Читать книгу Terapolis - Tom Dekker - Страница 7

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VII

Greg krallte sich verbissen an der Lasche fest. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit waren ihm die Finger eingeschlafen. Sein Rücken schmerzte. Die Füße kribbelten, da das Blut nicht mehr richtig durch die Beine floss. Das schlimmste aber war die Müdigkeit. Diese bleierne Müdigkeit, gegen die er schon seit Stunden ankämpfen musste. Denken, bloß nicht aufhören nachzudenken, schärfte sich Greg immer wieder ein. Zum Glück erinnerten ihn die rhythmischen Schläge der Schienen in seinem Rücken ständig daran, dass er in lebensgefährlicher Lage auf dem Achslager eines Zugwaggons durch eine von der schwarzen Nacht verhüllte Landschaft schwebte, die er nicht kannte. Er hatte ja noch nicht einmal den Hauch einer Ahnung davon, wohin der Zug überhaupt fuhr.

Dabei wusste er doch einiges über Züge, vor allem über Dieselzüge. Schließlich bauten sie in der Fabrik die Motoren, ohne die diese Züge sich nie vom Fleck rühren würden. Greg wusste, dass es eine große technische Meisterleistung gewesen war, Lokomotiven überhaupt mit einem dieselgetriebenen Antrieb auszustatten. Dazu mussten diesel-anbarische Systeme entwickelt werden, und darin war die Firma Jesua Fingrey Diesel führend. Bei diesem Gedanken spürte Greg einen Stich in der Brust. Er war immer stolz auf seine Arbeit gewesen, aber diese Arbeit gab es für ihn nicht mehr. Vielleicht gab es auch bald keine Firma Jesua Fingrey Diesel mehr? Dabei hatten sie noch so viel vorgehabt. Die Leistungsübertragung der Motoren wollten sie verbessern, damit die Züge endlich auch mehr als 80 Meilen in der Stunde zurücklegen konnten. Eine bessere Beleuchtung war nötig, um die Geschwindigkeit der Nachtzüge nicht dauerhaft auf 40 Meilen pro Stunde drosseln zu müssen. Von diesel-hydraulischen Systemen hatten sie geträumt. Überhaupt, so selten und teuer wie Diesel war, mussten dringend effizientere Motoren entwickelt werden. Aber lohnte es sich für Greg überhaupt noch, über so etwas nachzudenken?

Ein leichter Graustich, der das undurchdringliche Schwarz auf dem Gleisbett durchbrach, lies Greg erahnen, dass die Morgendämmerung nicht mehr fern sein konnte. Der Junge drehte den Kopf so weit, wie es ihm seine unbequeme Lage erlaubte, aber es war ihm nicht möglich, etwas außerhalb des Achsenschachtes unter dem Zug zu erspähen. Angestrengt lauschte er in die Nacht hinein, aber außer dem Rattern der Räder, dem Brausen des Fahrtwinds und dem unermüdlichen Knarren der Waggons war hier unten nichts zu hören.

Greg wollte sich gerade wieder etwas bequemer zurechtrucken, als ein neuer Ton seine Aufmerksamkeit weckte. Von weiter vorn drang ein metallisches Klappern an sein Ohr. Er drehte den Kopf in die entsprechende Richtung, konnte aber im Halbdunkel nichts erkennen. Eine Zeitlang konnte er wieder nur die ihn seit Stunden begleitenden Fahrtgeräusche des Zuges ausmachen, doch dann erklang das Klappern erneut, diesmal deutlich näher. Es klang, als wäre jemandem ein Werkzeug aus der Tasche gerutscht und auf die Schwellen des Gleisbetts gefallen. Aber wer sollte denn während der Fahrt am Zug herumschrauben? Das ergab keinen Sinn.

Wieder ertönte das Scheppern. Greg sah einen Funken auffliegen, aber bevor er die Stelle genauer in den Blick nehmen konnte, war der Zug auch schon darüber hinweggerauscht. Greg konnte nichts sehen. Er spürte, wie sich eine große Unruhe zu seiner inneren Anspannung gesellte. Egal, was passierte, er durfte auf keinen Fall loslassen. Schon bald nach der Abfahrt hatte er verstanden, warum der Tramp ihm gerade diesen eigentlich doch so offensichtlichen Rat mit auf die Reise gegeben hatte. Es war gar nicht so einfach, stundenlang an das Festhalten zu denken. Aber das musste er. Noch einmal verstärkte Greg seinen Griff um die Lasche und prüfte den festen Sitz seiner Füße. In dem Augenblick, als er den Kopf wieder zurücklegte, drang ein furchtbar lauter Knall vom Gleisbett direkt neben ihm an seine Ohren. Erschrocken zuckte Greg zusammen und drehte den Kopf reflexartig in Richtung der Stelle, aus der das Geräusch gekommen war. Er spürte noch, wie ihn etwas Hartes am Kopf traf, dann wurde es schwarz vor seinen Augen.

VIII

„Rück doch mal ein Stück! Ich will auch was sehen!“

„Pschschscht! Du weckst ihn noch auf, Nici!“

„Na und? Ist doch gut.“

Wie von Ferne drangen Stimmen an Gregs Ohr. Er versuchte, sich zu erinnern, wo er war, aber alles, worauf er sich konzentrieren konnte, waren die heftigen stechenden Schmerzen in seinem Kopf, seiner Schulter und seinem Rücken.

„Sieh mal. Seine Lider flackern. Ich glaube, er kommt zu Bewusstsein.“, hörte er eine helle Stimme eines Mädchens aufgeregt rufen.

„Leise, Nici!“, zischte sie eine zweite, etwas tiefere Mädchenstimme an.

„Was denn? Ist doch toll, wenn er zu sich kommt. Dann können wir endlich hier weg. Ich hab nämlich Hunger.“, grummelte das zurechtgewiesene Mädchen.

Greg begab sich innerlich auf eine Reise durch seinen Körper und versuchte herauszufinden, woher die Schmerzen kamen.

„Ich glaube, du hast Recht, Nici. Seine Arme und Beine bewegen sich.“, hörte er einen Jungen sagen. „Was meinst du, Mara?“

„Nun, Mav, als die eindeutig begabteste in Sachen Krankenpflege würde ich sagen, dass es möglich ist, andererseits könnte es auch ein böser Traum sein, ein Vorzeichen seines nahenden Todes.“, sagte die tiefe Mädchenstimme in düsterem Tonfall. „Ein interessantes Studienobjekt, wenn du mich fragst.“, setzte sie hinzu und in ihrer Stimme schwang so viel morbide Faszination mit, dass es Greg kalt den Rücken hinunterlief. Er beschloss, möglichen weiteren Prophezeiungen seines baldigen Ablebens zuvor zu kommen und die Augen zu öffnen. Mit dem rechten funktionierte das auch ganz gut, im linken Auge breitete sich aber so plötzlich ein stechender Schmerz aus, der ihm mitten ins Gehirn schoss, dass er dieses sofort wieder schloss. Aus einem Auge, dass sich erst einmal an das matte Licht in seiner Umgebung gewöhnen musste, starrte er an eine Decke aus unbehauenem Stein, die sich etwa 2 Schritt über ihm erstreckte.

„Seht nur! Er ist wach.“, rief die Stimme, die zu dem Mädchen namens Nici gehörte, begeistert. Greg hörte, wie zwei Hände zusammenklatschten.

Langsam hatte sich Gregs Auge an die Lichtverhältnisse gewöhnt. Er versuchte, seine Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen. Das erste, was er sah, war ein Paar grüner Augen. Sie starrten ihn besorgt an. Das musste diese Mara sein, die seinen Tod befürchtet hatte. Ihr ernstes, verkniffen dreinblickendes Gesicht wurde von einer Mähne aus rotbraunen Locken eingefasst.

„Kannst du mich hören, Fremder?“, fragte sie Greg mit fast beschwörender Stimme.

„Er ist doch kein Geist, Mara!“, rief ein Junge belustigt aus dem Hintergrund. „Du kannst ganz normal mit ihm reden!“

„Erzähl mir nicht, wie ich meine Arbeit zu machen habe, Stan!“, raunzte Mara zurück, ohne den Blick von Greg abzuwenden.

