Читать книгу Terapolis - Tom Dekker - Страница 4

Оглавление

III

In der Morgendämmerung schlich Greg auf leisen Sohlen aus dem Lagerhaus. Philt grunzte in seiner Hängematte vor sich hin, Josh, Frog und Suri schnarchten in ihren Strohhaufen um die Wette. Peanuts Atem ging unruhig. Vermutlich träumte sie. Hoffentlich etwas Schönes, dachte Greg bei sich. Wie gern würde er auch noch ein paar Stunden dösen und träumen, doch er musste pünktlich in der Fabrik sein. Bummelei wurde mit dem Abzug von Wertmarken bestraft, selbst bei einem so freundlichen Unternehmer wie Jesua Fingrey. Vorsichtig schob er die verwitterte Tür auf, um zu verhindern, dass sie in den Angeln quietschte und er die anderen damit weckte.

Greg war bei Weitem nicht der einzige, der zu dieser Zeit auf den Straßen unterwegs war. Die letzten Nachtstreicher, Trunkenbolde und andere zwielichtige Gestalten, die ihr Tagewerk lieber bei Nacht verrichteten, kamen ihm entgegen. Doch der weitaus größere Strom an Menschen drängte in die Richtung, die auch Greg eingeschlagen hatte. Richtung Osten, zu den großen Fabriken, deren rauchende Schlote unablässig Wolken in den Himmel schickten. Greg reihte sich in den Strom der Arbeiter ein. Jetzt fühlte er sich sicherer. Wie jeden Morgen beeilte er sich, vom Lagerhaus bis zu den großen Straßen zu kommen. Der erste Teil des Weges war nicht ungefährlich. Oft war er ganz allein in den Gassen unterwegs. Niemand würde bemerken, wenn ihm etwas zustieße. Doch einmal in die Masse der Arbeiter, die auf dem Weg in die Fabriken waren, eingetaucht, verspürte Greg eine unbegründbare Sicherheit. So als würde sich diese Herde von Kollegen, die alle das gleiche Ziel hatten, wie ein schützender Kokon um ihn legen.

Greg ließ sich einfach vorwärts treiben. Seine Füße setzten sich automatisch vor einander und er konnte ungestört seinen Gedanken nachhängen. Wieder einmal träumte er sich in eine andere Welt, in der er jeden Morgen in eine richtige Schule gehen konnte, weil seine Eltern ihn zu einem Aethernauten ausbilden lassen wollten.Wie stolz sie wären, wenn er als gefeierter Entdecker und Abenteurer nach Hause zurückkehren würde. Ein verträumtes Lächeln stahl sich in Gregs Züge. Er war den Weg schon so oft gegangen, dass ihm der abrupte Übergang von den alten halb zerfallenen Gründerzeithäusern, die einen großen Teil seines Weges säumten, zu den riesigen Rauch ausstoßenden Fabrikgebäuden kaum noch auffiel. Erst, als mehr und mehr Heizer, Dreherinnern, Weberinnen, Gießer, Dampfmaschinenmonteure und weiß der Kuckuck was noch alles für Berufe in den vielen Werkhallen benötigt wurden, nach rechts und links abbogen, um zu ihren Arbeitsstellen zu gelangen und sich die Menge langsam lichtete, kehrte er mit seinen Gedanken in das Hier und Jetzt zurück.

„Na, Greg, ausgeschlafen?“, rief ein Junge mit verschlafener Stimme neben ihm.

Greg schüttelte den Kopf. „Aufgehört.“ Er musterte den Jungen neben sich ausgiebig. „Du siehst gar nicht gut aus, Orin.“, stellte er unverblümt fest.

„Wird wohl daran liegen, dass ich wieder eine Nachtschicht einlegen musste.“, brummte der Angesprochene leise.

„Nachtschicht?“, fragte Greg verwirrt.

