, Kosmetik, neue Schuhe, neues Kleid …“

„Das kann sie alles alleine kaufen. Und das macht sie auch, weil Laurie eine wirklich selbstständige Frau ist.“ Er nickte mit dem Kopf in Richtung der überfüllten Gehsteige. „Nicht so, wie die meisten von den Hühnern.“

„Hast du einen Anzug, Shawn?“

„Klar.“

„Passt er dir noch?“

„Was ist denn das für eine Frage?“

Alfred lächelte, während er in den Rückspiegel schaute und dann die Spur wechselte. Sie steckten im Stau vor einer Ampel, was zur Folge hatte, dass der kühlende Fahrtwind aufgehört hatte und sie jetzt in ihrer Uniform im Auto regelrecht gegrillt wurden. Shawn wedelte sich mit einer Zeitschrift etwas Luft zu.

„Laurie wird sich bestimmt ein Kleid kaufen wollen. Und wenn sie ein Kleid findet, das ihr passt und gefällt, dann wird sie es kaufen. In dem Augenblick gibt es für Frauen nämlich nur noch dieses eine Kleid und kein anderes mehr. Geld spielt da keine Rolle, Shawn.“

„Laurie zahlt sich ihre Kleider immer selbst. Soll sie von mir aus eine Million dafür ausgeben.“

„Darauf will ich gar nicht hinaus, auch wenn sich das mit den Jahren noch ändern wird.“ Er holte tief Luft und schnaufte dann laut aus. „Vertrau mir, Shawn, das wird sich ändern. Aber was ich eigentlich sagen wollte: wenn ihr Kleid nicht zu deinem Anzug passt, dann hast du nur zwei Möglichkeiten. Entweder, du kaufst dir einen neuen Anzug und gibst ihr deine Eier in einer Geschenktüte mit Schleife drum herum, oder du sitzt das aus, was sonst passiert.“

„Meine Eier mit einer Schleife?“, hakte Shawn interessiert und auch ein wenig belustigt nach. „Wann hast du dich denn verkauft?“

„Shawn, das ist ein schleichender Prozess. Der erste neue Anzug ist noch nicht die ganze Kastration, aber vielleicht schon die Fahrt zum Tierarzt. Und irgendwann sind sie dann ab, deine Eier, und du kommst aus der Nummer nicht mehr als Mann raus, sondern als kleines Mädchen.“

„Und die Alternative?“

„Kein Sex. Kein Essen. Eisiges Schweigen und böse Blicke.“

„Das sind ja tolle Aussichten.“ Aber so recht glauben konnte er seinem älteren Kollegen (und Vorgesetzten, wenn man ehrlich war) nicht. Dafür, so glaubte er, kannte er Laurie einfach zu gut.

„Aber du kannst tanzen, oder?“

„Walzer, ja.“

Alfred nickte zufrieden. „Das reicht für den Anfang. Wann hast du zum letzten Mal getanzt?“

Da musste auch Shawn erst einmal in sich gehen. Das war schon einige Zeit her, soviel war sicher. Aber wann genau?

„Ich denke, nach meinem Abschluss am College.“

„Oh.“

„Aber das verlernt man nicht.“ Shawn ging in Gedanken noch einmal die Schritte durch, um sich selbst endgültig von der Tatsache zu überzeugen. Sein Tanzlehrer (auch auf dem College) hatte ihnen damals gesagt, dass sie sich einfach eine Kiste vorstellen sollte, um die sie immer herumtanzen würden.

„Und wehe, einer von euch berührt mir diese Kiste! Diese Kiste ist heilig, also schwingt eure ungelenken Beine gefälligst drum herum, als ginge es um euer Leben!“ , pflegte er zu sagen.

„Naja, ich drück dir die Daumen, dass du Recht hast. Wann ist der Ball eigentlich? In drei Wochen?“

„Samstag in vier Wochen. Am letzten Samstag des Monats. Eigentlich solltest du das wissen, oder? Das ist schließlich jedes Jahr am letzten Samstag des Monats. Und du bist hier schon fast dein halbes Leben ansässig.“

Alfred zuckte mit den Schultern. „Ich mach mir da persönlich nie viel draus. Du weißt, dass wir auch beruflich einmal hinschauen müssen?“

Shawn nickte. „Um die Sicherheitsauflagen zu überprüfen, klar. Macht das dieses Jahr wieder dieser Hendrix? Ich vergesse immer seinen Vornamen.“

„Serj.“

„Genau der.“

„Ja.“

„Na toll …“

Alfred lächelte. „Ich freu mich schon darauf, ihn wieder zu sehen!“

„Mhm.“

Und dann lachten sie beide laut los.

