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Das neue Reich

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Nina warf die Autotür ihres alten Kleinwagens, den sie soeben am Straßenrand vor dem Haus eingeparkt hatte, zu und schickte einen kurzen, kritischen Blick nach oben zum zweiten Obergeschoss des Hauses. Dorthin, wo sie seit zwei Tagen wohnte. Sie stöhnte kurz auf.

Dort mussten die Kisten aus ihrem voll gepackten Auto hinauf.

Dem Mädchen steckte noch die Schlepperei vom Samstag in den Knochen, der Umzug von der engen Zweizimmerwohnung in diese schöne geräumige Dreizimmerwohnung hier.

Und wieder mal hatte Nina feststellen müssen, dass sie zwischen all ihrem Kram zu viel unnützen Krempel beherbergte. Dinge, von denen sie sich längst mal hätte trennen können. Und eigentlich auch müssen.

Nun gut, in diesem Moment half es nichts. Sie konnte es schlecht in ihrem Auto lagern.

Rasch holte sie noch Phillip, ihren neun Monate alten Sohn, der zwischen all den Kisten und Kartons auf dem Rücksitz in seinem Kindersitz hing, aus dem Auto. Dann schritt sie mit dem Kind auf der einen Seite, einem schweren Rucksack auf dem Rücken und zwei Einkaufstüten auf der anderen Seite durch die Hofeinfahrt zum seitlich gelegenen Hauseingang.

Die alte, massive Haustür knarrte beim Öffnen, sie ging etwas schwer auf. Nina presste sich mit ihrem ganzen Körpergewicht dagegen. Sie fluchte, weil sie dabei fast das Gleichgewicht und die Einkaufstüten verlor. Da ging drinnen im Hausflur, genau gegenüber der Haustür, eine Wohnungstür auf.

Ein junger Mann sprang auf Nina zu und griff sofort helfend nach dem Kind.

„Oh, das ist lieb, danke“, zeigte Nina sich dankbar, und zwar auf ihre gewohnt herzliche Art.

„Hallo, kleiner Mann“, hob er das Kind direkt auf Augenhöhe und lachte es an. „Wer bist du denn?“

„Ich heiße Phips“, tat Nina, als würde ihr Sohn antworten.

„Oh, das ist aber ein frecher Name“, blinzelte das ausgewachsene, männliche, gut aussehende Gegenüber Nina fröhlich an.

„Oh, das ist aber ein neugieriger Nachbar“, meinte Nina nun zu ihrem Kind, allerdings mit Schalk in den Wangen.

„Sorry“, meinte der junge Mann dann etwas ernster und warf einen Blick auf ihre Last, die sich inzwischen neben und hinter Nina verteilt hatte. „Möchtest du vielleicht erst mal deine Sachen rauf bringen? Soll ich dir tragen helfen? Ich kann allerdings auch kurz auf deinen Knirps aufpassen. Ich meine, wenn es dir nichts ausmacht.“

Verdutzt sah sie den Mann an. „Brauchst du nicht. Ich pack ihn oben in sein Laufgitter. Dann kann ich meine Klamotten in Ruhe nach oben tragen.“ Sie wollte ihm den Kleinen gerade abnehmen, doch plötzlich hielt sie inne und stellte erstaunt fest: „Seltsam… normalerweise schreit er gleich los, wenn er von Fremden angepackt oder gar auf den Arm genommen wird.“

„Wenn ich von Fremden auf den Arm genommen werde, werde ich normal auch sauer…“ Er lachte und Nina erfasste die Zweideutigkeit ihres Satzes.

Plötzlich verstummte er.

Da erwiderte Nina trocken: „Er schreit nicht.“

„Er schreit nicht“, wiederholte der Mann mit dem Kind auf dem Arm ebenso trocken.

„Und falls er es sich doch anders überlegt, werden mir schon nicht gleich die Ohren abfallen!“ meinte er dann lässig.

Nina schüttelte lachend den Kopf. Okay, dachte sie sich und ließ den Großen und den Kleinen im Erdgeschoss zurück, um ihre Last in die zweite Etage hinauf zu tragen.

Als sie wieder herunterkam, war der Hausflur im Erdgeschoss leer. Kurz erfasste Nina eine Welle der Panik. Doch dann bemerkte sie, dass die zu dem jungen Mann zugehörige Wohnungstür nur angelehnt war. Vorsichtig klopfte Nina an die Tür, schob sie noch etwas auf und trat schließlich, ohne eine Antwort abzuwarten, in die Wohnung.