Orin zuckte mit den Schultern. „Wir hatten gestern nichts mehr zu essen. Also mussten wir los und uns etwas besorgen.“

Greg runzelte die Stirn. Orin arbeitete genauso hart wie alle anderen in der Fabrik, aber seine kleine Gemeinschaft schaffte es nicht, genügend Wertmarken zu beschaffen, um über die Woche zu kommen. Das war doch nicht gerecht. Wie sollte Orin ordentlich arbeiten, wenn er zusätzlich noch nachts unterwegs sein und etwas Essbares stehlen musste?

„Es gab doch keine Schwierigkeiten?“, erkundigte sich Greg besorgt.

„Nein, heute nicht.“, sagte Orin. Ein breites Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. „Stell dir vor, wir haben drei Kisten Dosenbohnen gefunden. Standen einfach auf einer Parkbank. Und niemand weit und breit, dem sie gehört haben könnten. Ich konnte es kaum glauben, aber Lotus hat gesagt, wenn etwas so allein herumsteht, dann gehört es dem Finder. Davon werden wir ein paar Tage satt.“ Orin strahlte über das ganze Gesicht.

„Das freut mich für euch.“ Greg klopfte dem Jungen, der einen halben Kopf kleiner war als er selbst, kameradschaftlich auf die Schulter. „Sieh bloß zu, dass du heute bei der Arbeit nicht eindöst! Sonst fällst du noch in eine Gussform und dann war's das mit den leckeren Bohnen.“

„Eye, eye, Sir!“, brüllte Orin in Militärton und tippte sich mit zwei Fingern an seine Zeitungsjungenmütze. Dann zwinkerte er Greg zu und bog nach links zum riesigen Tor einer Stahlgießerei ab, in der bereits die Funken der gegossenen Stahlschmelze stoben.

Greg seinerseits ging nach rechts auf die Dieselmotorenfabrik von Jesua Fingrey zu. Es gab nur zwei solcher Fabriken in der ganzen City, und Greg war nicht wenig stolz darauf, in einer davon untergekommen zu sein.

Die kleine Werkstatt, in der Greg seit ein paar Wochen den Großteil seiner Tage verbrachte, war noch dunkel, als er eintraf. Smitty und Brown, die beiden alten Haudegen des Schweißens mit ihren von unzähligen Verbrennungen gezeichneten Armen, die hier schon seit Ewigkeiten das Kommando führen mussten, waren noch nicht da. Greg nutzte die Stille, um ganz in Ruhe das Werkzeug zusammenzusuchen. Er legte die großen Handschuhe bereit, hängte sich eine schwere Schürze um und schleppte die Acetylen-Flasche herbei. Als nächstes kam die riesige Sauerstoffflasche an die Reihe. Greg stellte sich seitlich neben die Metallflasche, die ihm fast bis zum Bauch reichte, kippte sie leicht an und rollte sie auf der Außenkante des Bodens vorsichtig in Richtung seiner Werkbank.

„Jetzt schau dir das an, Brown!“, übertönte Smittys tiefer Bass das Kratzen der Flasche auf dem steinernen Boden. „Kaum einen Monat hier und schon macht der Junge alles alleine. Wenn er so weitermacht, nimmt er uns noch die ganze Arbeit weg.“, feixte er.

„Jaja. Soll sich mal nicht so anstellen. Wird nicht weniger Arbeit, nur weil wir vor der Zeit anfangen.“, grunzte Brown.

Greg wusste, dass hinter Browns bärbeißiger Art ein guter Kern steckte, auch wenn es einige Zeit gedauert hatte, das herauszufinden. In den ersten Tagen in der Schweißerei hatte er richtiggehend Angst vor dem großen behaarten Mann gehabt, der permanent zynische oder bösartige Kommentare von sich gab. Lieber hatte er sich an Smitty mit seiner fröhlichen, hilfsbereiten Art gehalten. Aber in der letzten Woche, als er die Flamme falsch eingestellt und beinahe eines der wichtigsten Rohre im Kühlsystem der Fabrik zuschanden gemacht hätte, da war es Brown gewesen, der ihm kommentarlos zu Hilfe geeilt war, gemeinsam mit ihm den Fehler ausgebügelt und Greg dann kameradschaftlich auf die Schulter geklopft hatte. Das würde Greg nie vergessen. Wie man sich doch in Menschen täuschen konnte.