„Deine Arbeit?“, kicherte der Junge. „Bist du jetzt eine Ärztin? Oder eher Schamanin? Du bist noch nicht mal so alt wie Mav, und selbst der ist noch lange nicht erwachsen. Du hast noch gar keine Arbeit.“

Mara verdrehte genervt die Augen. „Du hast keine Ahnung von solchen Dingen. Ich habe eine Berufung, da muss ich doch nicht warten, bis ich erwachsen bin.“

„Könnt ihr euch vielleicht später weiterstreiten?“, fragte ein Junge, der zu Gregs anderer Seite hockte. Das musste wohl dieser Mav sein. Greg versuchte, seinen Kopf zu drehen, um ihn betrachten zu können.

„Schschschsch.“, machte Mara und legte ihm eine Hand auf die Brust. „Nicht so hastig. Wir müssen erst einmal sehen, ob bei dir alles heil geblieben ist. Hast du Schmerzen?“, fragte sie. Greg war sich nicht ganz sicher, aber für ihn schwang in ihrer Stimme die wage Hoffnung mit, dass er tatsächlich Schmerzen haben könnte.

„Ja. Kopf, Schultern, Rücken.“, stöhnte er.

„Er kann reden!“, jubelte Nici hinter ihr.

„Klar kann er reden.“, entgegnete Stan gereizt. „Jeder kann reden.“

„Woher willst du das wissen? Bei uns kann jeder reden. Aber vielleicht ja nicht da, wo er herkommt, wo immer das sein mag!“, entgegnete Nici streitlustig. „Wo kommst du her?“, rief sie neugierig in Gregs Richtung.

„Nici!“, riefen Mav und Mara empört im Chor.

„Er ist von einem Zug gefallen und hat sich verletzt. Es gibt jetzt wichtigere Dinge als deine Neugier zu befriedigen.“, setzte Mav als Erklärung hinzu.

In diesem Moment fielen Greg die Ereignisse der letzten Stunden wieder ein. Wie er Jesua Fingery tot in seinem Sessel gefunden hatte, das Treffen mit den Tramps in dem alten Lagerhaus, der alte Nick und der Nachtzug, das metallische Klirren. Er war vom Zug gestürzt? Offenbar konnte er von Glück sagen, wenn ihm nur Kopf, Schultern und Rücken wehtaten. Diese Erkenntnis gab ihm neue Kraft. Er stützte sich auf den linken Arm, dessen Schulter ihm weniger Schmerzen bereitete und blickte in Nicis Richtung. Sie sah Mara so ähnlich, als sei sie ihr aus dem Gesicht geschnitten, nur dass sie mehr Sommersprossen hatte und eine feine Narbe ihre rechte Wange zierte. Außerdem trug sie, wie Greg verwundert feststellte, Jungenkleidung, im Gegensatz zu Mara, die ein grünes Wollkleid mit engem Mieder anhatte, wie er aus dem Augenwinkel bemerkte.

„City.“, keuchte er. „Ich komme aus der City.“ Die Schmerzen im Rücken wurden beim Sprechen fast unerträglich, so dass er sich wieder nach hinten gleiten ließ und für einen Moment das Auge schloss.

„Nur nicht einschlafen, Fremder. Wenn du jetzt einschläfst, wirst du nie wieder aufwachen. Dann stirbst du bestimmt.“, hauchte Mara besorgt.

Greg öffnete das Auge wieder. „Ich sterbe nicht, keine Bange.“ Er versuchte sich an einem ermutigenden Lächeln, was ihm zu seinem Erstaunen ohne zusätzliche Schmerzen gelang. „Wo bin ich hier?“

„Nicht in deiner City jedenfalls.“, knurrte der Junge namens Stan. „Du bist vom Zug gefallen.“

„Besser gesagt, sie haben dich losgeeist.“, fügte Mav hinzu.

Greg drehte seinen Kopf zu ihm. „Sie haben was gemacht?“

„Loseisen.“, erwiderte Mav mit Unverständnis in der Stimme. „Du weißt schon.“

„Nein.“, sagte Greg und starrte ihn irritiert an.

„Er hat keine Ahnung, wovon du sprichst.“, kicherte Stan.

„Was, ein Tramp der keine Ahnung vom Loseisen hat?“, wunderte sich Mav. „Was bist du denn für ein Irrer?“

„Heh, jetzt lass ihn mal in Ruhe!“, nahm Mara Greg in Schutz. „Hätte er Ahnung davon, wäre er ja nicht vom Zug gefallen, oder?“

„Doch, wäre er.“, stellte Stan Maras Behauptung richtig. „Gegen das Loseisen kann man nichts machen. Das ist das Risiko jedes Tramps. Ein Stück Eisen an einer langen Schnur. Das schmeißen sie zwischen den Waggons auf das Gleisbett. Dann prallt es dort ab und knallt gegen die Achsvorrichtungen, auf denen die Tramps reisen. Wenn es dich trifft, hast du keine Chance. Sie machen es bei den Nachtzügen regelmäßig. Ich habe noch nie davon gehört, dass ein Tramp so einen Zug benutzt. Ist doch klar, dass man damit nicht weit kommt.“

„Ich bin kein Tramp.“, versuchte Greg klarzustellen.

„Genau, und darum fährst du auf dem Achslager eines Zuges und wirst losgeeist. Alles klar, Mann.“, spottete Mav. „Ich glaube, den hat's ganz schön am Kopf erwischt.“, meinte er in die Runde.

„Kannst du deine Beine bewegen?“, fragte Mara Greg mit beinahe mütterlicher Sorge.

Greg probierte es und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass die Beine die einzigen Teile seines Körpers waren, die bei seinem Sturz vom Zug offensichtlich keine Verletzungen davongetragen hatten.

„Geht schon.“, sagte er matt.

„Na dann, lasst uns ihn mal hochhieven und nach Hause bringen. Ich habe keine Lust, die Nacht hier draußen zu verbringen.“, drängte Stan daraufhin.

„Ja, bringen wir ihn nach Hause!“ Nici war von dem Vorschlag Feuer und Flamme. „Die werden Augen machen.“

„Gut, komm ganz langsam hoch! Wir helfen dir.“, sagte Mara und fasste Gregs rechten Arm. Der Junge biss die Zähne zusammen, als ihn ein brennender Schmerz durchfuhr. Sein linker Arm wurde von Mav gepackt und gemeinsam gelang es ihnen, Greg auf die Beine zu stellen. Vorsichtig, um seinen schmerzenden Kopf nicht noch stärker zu belasten, schaute er sich um. Sie waren in einer Art kleiner Höhle. Drei Schritt vor ihm öffnete sich der Ausgang in eine sonnenbeschienene Landschaft. Mav und Nici setzten sich Fliegerbrillen auf, Mara und Stan zogen ihre Schweißerbrillen über die Augen. Nici kam auf Greg zugehüpft und zog ihm seine Schweißerbrille, die über der Zeitungsjungenmütze klemmte, ins Gesicht.

„Oh, eines der Gläser hat einen Riss abbekommen.“, stellte sie bekümmert fest.

Mav musterte Greg mit skeptischem Blick. „Naja. Bis nach Hause wird es gehen müssen. Zum Glück ist der Riss im linken Glas, das brauchst du gerade sowieso nicht.“ Bei diesen Worten sah Greg Mav zum ersten Mal lächeln. Es war ein charmantes, aufgewecktes Lächeln, das ihm den Jungen, der beinahe so dunkle Haut wie Frog hatte, gleich sympathischer erscheinen ließ. „Los, machen wir uns auf den Weg!“

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Mara.

„Greg.“, antwortete Greg. „Ich heiße Greg.“

„Das ist bestimmt nicht sein richtiger Name.“, flüsterte Nici Stan so laut zu, dass es alle hören konnten. „Alle Tramps haben geheime Namen, sagt Hanson.“ Bei diesen Worten nickte sie gewichtig.

„Ich bin kein Tramp.“, stellte Greg noch einmal klar.

„Und sie würden nie zugeben, dass sie Tramps sind.“ Stan zwinkerte Nici auffällig zu.

Greg machte mit Maras und Mavs Hilfe einige Gehversuche, die sich als erstaunlich erfolgreich herausstellten. Schritt für Schritt betraten sie eine Greg völlig neue Welt.