„Hey, sag mal“, begann Alfred schließlich, als sie sich wieder beruhigt hatten, doch dann hielt er kurz inne, weil die Ampel direkt vor ihnen wieder auf Rot sprang und er einen wütenden Blick aus dem Fenster warf. Mittlerweile waren kleine Schweißperlen auf seiner Stirn aufgetaucht und Shawn war sich ziemlich sicher, dass seine Uniform mittlerweile an ihm klebte wie ein feuchter Lumpen. „Was hältst du davon, wenn wir zurück ins Büro fahren?“

Shawn schaute auf seine Uhr. „Eine halbe Stunde früher als sonst?“

Alfred winkte ab. „Dieser Stau und die Hitze haben mir den Rest gegeben. Ich hab Hunger und keine Lust mehr, wie ein Steak gegrillt zu werden.“

„Du bist der Boss.“

„Das stimmt wohl. Und jetzt mach mal kurz die Augen und die Ohren zu.“

Shawn verstand nicht, doch im nächsten Moment konnte er das heulen einer Sirene hören. Um sie herum blieben die Leute erschrocken stehen oder drehten sich zu ihnen um. Es dauerte einige Augenblicke bis Shawn bemerkte, dass es ihre eigene Sirene war, und da war Alfred bereits langsam in die Mitte der Kreuzung gerollt und an den stehen gebliebenen Autos vorbeigefahren. Er lachte wie ein Verrückter, als sie die übernächste Querstraße einbogen und schaltete dann die Sirene wieder aus. Und er lachte noch immer, als sie schließlich wieder in ihrem Büro ankamen und er den Wagen vorsichtig in eine für sie reservierte Parklücke vor dem Gebäude rollen ließ und ausstieg. Shawn musste schmunzeln, enthielt sich aber eines Kommentars. Und wenn er ehrlich war, dann war er auch froh, aus dem Ofen raus zu sein und in ihr Büro zu verschwinden. Da gab es zwar keine Klimaanlage, aber immerhin eine ganze Menge Ventilatoren. Und er hoffte, dass Susie, die Sekretärin, sie auch alle angeschaltet hatte.

Nun, sie hatte es.

Susie war eine Frau mit roten Haaren, die aber gefärbt waren. Sie war ein halbes Jahr jünger als Alfred, allerdings ein oder zwei Jahre länger in der Stadt und somit auch schon länger bei der Polizei angestellt. Sie war so etwas wie die heimliche Chefin, auch wenn das niemand offen aussprach und sie es auch vehement bestritt, wenn Anspielungen in diese Richtung gemacht wurden. Letztlich war nur Alfred ihr mehr oder weniger gewachsen, die anderen Polizisten (neben Shawn gab es noch vier weitere Kollegen) taten ihren Job und versuchten, es ihr so weit wie möglich recht zu machen, um die Bestie in ihrem Kerker zu halten.

„Guten Tag, die Herren“, begrüßte sie sie freundlich und hob zugleich die Augenbrauen in die Höhe. „Ihr seid früh dran heute.“

„Alles ruhig“, entgegnete Alfred. Er ging zu seinem Schreibtisch, öffnete eine der Schubladen und zog eine Packung Taschentücher heraus. Mit einem wischte er sich über das Gesicht, ehe er sein Hemd aufknöpfte und sich unter den Armen trocknete. Susie beobachtete das Treiben zunächst interessiert, ehe sie sich mit einem angewiderten Gesicht wegdrehte und Shawn ein zuckersüßes Lächeln zuwarf.

„Deine Frau war hier.“

„Laurie? Ist sie noch da?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, sie ist vor einer halben Stunde wieder gefahren. Wenn ich gewusst hätte, dass ihr beide hier so zeitig aufschlagt, dann hätte ich sie bestimmt zum Warten überreden können.“

„Hat sie etwas gesagt?“

Susie schaute ihn verwirrt an. „Ja natürlich hat sie etwas gesagt. Denkst du, sie kommt hier rein und verschwindet wieder, ohne zumindest Hallo und Auf Wiedersehen zu sagen?“

„Susie …“

„Schon gut, schon gut. Sie hat gesagt, dass sie jetzt weiter in die Stadt geht und sich irgendwo nach einem Kleid umschauen will. Wegen dem großen Ball, du weißt schon.“

„Ach, hat sie das?“, fragte Shawn extra laut und drehte sich zu Alfred um. Der hatte das Gespräch mit angehört und winkte einfach ab. Zwei Ventilatoren waren auf seinen Körper gerichtet und er schenkte sich gerade ein großes Glas Wasser ein.