„Guten Morgen.“, stöhnte Greg in Richtung seiner Kollegen. Er stellte die Sauerstoffflasche vorsichtig ab, richtete sich auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich will nur gut gerüstet sein. Es gibt schon genug, was ich noch lernen muss.“, sagte er mit einem verschwörerischen Blick in Browns Richtung.

„Stimmt.“, antwortete der und machte eine wegwerfenden Handbewegung. „Du gehst heute am besten mit Smitty. Die Kühlleitungen für die neue Maschine müssen überprüft werden. Würde mich wundern, wenn da nichts nachgebessert werden muss.“ Smitty und Greg nickten. „Ich kümmere mich um die neuen Rohre für die Luftzufuhr. Ich weiß nicht, wozu das gut sein soll, aber wenn die Vorarbeiter einem sagen, man soll an komischen Rohren herumschweißen, dann tut man das lieber, ohne zu viel nachzufragen.“, grummelte er und schaute dabei mit einer hochgezogenen Augenbraue zu Greg.

Der lachte kurz auf. „Ich habe es verstanden, Brown. Keine dummen Fragen. Einfach machen, was mir gesagt wird.“ Das war in der Praxis leichter gesagt als getan. Greg konnte nicht verstehen, was so falsch daran war, wissen zu wollen, wozu man etwas tat und was für Vorteile das Ganze hatte. Aber aus irgendeinem Grund waren die Vorarbeiter ständig der Meinung, dass ihn so etwas nichts anging. Greg hatte ja den Verdacht, dass sie selber auch nicht wussten, welchen Grund ihre Anweisungen hatten, aber er hütete sich, das laut zu sagen.

Smitty klopfte ihm derb auf die Schulter und riss ihn aus seinen Gedanken. „Na, dann lass uns mal den Wagen beladen!“

Gemeinsam hievten sie ihre Gerätschaften auf den kleinen Wagen, auf dem Platz für die Gasflaschen und das Werkzeug war und trotteten durch die riesige Fabrikhalle, die vom Hämmern und Scheppern hunderter Mechaniker erfüllt war. Überall wurde geschraubt, geklopft, gestöhnt und geflucht. Riesige Einzelteile schwebten an großen Ketten unter dem Hallendach entlang, Jungen schoben Wagen mit Schrauben, Muttern und Kleinteilen durch die schmalen Gänge, Arbeiter zogen Riemen auf oder setzten Kolben ein. Nicht zum ersten Mal wunderte sich Greg, wie aus all diesem scheinbaren Chaos am Ende so wunderbare Motoren werden konnten, wie man sie im Warenlager bestaunen konnte. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass er irgendwann schon noch dahinterkommen würde, wie das alles organisiert war. Und viel wichtiger war ohnehin erst einmal, dass er verstand, wie die Motoren funktionierten und wie man sie reparierte. Mit seiner raschen Auffassungsgabe für die Motoren war er ja überhaupt erst dem Produktionsleiter aufgefallen und nur dadurch, dass er so geschickt war, hatte er die Stelle in der Schweißerwerkstatt erhalten, was ihm unglaublich viele Wertmarken einbrachte.

„Träumst du dich schon wieder weg?“, fragte Smitty freundlich. „Sind schon tolle Dinger, unsere Motoren. Und wie ich hörte, sollst du ein besonderes Händchen dafür haben?“ Er zwinkerte Greg von der Seite an.