Eine sandige Graslandschaft breitete sich vor seinen Augen aus. Sanfte Hügel brachen an vielen Stellen das eintönige Gelbgrün, das die Landschaft prägte. Hier und da stand ein einzelner Laubbaum, kleine Hecken aus Buschwerk schienen wie zufällig in die Grassteppe gerammt worden zu sein. In der Ferne schienen sich einige bewaldete Hügel zu erheben. Nirgends entdeckte Greg ein Haus, eine Straße oder andere Anzeichen menschlichen Lebens.

Verstohlen betrachtete er seine vier Retter genauer. Mara und Nici sahen sich mit ihren rotbraunen Haaren so ähnlich, dass sich Greg ganz sicher war, Schwestern vor sich zu haben. Mara hatte sich einen großen Strohhut mit Blumenschmuck, der in der Höhle offenbar auf ihrem Rücken gehangen hatte, auf den Kopf gesetzt. Ihr rechter Unterarm bestand, wie Greg sofort auffiel, aus einer durchaus komplexen, aber einfach gearbeiteten Metallprothese. Sie trug die gleichen roten Schnürstiefel wie Nici, damit erschöpften sich aber die Gemeinsamkeiten in der Garderobe der beiden Mädchen auch schon. Nici trug eine schwarze, an den Seiten geschnürte Lederhose, eine braune Lederjacke über einer weißen Seidenbluse, ein Nietenhalsband und ein grünes Kopftuch nach Piratenart. Während Mara eher dem Ideal einer Dame nachzueifern schien, konnte Nici bei flüchtigem Hinschauen durchaus auch als langhaariger Lausebengel durchgehen.

Stan mit seiner ungewöhnlich glänzenden braunen Haut, den unzähligen Leberflecken im Gesicht und den braunen Haaren schien am wenigsten in diese Steppe zu passen. Schwarze Schnürstiefel waren seine einzige Konzession an die Naturgegebenheiten seiner Heimat. Darüber trug er einen grauen Anzug mit Weste und über den gescheitelten braunen Harren auf seinem Kopf prangte ein Statson-Hut, wie er bei den Herren in den Cities gerade schwer in Mode war. Alle paar Schritte fingerte er eine Taschenuhr aus seiner Weste, so als würde es eine Rolle spielen, wie lange sie in dieser Einöde unterwegs waren. Greg hatte die Vermutung, dass er die silbern glitzernde Uhr nur ständig herausholte, um Greg neidisch zu machen, und er musste zugeben, dass Stan das ziemlich gut gelang.

Am fasziniertesten war Greg aber von Mav, der neben ihm ging und ihn immer wieder stützte, wenn er ins Straucheln geriet. Er hatte ebenso braune Haut wie Stan, aber rabenschwarzes, lockiges Haar. Er erinnerte Greg an Frog und Josh zu Hause in der Gemeinschaft, auch wenn die beiden noch dunklere Haut als Mav hatten. Mav trug braune Lederhosen und eine Lederjacke. Ein Nietenarmband und martialische Schnürstiefel komplettierten seine Gewandung. Besonders beeindruckt war Greg aber von der Fliegerhaube, die sich der etwas untersetzte Junge über den Kopf gestülpt hatte. In der City hatte er solche Hauben nur ganz selten gesehen. Die Leute sprachen immer ehrfurchtsvoll von den Männern mit diesen Hauben. Nur Aetheronauten und Aeronauten war es erlaubt, diese Abzeichen ihres waghalsigen Berufsstandes zu tragen. Niemand, der noch nie geflogen war, wäre so anmaßend gewesen, dieses Tabu zu brechen. Ob Mav auch ein echter Flieger war? Als hätte er Gregs Gedanken gelesen, lächelte Mav ihm in diesem Moment zu und nickte fröhlich.

„Das ist ja so aufregend.“ Nici hüpfte begeistert um die kleine Gruppe herum und riss Greg aus seinen Beobachtungen. „Aus welcher City kommst du denn gerade?“ Ihre Neugier und Lebensfreude schienen wirklich unersättlich.

„Aus welcher City?“, fragte Greg verwundert. „Ich komme einfach aus der City.“

„Haha, sehr witzig.“, sagte Stan, ohne jedoch zu lachen.

Greg wollte gerade etwas Patziges antworten, als ihm die Karte einfiel, die sie in dem Lagerhaus am Bahnhof von dem Mann mit dem riesigen Hut bekommen hatten. Natürlich, es gab noch andere Cities. Die Stadt, die ihm sein ganzes bisheriges Leben lang wie der riesige Nabel der Welt vorgekommen war, stellte auf der Karte nur einen Fliegendreck unter vielen anderen Punkten dar.

„Jetzt lasst ihn erst einmal in Ruhe. Er braucht seine Kraft zum Laufen.“, unterbrach Mav das Geplänkel. „Zum Fragen haben wir zu Hause noch genug Zeit.“

„Stimmt.“, pflichtete ihm Mara bei und Greg war den beiden in diesem Moment wirklich dankbar. Er brauchte dringend etwas Zeit, um seine Gedanken zu sortieren. Wenn nur nicht die Schmerzen gewesen wären. Hoffentlich war es nicht mehr weit.

Lange, bevor die Sonne sich anschickte, den Horizont zu berühren, erreichten sie eine Hügelkuppe, von der aus sich für Greg ein überraschendes Bild bot. In einem Talkessel erstreckte sich eine von Straßen durchzogene Ansammlung von Gebäuden, die er mangels eines besseren Begriffs schlicht als City bezeichnet hätte, nur dass sie viel kleiner war als seine eigene. Die Straßen waren weniger breit, die zwei Fabrikgebäude am Ostrand der Siedlung weniger imposant und die Wohngebäude ähnelten den kleinen Reihenhäuschen, die von der Dampfbahngesellschaft vor ein paar Jahren für ihre Angestellten in der Nähe des Bahnhofs errichtet worden waren. Allerdings sah er hier keine roten Ziegelburgen. Stattdessen waren die Häuser weiß getüncht und jedes schien eine Haustür in einer anderen Farbe zu haben. Außerdem konnte Greg zu seiner Verwunderung keine einzige Dieselkutsche durch die Straßen rollen sehen. Er blieb stehen und schirmte sein Gesicht mit der Hand gegen die tiefstehende Sonne ab. Im Osten, von wo aus sie sich der Stadt näherten, erkannte Greg hinter einer Fabrik mit riesigem Schornstein mehrere kleine Manufakturgebäude, aus deren offenen Türen Arbeitslärm herüberklang. Südlich davon befand sich ein kleiner Bahnhof, an den sich große Hallen anschlossen, deren Funktion Greg verborgen blieb. Dahinter konnte er eine größere Anzahl von Gewächshäusern ausmachen. Solche gab es in der City auch, allerdings nur in den Gärten der reichen Leute im Westend und diese hier waren um einige Nummern größer. Die Ortschaft selbst breitete sich wie ein kleines Schachbrett vor Greg aus. Von Osten und Westen führten je drei mit Reihenhäusern gesäumte Straßen auf einen zentralen Platz, von Norden und Süden waren es zwei. Hier schienen bei weitem nicht so viele Menschen zu leben wie in der City.

Mav hielt neben Greg inne und blickte versonnen in das Tal hinab.

„Hübsch haben wir's, oder?“, fragte er mit einem Lächeln auf den Lippen.

Greg nickte. „Ist das eure City?“

„City?“, fragte Mav verwundert. „Wie kommst du denn darauf? Das ist unsere Kolonie!“ - „Wir sind doch keine City!“, fügte er nach einer kleinen Pause entschieden, und für Gregs Geschmack eine Spur zu abfällig, hinzu.

Stan, der neben ihnen zum Stehen gekommen war, schnappte den letzten Satz auf. „He, Mara, Nici, habt ihr das gehört? Greg glaubt, wir hätten eine eigene City.“, brüllte er den Mädchen hinterher, die schon ein Stück weit den Hang hinuntergelaufen waren.

Nici drehte sich um und rief kichernd: „Bloß nicht! Was wollen wir denn damit?“ Dann kehrte sie ihnen wieder den Rücken zu und trottete ihrer Schwester hinterher.

