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Kapitel 3

C

hiswick Island‹, im Stadtbezirk ›Borough of Hounslow‹, war eine der zahlreichen, idyllischen Themse-Inseln. Sie lag am westlichen Rand Londons, wo die Metropole bereits sehr ländlich wirkte. Ein wenig ähnelte sie der Insel ›Lot’s Ait‹, die 1951, mit einigen Palmen bestückt, für den Film ›African Queen‹ mit Humphrey Bogart und Katherine Hepburn herhalten musste. Im weiteren Umfeld gab es keine Häuser.

Mit der Insel im Blick konnte ein vorbeikommender Ruderer nur erahnen, wie nahe die Millionenstadt war. Jede Hektik, jeder Stress, Autoabgase, Smog und Lärm blieben fern. Bis hierher kamen nicht einmal mehr die Lastenkähne, die inmitten der Hauptstadt den Fluss bevölkerten. Hier war die Themse schmal und floss geruhsam dahin.

Achtundzwanzig junge Frauen und Männer, zumeist Studenten, hatten ›Chiswick Island‹ zu ihrem eigenen, kleinen Königreich gemacht. Niemand hatte sie wirklich daran gehindert, einige, der leerstehenden Holzhütten in Beschlag zu nehmen und für ihre Zwecke her- und einzurichten. Nur selten verirrte sich jemand hierher, und die Insel gab ihnen die Zuversicht, dem Moloch London zumindest vorübergehend entkommen zu sein.

An diesem Morgen waren tiefhängende, dunkle Wolken aufgezogen und ein feiner, kühler Nieselregen hatte eingesetzt. Es war gerade sieben Uhr durch, als die Idylle der Studenten jäh von einem schrillen Pfiff gestört wurde. Ein Signal, das für sie ein ausgesprochenes Durcheinander einläutete.

Was für die Beamten des Scotland Yard eine vorab genau geplante Operation darstellte, entwickelte sich für die achtundzwanzig Bewohner des kleinen Eilandes zum reinen Chaos.

Mit zwei schnellen Motorbooten der Londoner ›River Police‹ wurde der Fluchtweg über die Themse blockiert, und eine Gruppe von dreißig bewaffneten Polizeibeamten stürmte über die schmale Eisenbrücke, die ›Chiswick Island‹ über einen kleinen Seitenarm mit dem Festland verband. Weitere zwanzig Beamte, die sie sich lautlos und im Schutz des Morgennebels per Boot genähert hatten, setzten auf die Insel über. Auf diese Weise wurden alle neuralgischen Punkte in generalstabsmäßig in Windesweile besetzt. Vom Festland her flammten grelle Scheinwerfer auf und tauchten das kleine Eiland in ein helles Licht.

»Hier spricht Detective Chief Inspector Blake von Scotland Yard!«, dröhnte eine kräftige, kultivierte Männerstimme aus einem Lautsprecher. »Ich fordere Sie auf keinen Widerstand zu leisten! Die Insel wird in diesem Augenblick von Beamten besetzt! Jeder Widerstand ist zwecklos! Flucht ebenfalls! Bewahren Sie Ruhe!« Es trat eine kurze Pause ein, ehe er wiederholte: »Hier spricht Detective Inspector ...«

Noch ein weiteres Mal folgte seine Aufforderung über Lautsprecher, während seine Kollegen bereits die kargen Hütten stürmten und jede Person verhafteten, deren sie habhaft werden konnten.

Chuck Armstrong, James Sheppard und ›Silky‹ Brightman gehörten zu den Einwohnern der ersten Stunde auf der Insel. Etwas Derartiges, wie an diesem Morgen, hatte es in der ganzen Zeit ihres Aufenthaltes in der Kommune noch nicht gegeben. Sie hörten zwar die deutliche Ansage der Kriminalpolizei, aber sie begriffen nicht, was gerade um sie herum vor sich ging. Sie kamen auch nicht dazu, sich darüber Gedanken zu machen, denn schon stürmten drei uniformierte Beamte mit gezogenen Dienstwaffen ihre Hütte.

Keiner von ihnen dachte in diesem Augenblick an Widerstand – dafür waren sie viel zu verwirrt. Aber sie hätten sich auch so ihrem Schicksal ergeben, denn sie besaßen ein reines Gewissen, und das Exekutiv-Organ des britischen Staates stellte für sie kein Feindbild dar.

Natürlich hätten sie gern gewusst, was diesen Einsatz rechtfertigte, aber sie kamen nicht dazu irgendwelche Fragen zu stellen. Ehe sie etwas vorbringen konnten, hatte man sie auch schon bäuchlings auf den Boden gedrückt und die Handschellen klickten. Den jungen Frauen und Männern in den übrigen Unterkünften erging es keinen Deut besser.