„Naja, ich habe schon den ein oder anderen Fehler gefunden. Wenn ich richtig gut schweißen kann, darf ich vielleicht irgendwann in der Fehlerkontrolle anfangen.“, antwortete Greg nicht ohne Stolz. Er bewunderte die findigen Mechaniker, deren Aufgabe es war, bei den Motoren, die nach der Fertigung nicht rund liefen, die Fehler zu finden und sie so zu reparieren, dass sie doch noch funktionierten. Immer, wenn er in ihrer Nähe etwas zu tun hatte, blickte er ständig zu ihnen hinüber, um so viel wie möglich aufzuschnappen.

„Das ist ein großes Ziel. Nur die Besten kommen dort hin.“, sagte Smitty versonnen. „Aber du schaffst das schon.“ Aufmunternd zwinkerte er Greg zu. „Noch nicht heute, wohlgemerkt.“, fügte er mit erhobenem Zeigefinger hinzu. „Jetzt machen wir uns erst einmal an die Rohre.“

„Achtung. Eine dringende Durchsage.“, tönte plötzlich eine Frauenstimme, offenbar durch ein Megaphon verstärkt, durch die Fabrikhalle.

„Was denn, eine neue Sekretärin? Was ist denn mit Molly?“, fragte Smitty verwundert und schaute sich in der Halle um, in dem Versuch, den Ursprung der Durchsage zu erspähen.

„Greg aus der Schweißerwerkstatt soll bitte umgehend in Mister Fingreys Büro kommen!“, schallte die Stimme erneut durch die Werkhalle.

Greg schaute verdutzt zu Smitty, der nicht weniger erschrocken zurückstarrte. Was hatte das zu bedeuten? Warum wollte Fingrey ihn sprechen? Hatte Brown dem Chef etwa doch etwas von seinem Patzer letzte Woche erzählt?

„Herrje. Direkt zum Chef. Das ist aber sehr ungewöhnlich!“ Smitty kratzte sich am Kopf und blickte Greg besorgt an. „Ich hoffe, das gibt keinen Ärger. Du hast doch nichts ausgefressen, oder?“

In Gregs Kopf überschlugen sich die Gedanken, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum Jesua Fingrey ihn persönlich in seinem Büro sehen wollte.

Wie in Trance schüttelte er den Kopf. „Nein. Wirklich nicht. Ob es wegen der falschen Flamme letzte Woche ist?“

Smitty schüttelte entschieden den Kopf. „Auf keinen Fall. Wegen so einer Lappalie bemüht sich der Chef nicht. Das würden die Vorarbeiter erledigen. Und außerdem glaube ich nicht, dass Brown etwas erzählt hat. Er hat ein loses Mundwerk, das wohl, aber ein Herz aus Gold. Und dich hat er ins Herz geschlossen, das kannst du mir glauben.“ Bei diesen Worten deutete er mit dem Zeigefinger so entschieden auf Greg, dass der Angst bekam, gleich aufgespießt zu werden.

„Aber was kann er dann von mir wollen?“

Smitty zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung. Und du wirst es nicht herausfinden, indem du noch länger hier herumstehst und Maulaffen feil hältst. Los, mach dich auf den Weg!“, rief er und scheuchte Greg mit eindeutigen Handbewegungen davon. „Ich kümmere mich schon um die Ausrüstung.“, setzte er hinzu, als er Gregs zweifelnden Blick auf den Wagen bemerkte. Seinen Mund hatte er zu einem breiten Lächeln verzogen, doch es gelang ihm nicht, Greg zu täuschen. Aus seinen Augen sprach eine tiefe Besorgnis. „Los jetzt! Lass den alten Herrn nicht warten!“

Greg machte auf dem Absatz kehrt und stürmte durch die Werkhalle. Smitty hatte Recht. Egal, was Fingrey von ihm wollte, es war sicher keine gute Idee, den Firmeninhaber durch Bummelei noch mehr in Rage zu versetzen. Während er an den Arbeitern, die an seinen geliebten Dieselmotoren in den unterschiedlichsten Fertigungszuständen herumwerkelten, vorbeihastete, grübelte er weiter nach, was der Grund für diese ungewöhnliche Vorladung sein konnte. In der Tat hatte er in den immerhin fünf Monaten in der Fabrik kein einziges Mal erlebt, dass einer seiner Kollegen über ein Megaphon zu Mister Fingrey bestellt worden war.