Greg schaute Mav verwundert an. „Wieso? Ist eine City etwas Schlechtes?“

Mav zuckte unschlüssig mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich war nie in einer. Aber man hört nicht viel Gutes über das Leben in den Cities. Es soll laut sein, die Leute sind komisch zueinander, ständig muss man Angst um sein Leben haben und die Dieselkutschen sollen die Luft verpesten.“

Greg betrachtete skeptisch die hohen Schornsteine der Fabriken, die schmutzigen Rauch in die Luft pusteten. „Naja, verpestete Luft habt ihr ja auch zu bieten, oder?“

„Quatsch.“, widersprach ihm Stan entrüstet. „Die Schornsteine sind extra so hoch gebaut, dass der Rauch über die Häuser hinwegzieht und draußen auf dem Land runterkommt. Darum sind die Fabriken ja auch im Osten der Kolonie gebaut worden, weil wir hier fast immer Westwind haben.“, dozierte er. „Es funktioniert ganz gut, solange der Wind sich nicht dreht.“

„Clever.“, meinte Greg interessiert. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie die Anlage der City organisiert war, aber jetzt erkannte er plötzlich, dass man dort offenbar einem ähnlichen Prinzip gefolgt war, denn auch zu Hause lagen die großen Fabrikhallen im Osten der City. „Und nachts muss man bei euch keine Angst haben, auf die Straße zu gehen?“ Diese Vorstellung übte eine magische Faszination auf ihn aus.

„Naja. Du solltest schon eine Fackel mitnehmen, wenn du nicht in irgendetwas Unangenehmes treten willst.“, riet ihm Stan schmunzelnd.

„Aber ausgeraubt oder zusammengeschlagen wird hier niemand.“, nahm ihm Mav den Wind aus den Segeln. Er legte Greg einen Arm um die Schultern. „Na komm! Lass uns runtergehen! Wir erklären dir alles, wenn wir da sind. Du scheinst nicht viel über das Leben in einer Kolonie zu wissen.“

„So wie du über die Cities.“, konnte sich Greg einen Konter nicht verkneifen.

„Da hast du recht.“, stimmte Mav nachdenklich zu.

„Los, los! Die Fabriken werden gleich Feierabend machen. Dann gibt es heißes Wasser. Ich brauche dringend eine Dusche.“, drängte Stan nun zur Eile.

In der Tat konnte man vom Hügel aus sehen, wie immer mehr Menschen auf die Straßen traten und sich vor allem aus den beiden Fabriken größere Gruppen in Richtung des zentralen Platzes auf den Weg machten. Mav nahm Gregs fragenden Blick war. Sanft schob er ihn mit seiner Hand nach vorn. „Später.“, versprach er. „Lass uns erstmal unten ankommen.“

IX

„Pater Elia, Pater Elia! Guck mal, was wir mitgebracht haben!“ Nici hopste aufgeregt vor ihnen über den großen Platz auf einen riesigen, hageren Mann zu, der in einer schwarzen Kutte vor einem eigenartigen Gebäude mit einem hohen Turm stand. Ein grauer Bart und nahezu weiße Haare umrahmten sein schwarzes Gesicht wie eine dicke Wollmütze mit Ohrenklappen, so dass Greg unwillkürlich schmunzeln musste. Der Schmerz, der dabei seinen gesamten Körper ergriff, vertrieb das Lächeln aber sogleich wieder aus seinem Gesicht.

„Soso, was habt Ihr denn mitgebracht?“, fragte der bärtige Mann mit sonorer Stimme und betrachtete mit seinen braunen Augen aufmerksam die ankommenden Jugendlichen.

„Das ist Greg!“, berichtete Nici mit so viel Pathos in der Stimme, dass alle Umstehenden merken mussten, welch wichtige Entdeckung sie gemacht hatten. Als die gewünschte Reaktion ausblieb, fügte sie hinzu: „Wir haben ihn auf den Gleisen gefunden. Er war ganz schön zugerichtet, aber jetzt kann er schon wieder laufen.“

„Ja, das sehe ich.“, erwiderte Pater Elia und tätschelte ihr den Kopf. „Und aus welchem Grund war er auf den Schienen unterwegs?“, fragte er interessiert nach.

„Er war nicht unterwegs.“, beeilte sich Nici zu berichten. „Er hat zwischen den Gleisen gelegen.“

Die Worte des Mädchens lösten unter den Umstehenden ein aufgeregtes Getuschel aus.

„Er wurde losgeeist.“, unterbrach Mara den Redeschwall ihrer Schwester. „Hat Glück gehabt, dass wir ihn da rausgeholt haben. Der nächste Zug hätte ihn bestimmt zermatscht, so dass wir nur noch ein Häufchen blutgetränkte Stofffetzen gefunden hätten.“

Bei dem Gedanken daran, was alles hätte passieren können, wurde Greg ganz übel. Seine Beine drohten nachzugeben und es gelang ihm nur mit Mavs Unterstützung, aufrecht stehen zu bleiben.

„Ja, aber zum Glück haben mein Instinkt und unser beherztes Eingreifen ihn vor diesem schrecklichen Schicksal bewahrt.“ Auch Stan versuchte nun, die Aufmerksamkeit auf seine bedeutende Rolle bei Gregs Rettung zu lenken.

„Dein Instinkt?“, fragte Nici fassungslos.

„Aber ja!“ Stan nickte begeistert. „Ich hatte doch vorgeschlagen, dass wir zu der alten Höhle gehen sollten. Und ich hatte vorhergesagt, dass etwas Außergewöhnliches passieren würde.“

„Ähm, du hast gesagt, dass wir mal wieder dorthin gehen sollten.“, gab ihm Mara Recht. „Aber von einer Vorhersage weiß ich nichts.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Stan streitlustig an.

Bevor die Auseinandersetzung eskalieren konnte, ergriff Pater Elia die Initiative. „Und woher kommt Greg, wenn man fragen darf?“ Dabei musterte er Greg mit einem durchdringenden Blick.

„Aus der City!“, platzte es aus Stan heraus. Dabei konnte er ein Kichern nicht unterdrücken.

„Soso. Aus der City.“, wiederholte Pater Elia. „Na, dann kommt mal mit!“ Er setzte sich langsam in Bewegung und lief über den Platz auf ein gegenüberliegendes Gebäude zu, dass wie das Haus mit dem Turm, vor dem die Jugendlichen ihn getroffen hatten, deutlich größer war als all die Reihenhäuser, an denen sie bisher vorbeigekommen waren.

Greg fühlte sich zwischen all den fremden Gesichtern, die ihn neugierig musterten, verloren. Zum ersten Mal seit seinem überstürzten Aufbruch aus der City kam er so weit zur Ruhe, dass er sich der Tragweite seiner Flucht bewusst werden konnte. Er hatte alles hinter sich gelassen, was ihm das Gefühl von Sicherheit gegeben hatte. All seine Freunde waren in der City geblieben, genau wie seine wenigen Habseligkeiten. Eine Arbeit, mit der er sich versorgen konnte, hatte er nicht mehr. Die Kleider auf der nackten Haut waren buchstäblich das Einzige, was er neben seinem Leben hatte retten können. Und nun stand er hier zwischen all diesen Menschen, die ihn anstarrten, als wäre er einer der neuen mechanischen Apparate aus einer der Erfinderwerkstätten der großen Fabriken. Er spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Tränen drängten hinter seinen Augen nach vorn, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Noch nicht einmal im Waisenhaus hatte er sich jemals so allein gefühlt wie jetzt.

Mav spürte, dass Greg etwas bedrückte. Behutsam legte er ihm den Arm um die Schulter und stützte ihn, während sie Pater Elia, der bereits mehr als die Hälfte des Platzes überquert hatte, folgten. Greg war dankbar für die Hilfe. Der Schmerz in seinem Auge war unerträglich und auch die anderen Blessuren, die er sich bei dem Sturz von dem Waggon zugezogen hatte, taten höllisch weh.

„Los, komm! Ich bin sicher, dass sie auch etwas zu essen für uns haben.“, versuchte Mav es mit einem aufmunternden Spruch.

Die Aussicht auf Essen war wahrlich verlockend, dennoch folgte Greg Mavs Aufforderung nur widerwillig. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Was hatte er mit all diesen Menschen zu schaffen? Warum musste er diesem Mann in seiner albernen Kutte folgen? Wo war er überhaupt? Er musste doch schnellstmöglich die Terapolis erreichen! Ob es Josh, Peanut, Philt und den anderen gut ging? Hoffentlich bekamen sie keine Probleme seinetwegen.