„Ich verstehe nicht?“, sagte Susie und schaute mit einem unsicheren Lächeln auf den Lippen zu den beiden.

„Nicht so wichtig“, sagte Shawn und lächelte. „Nur ein Witz zwischen uns Männern.“

„Naja, wie dem auch sei: sie hat uns einen Kuchen mitgebracht. Er steht in der Küche. Ich möchte betonen, dass sie uns gesagt hat. Also sei bitte so gut, und lass diesen Fresssack da drüben nicht mit dem Kuchen alleine.“

„Susie, Schätzchen, du glaubst doch nicht, dass ich dir dein Stück vor der Nase wegessen könnte“, erwiderte Alfred. „Eine so schlanke Frau wie du sollte von uns gefüttert werden, nicht dass du uns noch vom Stuhl fällst.“

„Halt‘ die Klappe, du Schleimer“, erwiderte Susie, aber Shawn war sich sicher, dass sie ein wenig rot wurde und ihre Augen amüsiert blitzten.

„Ich pass auf, versprochen“, flüsterte Shawn ihr zu.

„Na du bist mir ja ein toller Kollege“, antwortete Alfred, der gute Ohren hatte. „Wenn wir beide einmal in eine Schießerei geraten, dann geb ich dir Deckung, und nicht umgekehrt.“

Shawn gab ihm mit der Hand ein Zeichen, das so viel bedeuten sollte wie Okay und beugte sich dann über Susies Tisch zu ihr herunter, um leiser sprechen zu können. Vermutlich wäre es egal gewesen, denn Alfred war jetzt damit beschäftigt, aus einer anderen Schublade ein frisches Hemd zu ziehen. Sie hatten zwar eine Umkleide, aber er sah keine Notwendigkeit, diese auch zu benutzen. Susie schien es egal zu sein, schließlich arbeitete sie schon so viele Jahre mit Alfred zusammen, dass es Shawn schwer wundern würde, wenn sie ihn nicht schon das ein oder andere Mal unter der Dusche gesehen hätte.

„Susie, hast du etwas gefunden, worum ich dich gebeten habe?“

Sie nickte und zog aus einem Ablagefach eine dünne Akte heraus, die sie ihm reichte. Shawn nahm sie unauffällig entgegen und drückte sie eng an sein Bein.

„Es ist mehr, als du vielleicht gedacht hättest. In der Akte sind alle Unterlagen, zu denen wir von der Polizei Zugriff bekommen.“ Sie lächelte ihn frech an. „Und auch einige, die nur ich bekomme, weil ich so eine nette Lady bin.“

„Du bist ein Schatz“, antwortet Shawn und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Damit hast du was gut bei mir.“

„Ich komme darauf zurück, versprochen. So etwas lass ich mir nicht entgehen.“

Shawn wollte schon zu seinem Schreibtisch gehen, als sie ihn noch am Ärmel erwischte und zurückhielt. „Du gehst mit Laurie zu dem Ball. Ich werde auch da sein.“

Shawn schaute sie verwirrt an.

„Ich hätte nichts gegen einen Tanz einzuwenden.“

Hinter ihnen lachte Alfred laut auf.

Shawn wartete, bis Alfred in die Küche verschwunden war, um sich den Kuchen einmal genauer anzusehen. Als er dann alleine war, zog er die Akte hervor und schlug sie auf. Sie trug keinen Namen, was darauf hindeutete, dass Susie sie vorhin erst angelegt hatte und auch nicht vorhatte, sie zu den anderen Akten im Schrank oder im Archiv zu legen. Der Inhalt war vertraulich, privat, nicht von öffentlichem Belang – wie man es auch immer nennen wollte. Beim ersten Überfliegen fiel Shawn auf, dass auch Dokumente aus dem Krankenhaus und zwei Zeitungsausschnitte beigefügt waren.

Er begann zu lesen.

Ein Sommer in Nirgendwo

Подняться наверх