Im Wohnzimmer fand sie ihr Kind. Es saß in der Mitte des Raumes auf einem weichen Teppich. Daneben saß der junge Mann, von dem Nina bisher nur wusste, dass an seiner Klingel „Bruck“ stand. Phips untersuchte gerade ganz interessiert die langen Flusen des Teppichs und grub immer wieder seine kleinen Händchen hinein. Nina stand in der Tür und verfolgte das Szenario versonnen lächelnd. Auf den kleinen Grabschmeister bezogen meinte sie schließlich: „Wenn du noch eine Putzhilfe suchst, die dir den Teppich durchkämmt und von interessanten Kleinteilen befreit, dann sag Bescheid. Wir könnten da sicher einen guten Preis aushandeln.“

„Okay.“ Der Mann, der zu dem Namen „Bruck“ gehörte, erhob sich vom Boden. „Hast du noch mehr im Auto, was du hochbringen wolltest? Dann tu dir keinen Zwang an. Wir kommen hier schon klar.“

„Das sehe ich“, entgegnete Nina lachend. Dann rang sie sich zu einem „Danke“ durch und machte auf dem Absatz kehrt. Sie verließ die Wohnung und kurz darauf auch das Haus, um die Gunst des Augenblicks zu nutzen und ihr Auto rasch auszuräumen.

Nach drei Mal Hinauf- und Hinunterlaufen kam sie wieder vor der Bruck-Wohnung an. Der Mieter derselben stand nun in der Eingangstür zu seiner Wohnung, das Kind auf dem Arm. Nina trat zu den Beiden. Sie war noch etwas außer Atem.

„Hast du zufällig Zeit und Lust auf einen Kaffee?“ hörte sie ihr männliches Gegenüber freundlich fragen.

Es war nicht ihre Art, so rasch auf fremde Menschen ein- bzw. zuzugehen. Aber angesichts dessen, dass sie sich eine kleine Pause verdient hatte und sie diese Pause ja nicht unbedingt allein verbringen musste, nahm sie seine freundliche Einladung an. „Normal müsste ich dich jetzt zu einem Kaffee einladen, aber…“ Sie hob die Nase und folgte langsam dem frischen Kaffee-Duft, der aus seiner Küche zu kommen schien. Der Mann ließ sie an sich vorbei in die Wohnung treten. Der Kaffee war tatsächlich bereits gekocht. „…du hast scheinbar schon vorgesorgt.“

Nina sank auf einen der Stühle am Küchentisch und nahm Phips zu sich auf den Schoß. Schon wurden Tassen, Milch und Zucker auf den Tisch gestellt, zuletzt schließlich der Kaffee in die Kaffeepötte gegossen. Der nette Nachbar gesellte sich zu ihr an den Tisch und schob ihr eine gefüllte Tasse zu.

Nina bedankte sich. Dann hielt sie ihm plötzlich ihre Hand entgegen: „Ich bin übrigens Nina, die Neue von ganz oben.“

„Und ich bin Maik, der Alte von ganz unten“, nahm „Bruck“ die gebotene Hand.

Alt siehst du allerdings nicht gerade aus. Unwillkürlich musste sie lächeln.

Phips fing an zu quengeln, Nina ließ ihn auf den Boden runter, wo er sich fix wieder auf Erkundungstour begab.

Die beiden Erwachsenen schlürften ihren Kaffee und waren bald in eine nette kleine Plauderei vertieft. Dabei unterhielten sie sich über dieses Wohnhaus und über die Leute, die darin wohnten.

Maik selbst wohnte schon seit vier oder fünf Jahren hier. So genau wusste er es schon selbst nicht mehr. Er erzählte, dass er sein Auskommen mit den Leuten im Haus hatte - mehr brauchte er nicht zum Glücklichsein.

Phips krabbelte derweil auf dem Küchenboden herum und untersuchte gerade Maiks Waschmaschine. Begeistert hatte er festgestellt, dass man das komische runde durchsichtige Ding auf- und zumachen konnte. Und zwar immer wieder. Damit war er nun voll und ganz beschäftigt. Nina nahm es zur Kenntnis und meinte: „Naja, falls das runde Teil gleich irgendwann abfällt, kannst du deine Schmutzwäsche rauf bringen, in den zweiten Stock… vorläufig… versteht sich.“

„Ach ja?“ fragte er schmunzelnd. „Okay, ich nehme das Angebot mal vorsorglich an.“

Nina musste allmählich wieder hinauf in die eigene Wohnung. Sie hatte noch einiges an Arbeit vor sich. Phips konnte sicher auch langsam eine Mütze voll Mittagsschlaf gebrauchen.

Wenn Rolf, Ninas Freund und Vater des Kleinen, abends heimkam, sollte er wenigstens schon ein paar erste Aufräum-Erfolge erkennen können.

Als sie aufstand und Phips auf ihren Arm hob, wollte der Kleine sofort wieder runter auf den Boden. Liebevoll redete sie auf ihn ein und verabschiedete sich dabei ganz beiläufig von Maik.