Greg spürte, wie sich viele der Menschen auf dem Platz ihrer kleinen Prozession anschlossen. Vor ihm liefen Nici, Mara und Stan, die versuchten, mit den weit ausladenden Schritten des Paters mitzuhalten. Es hatte Greg bereits viel Kraft gekostet, den Weg von den Bahngleisen bis zur Kolonie zurückzulegen. Jetzt hatte er nicht mehr die nötigen Reserven, um den Abstand nicht noch größer werden zu lassen. Er verließ sich ganz darauf, dass Mav schon wissen würde, wohin der hagere Mann mit dem Vollbart sie führte.

Es war ihm unheimlich, von diesen fremden Menschen verfolgt zu werden. Sie sahen alle so anders aus, verwegen, aber auch bedrohlich. Mit seinen Tuchhosen, der Wolljacke, den ausgetretenen Schuhen und der Schiebermütze, wie sie fast alle Arbeiter in der City trugen, kam er sich hier seltsam fehl am Platze vor. Die Menschen um ihn herum waren zum größten Teil in Leder gekleidet, trugen feste Schnürstiefel und die seltsamsten Kopfbedeckungen, von Zylindern über Kopftücher bis hin zu mit allerlei Zahnrädern und anderen Metallteilen geschmückten Strohhüten. Hier und da lugte ein Holzfällerhemd aus schwerem Stoff unter einer Jacke oder einem Mantel hervor. Viele hatten Nietenarmbänder oder -halsbänder umgelegt, was der Menge ein besonders bedrohliches Aussehen verlieh. Außerdem bemerkte Greg, dass mehrere Leute Arm- oder Beinprothesen trugen, die ähnlich wie Maras technisch auf einem sehr niedrigen Niveau rangierten. Die meisten hatten außerdem Sonnen- oder Schweißerbrillen auf ihren Hüten stecken, kaum jemand trug sie auf den Augen.

Greg stieß Mav vorsichtig mit dem Ellenbogen an: „Keine Brillen?“, flüsterte er.

„Nein. Hier brauchen wir keine Brillen.“, antwortete Mav. „Wir schaffen es meistens, direkt über der Kolonie einen Schutzschild aufrecht zu erhalten. Es sei denn, Grub jagt bei einem seiner Experimente mal wieder alles in die Luft.“, fügte er kichernd hinzu.

„Grub?“, fragte Greg verwundert, aber Mav schüttelte nur den Kopf und deutete mit einem Rucken des Kinns nach vorn.

In der Tür zu dem großen Gebäude, auf das er zugehalten hatte, blieb Pater Elia stehen. Aus dem Haus trat ein bulliger Mann mit strohblonden Haaren und stechend blauen Augen, der dem nur wenig größeren Pater die Hand schüttelte und sich leise mit ihm unterhielt. Der Mann trug eine für Gregs Geschmack ebenso abenteuerliche Mischung an Kleidern wie die übrigen Bewohner der Kolonie. Holzfällerhemd, Lederhosen, Stiefel und Nietenarmband kombiniert mit einem Kopftuch und einer Schweißerbrille ließen ihn wie einen Luftpiratenkapitän oder einen Eisenbahnräuber aussehen.

Bald waren die Jugendlichen herangekommen und schauten zu den Männern auf. Mav bog seinen Kopf zur Seite, um die Lautstärke der Menge übertönen zu können: „Das ist unser Gemeindehaus. Hier beratschlagen wir, wenn wichtige Entscheidungen anstehen.“, erklärte er Greg.

Greg schaute ihn verwundert an. „Ich bin doch aber wohl kaum eine wichtige Entscheidung!“, sagte er halb empört, halb verängstigt.

Mav wackelte unsicher mit dem Kopf. „Da wäre ich mir nicht so sicher. So viele Leute werden nun auch nicht losgeeist. Dass du hier bist, könnte uns durchaus einigen Ärger einbringen.“ Bei diesen Worten grinste er Greg schelmisch an.

„Wer ist das?“, fragte Greg neugierig und deutete auf den Mann im Holzfällerhemd.

„Das ist Hanson.“, beantwortete Mav die Frage so gelangweilt, als hätte Greg ihn nach dem Namen eines völlig gewöhnlichen Vogels gefragt.

„Ist er euer Gouverneur?“, wollte Greg wissen. Der Mann schien ihm trotz des ungewöhnlichen Aufzugs eine gewichtige Rolle zu spielen.

Mav schüttelte entschieden den Kopf. „Nein. Wir haben keinen Gouverneur. Bei uns hat jeder eine Stimme. Die Mehrheit entscheidet.“ Greg musste über dieses Konzept nachdenken. Es war ein bisschen so wie in der Gemeinschaft zu Hause. Dort konnte auch jeder seine Meinung sagen und manchmal stimmten sie sogar ab, nur dass Josh trotz allem doch bei vielen Dingen das letzte Wort hatte. Wieder spürte Greg dieses eigenartige Stechen in der Brust. Wie sehr er die anderen doch vermisste.

Mav deutete Gregs Schweigen offenbar als einen Ausdruck von Skepsis. „Obwohl viele meistens auf Hansons Rat hören. Er ist unser Sprecher. Hat viel Erfahrung und einen schlauen Kopf. Er wird sicher eine Lösung dafür finden, dass wir uns mit dir vielleicht ein paar Probleme in die Kolonie geholt haben. Keiner legt sich gern mit den Cities und der mächtigen Eisenbahngesellschaft an.“

Greg war überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, dass er nun noch mehr Menschen in Gefahr brachte, und das alles nur, weil er als erster die Leiche von Jesua Fingrey gesehen hatte. „Warum habt ihr mich dann hierher gebracht?“

„Wir hätten dich ja schlecht liegenlassen können. Du wärst vom nächsten Zug überrollt worden. Da hat Mara ganz Recht, auch wenn ihre fantasiereiche Ausschmückung wie immer kreativ, aber völlig überzogen war.“, erwiderte Mav.

Mara, die direkt vor ihnen stand, drehte sich um, bedachte Mav mit einem finsteren Blick und streckte ihm die Zunge heraus.

Mav zwinkerte Greg zu. „Ich glaube, sie mag dich.“ Ein breites Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.

„Es ist aber nicht richtig, dass ich euch alle in Gefahr bringe!“, verkündete Greg entschieden. „Es ist am besten, wenn ich sofort weiterziehe. Ich habe sowieso schon viel zu viel Zeit verloren.“ Er wollte auf dem Absatz kehrt machen, aber die Menge um sie herum stand jetzt so dicht, dass kein Durchkommen war.

„Schau dich doch mal an!“, erwiderte Mav mit einem mitleidigen Lächeln. „In deinem Zustand kämst du nicht einmal allein aus der Kolonie heraus.“

Wie auf Kommando spürte Greg alle schmerzenden Stellen in seinem Körper doppelt so stark wie zuvor.

„Und wann wir uns weshalb in Gefahr begeben, überlässt du bitte uns!“, fuhr Mav fort. „Wir werden beraten und dann wirst du sehen, was wir entschieden haben.“ Etwas kleinlauter fügte er hinzu: „Das heißt, die Ältesten werden beraten und wir werden dabei sein und dir Händchen halten. Komm, lass uns hineingehen!“ Mit einer einladenden Geste deutete er auf die große Flügeltür, durch die Pater Elia und einige weitere Männer und Frauen bereits das Innere des Gemeindehauses betreten hatten.

Da ihm durch die Masse an Leibern ohnehin der Rückweg abgeschnitten war, ergab sich Greg seufzend in sein Schicksal und folgte Mara und Nici dicht auf den Fersen die wenigen Stufen zum Eingang des Gemeindehauses empor. Direkt vor der großen Flügeltür blieb er noch einmal kurz stehen, denn er spürte einen Blick auf sich ruhen. Langsam hob er den Kopf, um sich umzuschauen und blickte genau in Hansons stechende blaue Augen. Der Mann schien ihn mit seinem Blick durchbohren zu wollen. Greg fühlte sich, als würden ihm all seine innersten Gedanken und Gefühle entzogen. Konnte es sein, dass dieser Mann Gedanken lesen konnte? Es wurde schwarz vor Gregs Augen, ein leichter Schwindel befiel ihn, legte sich aber genau so schnell wieder, wie er gekommen war.

