Читать книгу Terapolis - Tom Dekker - Страница 6

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V

Nick packte Greg erneut am Handgelenk und zerrte ihn weiter. Als sie das Industriegelände verließen, entdecke Greg auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Polizisten, der seelenruhig dahinschlenderte und mit wachem Blick die Umgebung beobachtete. Gregs Herzschlag setzte einen Augenblick aus. Jetzt war alles gelaufen. Der Bobby schaute in ihre Richtung. Gleich würde er sie anhalten und dann würde es für Greg keinen Ausweg mehr geben. Nick zerrte ihn weiter und wedelte gleichzeitig mit seiner freien Hand. Winkte er etwa dem Polizisten zu? Wollte er ihn noch mehr auf sie aufmerksam machen? Doch zu Gregs großer Verwunderung wandte der Polizist seinen Blick ab und schien überhaupt keine Notiz von ihnen zu nehmen. Zum Nachdenken blieb ihm jedoch keine Zeit, denn Nick zog ihn immer weiter in einem wilden Lauf durch das Geschäftsviertel der City.

Gregs Lungen brannten, die Beine wollten ihm den Dienst versagen, aber Nick ließ nicht locker und zwang ihn zu laufen, wie er in seinem ganzen Leben noch nicht gelaufen war. Erst, als sie die dampfenden Schornsteine der Fabrikhallen schon weit hinter sich gelassen hatten, ließ Nick sich auf eine Bank in einem kleinen Innenstadtpark fallen und zerrte Greg zu sich hinunter.

„So, Junge. Und jetzt erzählst du mir erstmal, was das alles sollte!“, keuchte er und blickte Greg bohrend aus seinem gesunden linken Auge heraus an.

„Fingrey.“, keuchte Greg und hielt sich die stechende linke Seite. „Er ist tot.“

„Ja, das habe ich bemerkt.“, knurrte Nick.

Greg sah ihn von der Seite her an. Sie kannten sich aus der Zeit, in der Greg noch nicht in der Gemeinschaft gelebt hatte. Für beide war der Markt ein lohnendes Revier gewesen und manchmal hatte der alte Nick, wie ihn alle nur nannten, dem elternlosen Straßenjungen einen Happen zugesteckt, wenn er gar zu hungrig gewirkt hatte.

„Was hast du in der Fabrik gesucht?“, fragte ihn Greg misstrauisch.

Nicks Haltung versteifte sich. „Ich wollte mit Fingrey sprechen.“

„Worüber? Du arbeitest doch gar nicht bei ihm.“, hakte Greg nach.

Nick machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das tut jetzt nichts zur Sache. Erzähl mir lieber, was passiert ist!“

Greg zuckte mit den Schultern, während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Ja, was war eigentlich passiert? „Ich war gerade dabei, mit Smitty ein paar Rohre zu reparieren, als plötzlich eine Frauenstimme über Megaphon ausrief, dass ich sofort zu Mister Fingrey kommen sollte.“, begann er stockend zu erzählen. „Komisch eigentlich.“, fügte er nachdenklich hinzu.

„Was ist komisch?“, wollte Nick, der sich interessiert nach vorn gebeugt hatte, wissen.

„Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals jemand über Megaphon ausgerufen wurde. Normalerweise sagen einem die Vorarbeiter Bescheid. Und man sollte doch zumindest denken, dass Molly die Sache übernehmen würde und nicht irgendeine Frau, die niemand kennt.“

Nick wurde hellhörig. „Wie meinst du das?“

„Naja, Molly ist Mister Fingreys Sekretärin. Smitty hat sich auch gewundert, warum er plötzlich eine neue hat.“ Greg rief sich noch einmal die Situation in Erinnerung. Wie er mit Smitty dagestanden und sich über die Ansage gewundert hatte. Wie sein Name gefallen war und Smitty ihn schließlich gedrängt hatte, endlich loszugehen, bevor der Chef noch sauer würde. „Irgendetwas ist eigenartig.“, murmelte er gedankenversunken vor sich hin.

„Inwiefern?“, fragte Nick und ließ Greg nicht aus den Augen.

„Irgendwoher kannte ich die Stimme, aber mir will nicht einfallen, wer es war.“ Wütend schlug Greg die rechte Hand in die linke Faust.