Auch, als er an der Tür mit der großen verschnörkelten Aufschrift „Jesua Fingrey, Inhaber“, angelangt war, hatte sich seine Verwirrung kein Stück gelegt. Zögerlich klopfte er an, aber eine Antwort blieb aus. Er gab sich einen Ruck und klopfte diesmal fester gegen die schwere Holztür. Wieder wartete er einige Sekunden, aber niemand forderte ihn auf, einzutreten. Greg ging verwundert ins benachbarten Büro von Molly, Jesua Fingreys uralter Sekretärin. Hier stand die Tür offen, aber weder Molly noch die neue Sekretärin, die ihn ausgerufen hatte, waren zu sehen.

Greg bemerkte, dass die Verbindungstür vom Vorzimmer zu Fingreys Büro nur angelehnt war. Er schob sie vorsichtig auf und blickte sich im Büro des Fabrikbesitzers um. Der Raum versprühte den Charme von Arbeit. Von viel Arbeit, um genau zu sein. Die Wände waren bis unter die Decke mit Regalen vollgestellt, in denen sich Papierstapel, Bücher und Ordner drängten. Ein schwerer, aus edlem Holz gefertigter Schreibtisch mit Schubfächern bog sich fast unter der Last zahlloser Dokumente, die sich auf ihm stapelten. Mister Fingrey saß in einem großen ledernen Ohrensessel, halb mit dem Rücken zu Greg. Er schien offenbar vertieft in ein Schriftstück, das er in der Hand hielt, so vertieft, dass er weder das Klopfen gehört hatte, noch auf Gregs Schritte reagierte, als der nun vorsichtig zum Schreibtisch schlich.

„Mister Fingrey?“ Greg räusperte sich unbeholfen. Es war ihm unangenehm, wie ein gemeiner Dieb in das Büro des Firmeninhabers zu schleichen, aber er wollte Jesua Fingrey auch nicht erschrecken. „Sie hatten mich rufen lassen?“ Wenn er auf eine Reaktion des Firmeninhabers gewartet hatte, wurde Greg enttäuscht. Fingrey saß weiter seelenruhig in seinem Sessel und schien gewillt zu sein, sich von keinem Vorkommnis welcher Art auch immer von seiner Lektüre abbringen zu lassen.

Greg war neben dem Schreibtisch angekommen. Ihn beschlich das ungute Gefühl, dass etwas in dem Raum nicht stimmte. Die Standuhr in der Ecke tickte übermäßig laut, alle anderen Geräusche, die man an einem Arbeitstag im Büro eines so bedeutenden und viel beschäftigten Mannes erwartet hätte, waren dagegen kaum zu vernehmen. Von Mister Fingrey im Besonderen ging eine gespenstische Stille aus.

Greg warf einen nervösen Blick auf den Mann in dem Ohrensessel und erstarrte. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, den Schrei, der sich aus seiner Kehle Bahn brechen wollte, zu unterdrücken. Entgeistert starrte er Jesua Fingrey an. Der reiche Fabrikant saß in seinem Anzug da, den Blick auf einen Brief gerichtet, aber keine Bewegung ging von seinem Körper aus. Noch nicht einmal der Brustkorb hob und senkte sich. Eine klaffende Wunde am Hals machte Greg klar, dass sich Mister Fingreys Lungen nie wieder mit Luft füllen würden.

Aber was hatte das alles zu bedeuten? Warum hatte Fingrey ihn rufen lassen und war dann plötzlich tot? Das ergab doch keinen Sinn!