Als sich Greg mit Mavs Hilfe wieder gefangen hatte und erneut in Hansons Gesicht blickte, trug dieses ein gütiges Lächeln zur Schau. Der große Mann zwinkerte ihm schelmisch zu und forderte ihn mit einer freundlichen Geste auf, ihm nach drinnen zu folgen. Skeptisch betrachtete Greg den breiten, muskelbepackten Rücken des Mannes, während er ihm folgte. Entschieden schüttelte er den Kopf. Gedankenlesen, so ein Unsinn! War er so übermüdet, dass sich jetzt schon Trugbilder in seinem Kopf breitmachten?

Das Innere des Gemeindehauses war weit weniger spektakulär, als die Größe des Gebäudes von Außen vermuten ließ. Soweit Greg sehen konnte, wurde die gesamte Länge von etwa 20 Schritt und etwa zwei Drittel der Breite des Gebäudes von einem einzigen Raum mit holzgetäfelten Wänden und Parkettfußboden eingenommen. Die Wände waren mit Bänken gesäumt, in der Mitte des Raums stand ein riesiges Rednerpult, das über eine kleine Treppe erreicht werden konnte. Das Pult war rund und trug eine umlaufende Brüstung, so dass sich ein Redner frei an alle Richtungen in dem Raum wenden konnte. Das wenige Tageslicht, das durch die großen Buntglasfenster in der rechten Wand des Raumes seinen Weg herein fand, tauchte den Saal in ein eigenartiges Zwielicht. Die gespenstische Atmosphäre wurde noch durch mehrere kleine Feuerbecken verstärkt, die im Raum verteilt standen und flackernde Schatten an die Wände warfen. In der linken Wand konnte Greg mehrere Türen erkennen.

Er fand aber nicht die Zeit, sich über den Zweck der dahinter liegenden Räume den Kopf zu zerbrechen, denn Mav hatte ihn inzwischen bis direkt neben das Rednerpult geschoben, das Hanson bereits bestiegen hatte. Die Bänke füllten sich mit Menschen. Die meisten hingen ihren Gedanken nach, einige tuschelten, aber alle warfen immer wieder verstohlene Blicke auf Greg. Der Junge wunderte sich, wie sie alle so schnell von dieser eilig einberufenen Versammlung erfahren hatten, wagte es aber nicht, Mav danach zu fragen. Das Nachrichtensystem in der Kolonie schien hervorragend zu funktionieren.

Hinter sich spürte Greg Mav und Stan stehen, die somit ebenfalls Teil der allgemeinen Aufmerksamkeit wurden. Zu seiner linken saßen Nici, die ihm fröhlich zuwinkte, und Mara, aus deren düster dreinblickender Miene so viel Leid und Trauer sprachen, dass Greg das ungute Gefühl beschlich, seiner eigenen Hinrichtung inklusive Beerdigung beizuwohnen.

Als die Bänke gut gefüllt waren, klopfte Hanson mit einem großen Stein auf das Pult und das Getuschel im Raum erstarb allmählich. Auch die Rufe vor dem Haus verstummten. Offenbar bemühten sich die Menschen vor der Tür, ja nichts von dieser interessanten Besprechung zu verpassen. „Freunde!“, rief Hanson mit lauter Stimme und hob die rechte Hand, als wolle er einen guten Bekannten grüßen. Er drehte sich dabei einmal um die eigene Achse, so dass er alle Anwesenden begrüßen konnte. Greg konnte sich vorstellen, dass diese eigenartige Anordnung des Pults in der Mitte des Raumes eine große Herausforderung für einen Redner darstellen musste. „Ich eröffne diese außergewöhnliche Gemeindesitzung. Es gibt nur einen Tagesordnungspunkt.“ Hanson machte eine kleine Pause und blickte auf Greg hinab. „Greg.“ Mit der Hand deutete der blonde Mann auf Greg, als wäre dieser ein besonders sehenswertes Ausstellungsstück in einer privaten Kuriositätensammlung. „Dein Name ist doch Greg, oder?“, fragte er in scharfem Tonfall und richtete einen Blick aus stechenden Augen auf den Jungen.

Greg nickte, dann fielen ihm gerade noch rechtzeitig Nicks warnende Worte ein. „Mein Name ist Theodor Gregorich Knox, aber alle nennen mich bloß Greg.“

„Kannst du das beweisen?“, rief ein ruppiger junger Mann dazwischen.

Greg klopfte auf die Brusttasche seiner Jacke, zuckte aber vor dem Schmerz, dem ihm diese Bewegung verursachte, zurück. „Ich habe meinen Passierschein dabei. Darauf steht mein Name.“ Er zog den Schein heraus und hielt ihn Hanson unter die Nase.

Dieser studierte das Dokument eingehend, nickte dann bestätigend und wandte sich an die Jungen hinter Greg. „Stanley, Maverick! Berichtet bitte noch einmal allen Anwesenden, was vorgefallen ist!“

Stan ließ sich nicht zweimal bitten und sprudelte mit den Ereignissen des Tages heraus. Größtenteils hielt er sich an die Tatsachen, hier und da gelang es ihm aber, seinen eigenen heroischen Beitrag so auszuschmücken, dass es so aussah, als wäre Greg einzig und allein durch Stans tatkräftige Unterstützung dem Tod noch einmal gerade so von der Schippe gesprungen. Als er geendet hatte, erhob sich ein aufgeregtes Gemurmel. Hanson blickte in die Runde und klopfte erneut mit dem Stein auf das Pult.

„Gibt es Fragen an die Jugendlichen? Insbesondere an Greg?“, fragte er in die Runde.

Eine ältere Frau erhob sich. „Wieso bist du vom Zug geeist worden, Greg?“

Greg musste eine Zeit lang überlegen, denn genau genommen wusste er selbst nicht, was geschehen war, und die Frage nach dem warum war ebenso schwierig zu beantworten. „Ich weiß nicht genau.“, antwortete er deshalb wahrheitsgetreu. „Ich nehme an, es lag daran, dass ich ohne Fahrkarte unterwegs war.“, stellte er seine Vermutung mit ernster Miene in den Raum. In einigen Ecken erhob sich daraufhin lautes Gelächter. Ein alter Mann klopfte sich sogar begeistert auf die Schenkel. Greg schaute sich verwirrt um. Hatte er etwas Falsches gesagt? Er verstand nicht, was so komisch sein sollte.

„Und warum warst du ohne Fahrkarte unterwegs? Bist noch reichlich jung für einen Tramp.“, rief ein stämmiger Mann von rechts.

„Nein, nein. Ich bin kein Tramp.“, verwahrte sich Greg vehement. Der spöttische Gesichtsausdruck des Mannes zeigte, dass er ihm nicht glaubte. „Ich musste aus der City fliehen und da schien mir der Zug die beste Möglichkeit zu sein.“

Schlagartig wurde es stiller im Raum. Die Spannung, die Gregs Offenbarung erzeugt hatte, war förmlich greifbar. „Fliehen?“, rief eine junge Frau. „Wieso fliehen?“

Auch für Gedanken über die Hintergründe seiner Flucht hatte Greg bisher die Zeit gefehlt. „Ich bin mir nicht sicher.“, stammelte er. „Ich glaube, ich habe etwas gesehen, was für andere Leute gefährlich sein könnte, und jetzt wollen sie mir die Schuld in die Schuhe schieben.“

„Und was könnte das sein?“, fragte ein alter Mann in gehässigem Tonfall.

„Ich habe einen Toten gefunden. Jesua Fingrey.“, sagte Greg leise. Die Gesichter der Menschen, die in seiner Nähe saßen, zeigten ihm, dass ihnen der Name nichts sagte.

„Sprich lauter!“, riefen mehrere Stimmen von weiter hinten.

„Er hat einen Toten gefunden.“, brüllte der Mann, der Greg als Tramp bezeichnet hatte.

„Na und? Darum rennt man doch nicht fort.“, rief jemand als Antwort.

Greg fühlte sich wie vor einem Tribunal. So ungefähr musste sich eine Gerichtsverhandlung anfühlen. Warum war er nicht gleich in der City geblieben und hatte sich einem fairen Verfahren gestellt? Dort kannte man ihn wenigstens und würde ihm vielleicht eher glauben als hier unter all diesen fremden Menschen.

„Er war der Besitzer der Fabrik, in der ich arbeitete. Als ich in sein Büro kam, konnte er erst wenige Augenblicke tot gewesen sein. Jetzt glauben natürlich alle, dass ich ihn umgebracht habe.“, berichtete er mit erstickter Stimme. Er spürte selbst bei jedem Wort, wie fadenscheinig sein Bericht klang.