Maik hielt ihr noch die Wohnungstür auf und meinte: „Du kannst mir den Kleinen ruhig ab und zu mal bringen, wenn du viel zu tun hast. Oder du bringst dich einfach mal mit und wir trinken mal wieder Kaffee zusammen. Bei der Gelegenheit könnte er ja noch mal versuchen, das runde Ding aus Glas von der Waschmaschine abzubauen.“

Nina war versucht zu lachen. Doch der plötzliche Ernst ihrer folgenden Gedanken hinderte sie daran. „Ich glaub, daran gewöhne ich mich lieber nicht“, seufzte sie leise und versuchte sich mit einem kläglichen Lächeln.

„Und warum?“ fragte er verdutzt.

„Er heißt Rolf und ist ziemlich eifersüchtig.“ Sie senkte kurz den Blick, doch dann konnte sie sich ein verschwörerisches Lächeln nicht verkneifen. „Aber gut zu wissen, dass ich es könnte…“

Bereits auf dem Weg nach oben rieb sich Phips immer wieder seine müden kleinen Augen. Es war wirklich an der Zeit.

In ihrer Wohnung angekommen, startete Nina gleich durch ins Kinderzimmer, um den Knaben mit einer neuen Windel zu versorgen und dann in sein Bettchen zu legen. Er protestierte anfänglich noch, schlief aber dann doch bald erschöpft ein.

Nina machte sich nun im Wohnzimmer ans Werk, räumte Kartons aus und in Schränke ein. Die leeren Kartons stapelten sich langsam im Flur. Geschafft war es jedoch noch lange nicht.

Irgendwann sank Nina auf einen noch vollen Karton und fuhr sich seufzend mit einer Hand durch ihr schulterlanges, blondes, leicht gewelltes Haar. So ein Umzug war nicht in zwei, drei Tagen abgehakt. Insgeheim beschloss sie, so schnell nicht wieder umzuziehen. Falls sie doch eines Tages noch mal einen Umzug in Erwägung zog, wollte sie vorher ganz viele überflüssige Dinge entsorgen und nur noch das wirklich Nötigste mit ins neue Reich nehmen.

Zwischendurch wanderten ihre Gedanken immer mal wieder zu dem Mann aus dem Erdgeschoss, der ihr heute so lieb und spontan seine Hilfe zu Teil werden ließ. Beruhigend, dass es hier im Haus wenigstens schon mal EINEN netten Nachbarn gab.

Maik hatte zwar gemeint, mit den anderen Leuten aus dem Haus würde man sein Auskommen haben, aber das musste sie erst mal selbst herausfinden. Allem voran hoffte sie inständig, dass das ältere Ehepaar, das unter ihr wohnte, Verständnis für ein lärmendes Kleinkind haben würde. Phips würde schließlich von Monat zu Monat beweglicher werden.

Als Rolf abends heimkam, stellte er anerkennend fest, dass Nina wohl sehr fleißig gewesen war. Sie lächelte in sich hinein, als sie kurz daran dachte, dass sie mittags völlig Pflicht vergessen am Plaudern gewesen war und danach in der Wohnung wie ein Wirbelwind gewütet hatte, um die verquasselte Zeit wieder aufzuholen. Doch dann streifte sie diesen Gedanken ganz schnell von sich. Sie hatte den ganzen Tag über genug um die Ohren - da musste sie sich für ein Plauderstündchen nicht rechtfertigen. Sie zog es vor, Rolf nichts von ihrem Besuch in der Erdgeschosswohnung zu erzählen.

Rolf verschwand erst mal im Bad, um zu duschen, da er durch die Arbeit in der Werkstatt ziemlich verschwitzt und ölverschmiert war.

Wenig später saßen sie alle drei in der Küche am gedeckten Tisch. Phips, der in seinem Hochstuhl saß, bekam seinen Brei und alberte zwischendurch immer wieder mit seinem Vater herum.

Ihrem Job ging Nina dann ab dem nächsten Abend wieder nach. Sie half zwei Mal in der Woche abends für ein paar Stunden in einer Gaststätte aus, um ihre eigene Kasse etwas aufzubessern und finanziell nicht so abhängig von Rolf zu sein. Und auch, um mal für ein paar Stunden aus ihrem Trott herauszukommen und andere Leute um sich zu haben. Rolf hatte schon mehrfach protestiert, weil er der Auffassung war, Nina müsse gerade jetzt für den Kleinen da sein. Doch Nina hatte sich jedes Mal tapfer durchgesetzt. Ihr kleines Stück Freiheit – das wollte sie sich auf jeden Fall bewahren.

Treue ist nur ein Wort

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