Bereits während der Aktion überzeugten sich Chief Inspector Blake und sein Kollege, Inspector McGinnis, persönlich davon, dass ihnen niemand entkommen war. Von Seiten ihrer Männer wurde nur das Nötigste gesprochen. Blake und McGinnis sorgten dafür, dass sich die überraschten und betäubten Inselbewohner noch etwas Ordentliches anziehen konnten, ehe sie abgeführt und in bereitstehende Gefangenentransporter verfrachtet wurden. Die anderen Männer des Yards halfen den Kollegen der ›Fatal Accident Inquiry‹ bei der Spurensuche in den Unterkünften.

Die Aktion des Yards war so schnell abgelaufen, dass die Festgenommenen erst zur Besinnung kamen, als sich die Kleinbusse mit der Käfigausstattung, in der maximal sechs Gefangene Platz hatten, in Bewegung setzten. Plötzlich schrien sie alle durcheinander. Einige stellten Fragen, andere suchten nach Antworten, wieder andere schimpften lautstark und mokierten sich über die ruppige Art und Weise des Yards, in der man mit ihnen umgesprungen war.

»Versteht das einer von euch? Das darf doch alles gar nicht wahr sein!«, knurrte Chuck. »Die haben uns doch bisher immer in Ruhe gelassen!«

Sein Freund James war kurz davor völlig auszurasten. Ihm ging sein Temperament durch. Völlig sinnlos stemmte er sich gegen die Handschellen und rüttelte am Käfig.

»Es würde mich nicht wundern, wenn irgendein stinkreicher Konzern die Insel gekauft hat und sie uns jetzt vergraulen wollen!« Er kochte vor Wut und fing an, mit den Fersen gegen das Gitter schlagen. »Vielleicht laufen hier demnächst lauter Schlitzaugen rum! Die Chinesen kaufen doch alles, was sie in die Pfoten kriegen können! Ein Scheiß ist das mit dem globalen Handel! England den Engländern!«

Silky war mit ihren neunzehn Jahren die jüngste der Gruppe. Wegen ihrer seidenweiß eingefärbten Haare und ihres verrückten französischen Haarschnitts, wurde sie von allen nur liebevoll ›Silky‹ gerufen. Niemand wusste, wie sie wirklich mit Vornamen hieß. Der Spitzname passte im doppelten Sinn, denn umgangssprachlich nannten die Briten den Anwalt der Krone ›Silk‹, und sie gehörte zu jenen, die jede Auseinandersetzung immer sofort zu schlichten suchte. Daher schüttelte sie auch sofort widersprechend den Kopf, als sie James‘ Vermutung hörte. Sie war sehr viel besonnener, als ihre beiden Freunde.

»Ich glaube nicht, dass das eine gewöhnliche Räumungsaktion ist«, meinte sie gelassen. »Da steckt etwas Anderes dahinter.« Sie warf den beiden einen nachdenklichen Blick zu. »Überlegt doch mal«, forderte sie beiden auf, »wenn die uns nur von der Insel hätten haben wollen ... da hätten sie vielleicht zehn Leute geschickt.« Noch einmal schüttelte sie leicht den Kopf. »Darum geht es denen nicht! Habt ihr denn nicht zugehört, was da über den Lautsprecher kam?« Sie lehnte sich mit ihrem Rücken ans Gitter und biss sich mit den Zähnen leicht auf die Unterlippe. »Das war ein Chief Inspector von Scotland Yard. Seit wann kümmert sich die Kriminalpolizei um ein paar Studenten in alten ungenutzten Holzhütten? Wir stören niemanden und tun auch keinem was.«

Nicht nur ihre beiden Freunde, auch die drei anderen Mitgefangenen sahen sie betroffen an.

»Du wirst wohl Recht haben, Silky«, meinte der zweiundzwanzigjährige Chuck grübelnd. »Es scheint sich tatsächlich um etwas sehr Ernstes zu handeln.«

»Da pfeife ich darauf!«, blaffte James dazwischen. Er war der Hitzkopf der Gruppe und hatte sich noch keineswegs beruhigen können. Immer noch randalierte er herum. »Ich will jetzt endlich wissen, was die Mistkerle von uns wollen!«, schrie er in Richtung der Fahrerkabine, wohlwissend, dass man ihm das jetzt kaum sagen würde.


Sie erfuhren es gut eine Stunde später, als sie in kleinen Gruppen von Blake und McGinnis vernommen wurden.

Isaac Blake war mittelgroß und von schlanker Statur. Er hatte ein energisches, aber durchaus attraktives Gesicht mit kleinen Grübchen in den Wagen, die ihm einen gewissen Charme verliehen, wenn er lächelte. Doch im Augenblick lächelte er nicht.

Obwohl den Festgenommenen ihre Rechte bereits genannt worden waren, wiederholte Cyril McGinnis das Prozedere.