„Und warum sollten wir etwas anderes glauben?“, rief eine Frau mittleren Alters. „Er ist vor der Justiz der City geflohen, die ihn berechtigterweise wegen Mordes verhören will. Ich sehe keinen Grund, warum wir ihm Aufenthalt gewähren sollten.“

„Aber ich war es nicht!“, rief Greg bestürzt. Seine Unterlippe bebte und er spürte, wie seine Knie kurz davor waren, nachzugeben. Er fühlte Mavs Hand auf seiner Schulter, die ihm etwas Halt und Sicherheit gab. Stan war vorsichtshalber einige Schritte von ihm abgerückt. Man konnte schließlich nie wissen, was so ein gefährlicher Mörder als nächstes im Schilde führte. Außerdem hatte Greg den Verdacht, dass der Junge um jeden Preis vermeiden wollte, in ein schlechtes Licht zu geraten, falls der Fremde sich den Unmut der Versammlung zuzog.

„Der alte Nick hat mir geholfen. Und ein paar Tramps haben uns dann erklärt, wie man mit den Zügen die Terapolis erreichen kann.“ Greg spürte, wie die Aufregung und die Notwendigkeit, sich verteidigen zu müssen, ihm neue Kraft gaben.

Als er Nicks Namen erwähnte, kehrte wieder eine gespannte Ruhe ein. „Der alte Nick?“, fragte Hanson in die Stille hinein nach.

„Ja, er lebt in der City. Er kennt viele Leute und kam kurz nach mir in das Büro. Ich glaube, das Ganze hat etwas damit zu tun, dass Jesua Fingrey ein Gegner von Collin Rand war.“ Greg brachte selbst für seinen eigenen Verstand nur unzusammenhängende Informationen zu Tage. „Und ich wurde extra ausgerufen, dass ich zum Direktor kommen solle. Das ist doch merkwürdig, oder?“

„Deine Geschichte ist in der Tat merkwürdig.“, meinte ein junger Mann hinter Greg. „Ich glaube dir kein Wort. Du hast bestimmt etwas ausgefressen, und nun wirst du uns alle in Schwierigkeiten bringen.“

Einige Männer und Frauen stießen zustimmende Rufe aus. Die Stimmung im Saal schien zunehmend zu Gregs Ungunsten zu kippen. In all dem Durcheinander spürte Greg einen Blick in seinem Nacken. Vorsichtig drehte er sich um und blickte mit seinem einen funktionsfähigen Auge die Reihen der Menschen entlang, bis sein Blick an einem paar grün-brauner Augen hängen blieb, die ihn aufmerksam musterten. Sie gehörten einem Mädchen, dass kaum älter schien als er selbst. Greg wunderte sich darüber, denn außer ihm und seinen Rettern waren sonst nur Erwachsene im Raum. Die Augen zogen ihn magisch in ihren Bann. Wenn man nicht aufpasste, konnte man in ihnen ertrinken.

„Genug!“ Die laute Stimme von Pater Elia ließ Greg erschrocken herumschnellen und auch das Durcheinander an Rufen und Forderungen verstummen. „Greg!“, wandte sich der Pater direkt an den Jungen. „Deine nächsten Antworten sind sehr wichtig.“

Greg nickte als Zeichen, dass er die Tragweite der Situation begriffen hatte. Jetzt ging es darum, ob er den eingeschlagenen Weg fortsetzen konnte oder womöglich an die Behörden der City ausgeliefert werden würde. Ein Teil von ihm wünschte sich fast, endlich wieder zurück nach Hause zu können, egal was dort mit ihm passieren würde, doch ein anderer Teil war sich bewusst, dass das sein sicheres Ende bedeuten würde.

„Was weißt du über Collin Rand?“, fragte Pater Elia.

Greg zuckte mit den Schultern. „Er ist gefährlich. Fast alle wichtigen Firmen in der City gehören ihm. Es heißt, er will Gouverneur werden, aber Josh meint, das hat er gar nicht nötig, weil er sowieso schon alle Polizisten und Richter gekauft hat.“ Ein leises Kichern entrang sich einer Kehle, sonst war alles still.

„Hat der alte Nick dir noch etwas gesagt?“

„Ich soll zur Terapolis reisen und dort Inspektor Freydt aufsuchen. Er würde mir helfen.“, antwortete Greg.

Pater Elia und Hanson warfen sich einen bedeutungsvollen Blick zu.

„Kannst du uns beschreiben, wo deine City liegt?“

Greg schüttelte entschieden den Kopf. „Unmöglich. Ich habe die ganze Nacht unter einem Waggon gehangen und konnte nicht sehen, welche Richtung der Zug einschlug.“ Dann fiel ihm aber etwas anderes ein. „Aber ich kann es euch auf meiner Karte zeigen.“

Pater Elia schaute ihn verwundert an. „Du kannst eine Karte lesen?“

Greg runzelte die Stirn. Was sollte daran denn so besonders sein? „Ja. Ich habe sogar eine Karte dabei.“ Eilig kramte er in der Innentasche seiner Jacke und zog die zusammengefaltete Karte hervor. Vorsichtig öffnete er sie und breitete sie vor sich auf dem Boden aus.

Pater Elia, Hanson, Mav und einige andere Neugierige scharten sich um ihn und betrachteten die Karte. „Kovalzcyk?“, hörte Greg hinter seinem Rücken raunen. Er meinte, auch ein paar zustimmende Grunzer zu erahnen, während er sich konzentrierte, um zwischen den vielen Punkten und Strichen die Stelle wiederzufinden, die Nick ihm bezeichnet hatte. Endlich entdeckte er den Punkt mit der Markierung 95B457 und tippte mit dem Finger darauf. „Ich komme von dort.“, war alles, was er sagte.

Pater Elia nickte Hanson zu. „Pack die Karte erst einmal weg, Greg!“, meinte er. „Wir werden sie uns später noch einmal genauer anschauen.“ Die Leute um ihn herum zogen sich wieder zurück, so dass er mit Mav allein in der Mitte des Saales stehen blieb. Hastig faltete Greg die Karte zusammen und schob sie zurück in die Innentasche seiner Jacke.

„Also, nach allem, was wir bisher herausbekommen haben, ist Greg Hals über Kopf aus seiner City geflohen, nachdem er einen reichen Fabrikbesitzer tot aufgefunden hat.“, begann Hanson, die Situation für alle zusammenzufassen. „Möglicherweise hat das Ganze etwas mit Collin Rand zu tun, von dem einige Kunde sogar bis zu uns vorgedrungen ist,“ - zustimmendes Murmeln ließ ihn kurz innehalten - „aber dessen können wir nicht sicher sein. Greg reiste nach Art der Tramps unter einem Nachtzug, wurde auf offener Strecke losgeeist und dann von dieser tapferen Schar“, bei diesen Worten zeigte er auf Nici, Mara und Stan, die zusammen auf einer der Bänke saßen, „gerettet.“ Alle Augen richteten sich auf die Jugendlichen. Stan reckte die Brust heraus heraus, Nici winkte fröhlich in die Runde und Mara rollte so angewidert mit den Augen, dass die meisten schnell wieder zu Hanson und den beiden Jungen in der Mitte des Raums schauten. „Dann haben sie ihn hierher gebracht und wir müssen nun entscheiden, wie wir weiter vorgehen sollen.“

Die Männer und Frauen saßen mit angespannten Mienen auf den Bänken. Greg konnte die Intensität des Nachdenkens, dass sich in den Köpfen abspielte, förmlich mit Händen greifen. Es kam ihm vor, als ob alle Blicke auf ihn geheftet waren. Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in seinem gesamten Körper aus. Hilfesuchend schaute er sich um und blieb wieder an diesem Paar grün-brauner Augen hängen, die ihn unverwandt musterten. Wie wunderschön, faszinierend, tiefgründig und zugleich erschreckend verwirrend diese Augen waren.

„Woher sollen wir wissen, ob wir ihm glauben können?“, brach eine krächzende Männerstimme die Stille.

„Das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Wir müssen uns auf unseren Instinkt und unseren Menschenverstand verlassen.“, antwortete Pater Elia ruhig.