Plötzlich öffnete sich die Bürotür hinter Greg, der, unfähig sich zu bewegen, einfach nur dastand und den Blick nicht von dem Toten wenden konnte. Die Schritte hinter ihm verharrten in der Bewegung. „Herrje.“, raunte eine kratzige Stimme, die Greg entfernt vertraut vorkam. „Was ist denn hier passiert?“

„Achtung, eine weitere Durchsage.“, vernahm Greg wie aus weiter Ferne erneut die Frauenstimme aus dem Megaphon. „Alle Vorarbeiter mögen sich bitte umgehend bei Mister Fingrey einfinden.“

„Bei allen Heiligen!“, knurrte der Mann in Gregs Rücken. „Greg?“

Der Ausruf seines Namens wirkte auf Greg, als hätte ihm jemand am frühen Morgen einen Eimer kalten Wassers über den Kopf geschüttet. Ruckartig drehte er sich um und starrte den Mann an, der ihn in dieser kompromittierenden Situation überrascht hatte. Er war nicht viel größer als Greg, aber seiner Körperform nach zu urteilen sicher doppelt so schwer. Wollmantel, Tuchhose, Stiefel und Schiebermütze in Schwarz- und Grautönen gaben ihm den typisch verlotterten Ausdruck eines Mannes, der viel zu lange für wenig Geld in den Rauch spuckenden Fabrikhallen des Ostviertels gearbeitet hatte. Ungewaschene graue Haarsträhnen fielen über seine rechte Gesichtshälfte und verdeckten ein Metallgerüst, dass sich um das rechte Auge rankte. „Nick?“, fragte Greg entgeistert, als er den alten Mann erkannt hatte.

„Ja, verdammt.“, fluchte der und packte Greg am Arm. „Komm! Wir müssen hier weg. Gleich wimmelt es hier nur so von Leuten.“ Er stürmte aus dem Büro und zerrte den Jungen hinter sich her. Greg ließ diese Behandlung willenlos über sich ergehen. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren und war auf dem Weg zu mehreren Erkenntnissen, die alle ein für ihn sehr unangenehmes Ende dieser Sache vorhersagten. Er musste aus der Fabrik heraus. Das war ihm soeben klar geworden. Aber wohin?

Mechanisch liefen seine Füße durch die Fabrik und fanden ihren Weg auch ohne das Zutun seines Kopfes. Er kannte jeden Winkel hier und wusste, wo der schnellste Weg zum Ausgang führte.

„Nicht da entlang!“, bellte der alte Nick plötzlich und zerrte ihn in eine schmale Lücke zwischen zwei Maschinen. „Hier kommen zu viele Leute entlang. Komm!“ Er winkte Greg, ihm zu folgen, und eilte durch eine schmale Gasse zwischen mehreren Maschinen ins hintere Ende der Fabrikhalle. Greg folgte ihm dicht auf den Fersen. Als sie die Wand erreicht hatten, schob Nick mühsam eine Metallplatte beiseite. „Fass mit an, Greg! Oder willst du, dass sie dich schnappen?“, fragte er schnaufend.

Gemeinsam schoben sie die Platte zur Seite. Zum Vorschein kam eine kleine Pforte, die Greg noch nie bemerkt hatte. Ihm blieb keine Zeit, sich zu wundern, woher Nick, den er noch nie in der Fabrik gesehen hatte, von diesem Ausgang wusste, da wurde er auch schon hindurchgeschoben. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Seine Beine schlotterten und drohten nachzugeben, aber Nick schlang ihm einen Arm um die Schultern und schob ihn weiter. Vor ihnen entfernten sich zwei Dieselroller in schneller Fahrt, sonst war es zu dieser Stunde, in der alle Arbeiter an ihren Maschinen waren, ungewöhnlich ruhig auf dem großen Industriegelände.

Terapolis

Подняться наверх