»Ich weise Sie ausdrücklich darauf hin, dass alles was Sie sagen, aufgezeichnet wird. Sollten Sie also vorher mit einem Anwalt sprechen wollen, schweigen Sie besser«, erklärte der Mann mit den spärlichen Haaren auf dem kugeligen Kopf. Eindringlich sah er die Gruppe mit seinen vergißmeinichtblauen Augen an. »Haben Sie das alle verstanden?«, fragte er abschließend.

Chuck und Silky nickten, während James immer noch außer sich war. Den Beamten war nichts anderes übriggeblieben, als den Randalierenden mit den Handschellen am Stahltisch des Verhörraums zu ketten. Die anderen drei, die mit ihnen im Gefangenentransporter hergebracht worden waren, sahen Blake und McGinnis nichtssagend an.

»Was soll der ganze Scheiß!?«, schrie James lautstark.

Blake und McGinnis ließen sich von dem jungen Hitzkopf nicht aus der Ruhe bringen.

»Die größte Verwundbarkeit ist die Unwissenheit, Mister Sheppard! Wissen Sie das nicht?«, fragte Blake ihn lächelnd. »Sie werden doch von allen scherzhaft ›Philosoph‹ gerufen, oder etwa nicht?«

Das Blake ihn herausforderte gefiel James gar nicht.

»Auch des Feindes Auge wird mit der Zeit blind«, schleuderte der Heißsporn ihm wütend entgegen. »Wir sind doch nicht hier, um uns über Sunzis Kunst der Kriegsführung zu unterhalten, Chief Inspector! Sie sollten endlich mit der Sprache herausrücken. Weshalb haben Sie uns unserer Freiheit beraubt und hierhergeschleppt? … Und weil Sie es ja anscheinend auf der intellektuellen Schiene wollen – frei nach Mark Twain: Überall gibt es einen Idioten, der die naiven Fragen stellt, vor denen jeder andere zurückschreckt! Darf ich fragen, wer von Ihnen beiden dieser Idiot ist? Sie vielleicht, Detective Inspector McGinnis?«

»Ich rate Ihnen, Ihre Zunge zu zügeln, junger Mann«, fuhr McGinnis ihn knurrend an. »Ansonsten wäre es möglich, dass sich Ihr Aufenthalt bei uns nicht unwesentlich verlängert! Ich hoffe, ich habe mich deutlich ausgedrückt.«

»Meine Zukunftsplanung sieht da aber ganz anders aus!« James schäumte vor Wut.

»Immer, wenn der Mensch anfängt, seine Zukunft zu planen, fällt irgendwo das Schicksal lachend vom Stuhl, Mister Sheppard«, bemerkte McGinnis mit einem spöttischen Schmunzeln.

»Sie haben ja einen echten Spaßvogel zum Kollegen, Chief Inspector!«, regte sich James auf.

Blake ignorierte die Bemerkung des tobenden Studenten und blickte die anderen Studenten mit seinen kühlen, grauen Augen gelassen an.

»Wir vermuten«, sagte er seelenruhig, so, als würde er einen Vortrag halten, »dass in der letzten Nacht eine Frau in ihrer Kommune ermordet wurde. Dementsprechend fragen wir uns: Wer unter Ihnen könnte ihr Mörder sein?«

In dem sterilen, hellgrau gestrichenen Verhörraum hätte man eine Stecknadel fallen hören können – so still wurde es mit einem Mal. Geschockt hielten die Studenten den Atem an.

Blake gab den zwei Constablern im Hintergrund ein Zeichen. Sie führten die anderen drei Mitgefangenen ab – nur Chuck, James und Silky nicht. Als die drei merkten, dass sie mit den beiden Kriminalbeamten allein waren, zuckten sie unwillkürlich zusammen. Es kam ihnen so vor, als würden die beiden Inspektoren, sie des Mordes an der Frau beschuldigen.

Blake war von seinem Platz aufgestanden, hatte sein Päckchen Benson & Hedges hervorgeholt, eine Zigarette entnommen und sie angezündet. Während er einen ersten tiefen Zug nahm, ließ er die vor ihm sitzenden jungen Leute nicht aus den Augen.

McGinnis hatte seinen Stuhl etwas zurückgeschoben. Lässig schlug er die Beine übereinander und lehnte sich entspannt zurück. Obwohl das Verhör mitgeschnitten wurde, hatte er seinen abgegriffenen Notizblock herausgeholt und spielte abwartend mit seinem inzwischen viel zu kurzen Bleistift.

Die aufgekommene Stille wirkte bedrohlich.

»Es wird das beste sein, wenn Sie uns schildern, wie es abgelaufen ist«, schlug Blake mit eisiger Stimme vor.


An der Pforte zur Hölle

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