Greg riss sich von den Augen des Mädchens los und versuchte, der sich entspinnenden Diskussion zu folgen. Hauptsächlich ging es darum, ob Gregs Anwesenheit in der Kolonie eine Gefahr für die Menschen darstellte. Der lange Schatten Collin Rands schien sogar bis hierher zu reichen, denn sein Name fiel häufiger. Bald konnte Greg die Redner in drei Fraktionen einteilen. Es gab diejenigen, die den arroganten, eingebildeten und unfähigen City-Regenten gern eins auswischen wollten und schon aus Prinzip Greg auch aufgenommen hätten, wenn er tatsächlich ein feiger Mörder gewesen wäre. Dann gab es eine ängstliche Gruppe, die der Meinung war, dass eine kleine Kolonie unmöglich einer City die Stirn bieten könne. Diese Leute hatten Angst um ihr Leben und den Fortbestand der Kolonie, sollte Greg hier gefunden werden. Und dann gab es eine Fraktion, die der Meinung war, was in den Cities vorging, ginge sie nichts an. Sie pochten auf die Unabhängigkeit der Kolonie, waren aber uneins in der Frage, ob sie sich deshalb am besten aus allem heraushalten oder doch eher ihre Werte und Vorstellungen schon fast offen missionarisch nach Außen tragen sollten.

Je länger die Diskussion lief, umso verworrener wurden die Argumente. Schon bald kam es Greg so vor, als ob es hier gar nicht so sehr um ihn ging. Eher schienen die Menschen eine grundlegende Diskussion darüber zu führen, wie ihr Gemeinwesen aussehen sollte. Die Behauptungen und Annahmen wurden immer theoretischer und irgendwie gewann Greg den Eindruck, als hätten sie Spaß an dieser Art Debatte. Er hatte das Gefühl, völlig fehl am Platze zu sein, obwohl es hier doch in erster Linie um seine Zukunft gehen sollte.

Die Zeit schien endlos langsam zu verstreichen, die Schatten in dem Raum wurden länger, die Buntglasfenster verloren an Glanz und die Feuerbecken, deren Flackern sich in den Gesichtern der Menschen spiegelte, waren bald die einzige Lichtquelle. Greg taten alle Knochen weh und seit einiger Zeit spürte er ein rhythmisches Pochen in seinem geschwollenen Auge. Alles begann, sich um ihn zu drehen und er musste sich an Mav festhalten, um nicht hinzustürzen. Ob Hanson seinen Zustand bemerkt hatte, konnte Greg nicht mit Sicherheit sagen. Jedenfalls klopfte dieser plötzlich laut mit dem Stein auf das Pult. Die Redebeiträge und das permanente Getuschel und Gemurmel, das die ganze Zeit über einen unterschwelligen Klangteppich gebildet hatte, verebbten.

„Bürger. Es ist schon spät. Es wird Zeit, dass wir eine Entscheidung treffen. Es kann heute nur darum gehen, ob wir Greg vorläufig Unterschlupf gewähren. Ich schlage vor, dass wir zunächst entscheiden, ob er für drei Tage bei uns bleiben darf. Bis dahin sollte es uns gelungen sein, genauere Informationen einzuholen. Dann können wir unser weiteres Vorgehen besprechen.“

Zustimmendes Gemurmel erhob sich. „Wie üblich bei solch wichtigen Entscheidungen, werden wir das Verfahren des Rösselsprungs anwenden. Diejenigen von euch, die mit Ja stimmen, verlassen das Gemeindehaus durch den Haupteingang, die Gegner des Antrags gehen durch die Seitenpforte.“ Dabei zeigte er auf eine der Türen in der linken Wand, die sogleich von zwei Frauen geöffnet wurde. „Pater Elia und ich werden die Stimmen zählen und dann das Ergebnis verkünden.“

Greg hatte erwartet, dass nun ein wildes Chaos oder Gerangel entstehen würde. Doch die Menschen erhoben sich langsam und gingen in beinahe würdevoller Ruhe auf die beiden Türen zu. Auf beiden Seiten bildeten sich Schlangen von Wartenden. Mit einem mulmigen Gefühl betrachtete Greg die Männer und Frauen. Es war auf die Schnelle nicht zu erkennen, welche Seite mehr Anhänger hatte.

Greg spürte einen sanften Zug an seinem rechten Ärmel und schaute sich um. Nici stand neben ihm und strahlte ihn an. „Komm!“, sagte sie freundlich und winkte mit ihrer freien Hand. „Wir gehen auch raus. Dort kannst du dich hinsetzen und verschnaufen.“

Greg fand keinen Grund, der gegen diesen Vorschlag sprechen konnte und ließ sich bereitwillig von Nici und Mav durch eine weitere Tür in die anbrechende Nacht führen. Stan und Mara schlossen sich der kleinen Gruppe an. Sie kamen auf einer Nebenstraße aus dem Gebäude und liefen um eine Ecke zurück auf den großen Platz. Einige der wahlberechtigten Männer und Frauen waren bereits zu der Menge getreten, die draußen der Debatte gelauscht hatte, aber viele schienen noch hinter den Türen darauf zu warten, ihre Stimme abgeben zu können. Erschöpft ließ sich Greg neben Nici und Mav auf den Boden sinken und blickte mit banger Erwartung auf die beiden Türen, durch die die Wähler traten. „Das sind alles unsere Repräsentanten.“, riss ihn Nici aus seinen Gedanken. Sie betonte das letzte Wort mit dem ganzen Stolz eines Kindes, das ein sehr schwieriges Wort gelernt hatte und sich sicher war, etwas zu wissen, was anderen noch fremd war. „Weißt du, es können ja nicht immer alle wählen. Das würde viel zu lange dauern. Darum bestimmt jedes Doppelhaus einen Vertreter, der in den Versammlungen mit abstimmen darf. Jedes Jahr muss es ein neuer sein, damit jeder mal mitmachen darf.“, sagte sie aufgeregt. „Irgendwann bin ich auch dabei.“, warf sie sich in die Brust.

„Aber lange nach mir.“, prahlte Stan.

„Wenn ihr überhaupt alt genug werdet, das zu erleben.“, raunte Mara theatralisch.

Greg sah Nici an, dass sie eine patzige Antwort auf den Lippen hatte, aber Stan legte ihr die Hand auf den Arm. „Psssst! Sie sind fertig.“, flüsterte er.

In der Tat legte sich das aufgeregte Gemurmel auf dem Platz. Alle Köpfe wandten sich in die Richtung des Haupteingangs des Gemeindehauses, vor dem Hanson und Pater Elia standen und sich berieten. Dann hob Pater Elia feierlich die Hände und auch die letzten Gespräche verstummten.

„Wir haben darüber abgestimmt, ob Greg für drei Tage unsere Gastfreundschaft in Anspruch nehmen darf. Alle Wahlberechtigten haben das Gebäude verlassen. Das Ergebnis lautet wie folgt. Dafür stimmten 53 Repräsentanten, dagegen 42. Damit stimmt die Versammlung dafür, Greg zunächst Unterschlupf zu gewähren.“

Es gab keinen lauten Jubel und keine Protestrufe. Die Menschen nahmen das Ergebnis mit erstaunlicher Gelassenheit zur Kenntnis. Greg wunderte sich darüber, da die Debatte doch teilweise sehr hitzig geführt worden war. Zwar kam es ihm so vor, als würden ihm vereinzelt zornige oder angsterfüllte Blicke zugeworfen, der größte Teil der Menschen auf dem Platz schien aber keine Notiz von ihm zu nehmen. Die meisten Frauen und Männer verließen mit zügigen Schritten den Platz, wohl um in der Dämmerung die letzten Reste des Tageslichts zu nutzen, nach Hause zu gelangen. Die Menge zerstreute sich und bald schon verloren sich die vereinzelten Grüppchen, die noch auf dem großen Platz standen, in der hereinbrechenden Dunkelheit.

Eine schwere Hand legte sich auf Gregs Schulter. Er schreckte hoch und blickte in Hansons freundliches Gesicht. „So, Greg, jetzt kannst du erstmal ein bisschen ausruhen. Wir müssen uns dringend um dein Auge kümmern.“ Die Anstrengungen des Tages und die großen Schmerzen forderten nun, da sich Greg erst einmal in Sicherheit wiegen konnte, mit aller Macht ihren Tribut. Greg fühlte, wie sich eine bleierne Schwere seiner Glieder bemächtigte und es wurde schwarz vor seinen Augen.

Terapolis

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