„Gut, du bist also zu Mister Fingrey gerufen worden.“, stellte Nick fest und versuchte, den Faden weiterzuspinnen. „Was ist dann passiert.“

Greg zuckte mit den Schultern. „Ich bin zu seinem Büro gegangen, aber er hat nicht auf mein Klopfen reagiert. Dann habe ich es bei Molly probiert, aber die war nicht da. Durch die Verbindungstür bin ich in Mister Fingreys Büro gelaufen und habe ihn tot in seinem Sessel gefunden.“ Er zuckte noch einmal mit den Schultern und schaute Nick aus unschuldigen Augen an. „Und dann bist du gekommen.“

„Verdammt!“, fluchte Nick und spuckte einen gelblichen Fladen auf das Pflaster vor ihnen. „Das ist ein ganz schönes Schlamassel. Und du steckst bis Oberkante Unterlippe drin.“, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger auf Greg.

„Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte Greg in weinerlichem Tonfall. „Soll ich zur Polizei gehen.“

Nick schüttelte energisch den Kopf. „Um Gottes Willen. Auf keinen Fall. Weißt du, wonach deine Geschichte für einen Bobby klingt?“

Greg überlegte kurz und schaute ihn dann aus großen Augen ungläubig an.

„Genau.“, nickte Nick zustimmend. „Für sie und die meisten Leute in dieser Stadt wird es so aussehen, als ob du Jesua Fingrey umgebracht hast. Du wirst zu ihm gerufen, einige Leute sehen, wie du der Aufforderung Folge leistest. Es ist sehr ungewöhnlich, dass man so gerufen wird, also musst du etwas schlimmes ausgefressen haben. Kurze Zeit später verlässt du fluchtartig die Fabrik und Fingrey wird tot in seinem Büro gefunden. Keine Tatwaffe, keine Zeugen, nur der geflüchtete Greg.“ Er atmete kurz durch. „Fall gelöst, würde ich sagen.“, stellte er mit kategorischem Tonfall fest. Als er Gregs fassungsloses Gesicht sah, dessen Farbe sich in ein ungesundes Weiß gewandelt hatte, legte er ihm eine Hand auf den Unterarm und fügte hastig hinzu: „Keine Sorge, Greg. Ich kenne dich schon lange. Ich glaube dir, wenn du sagst, dass du es nicht warst. Aber im Moment hilft dir das sehr wenig. Du musst untertauchen.“

Allmählich wurde Greg bewusst, in welcher Situation er sich befand. „Aber, wie soll ich das denn machen?“, fragte er ängstlich. Er hatte bereits die schlimmsten Geschichten von den Gefängnissen und Untersuchungszellen der Polizei gehört, und er wollte gar nicht wissen, was ihn erwartete, wenn er unter Mordverdacht dort hinein geriet.

„Du musst verschwinden.“, sprach Nick die unangenehme Wahrheit aus. „Am besten, du verlässt für einige Zeit die Stadt. Geh in die Terapolis und suche Inspektor Freydt. Wir kennen uns. Wenn du ihm sagst, dass ich dich schicke und ihm das hier gibst,“ bei diesen Worten zeigte Nick Greg eine kleine kupferfarbene Münze, „wird er dir helfen.“

Greg nahm die Münze so vorsichtig entgegen, als handle es sich um einen brennenden Span. „Danke.“, murmelte er.

„Und noch etwas.“, sagte Nick mit ernster Miene. „Du kannst nicht zurück zu deiner Gemeinschaft.“

Gregs Augen weiteten sich noch ein Stück.

„Es ist zu gefährlich.“, erklärte ihm Nick. „Dort werden sie zuerst nach dir suchen.“ Er legte Greg einen Arm um die Schulter. „Ich werde Suri suchen und ihr Bescheid geben. Am Bahnhof gibt es einen alten Schuppen mit einem grünen Tor. Warte dort heute Abend.“ Er drückte Gregs Schulter noch einmal und erhob sich von der Bank.

Greg war viel zu verwirrt, um zu protestieren. Stattdessen rutschte ihm eine Frage heraus, die schon seit dem Tag, an dem er Nick das erste Mal getroffen hatte, an ihm nagte. „Was ist eigentlich mit deinem Auge passiert, Nick?“

Nick hielt in seiner Bewegung inne und drehte Greg sein Gesicht so zu, dass dieser sowohl die gesunde linke Hälfte als auch die aus einem Drahtgestell bestehende rechte Seite sehen konnte. „Das ist eine lange Geschichte.“, antwortete Nick nachdenklich. „Und für lange Geschichten haben wir im Augenblick keine Zeit.“

Dann wandte er sich ab und schickte sich an, den Park zu verlassen. Abrupt blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu Greg um. „Du musst herausfinden, wem die Stimme gehört. Ich sehe, ob ich etwas über die Dieselroller in Erfahrung bringen kann, die heute Morgen so eilig das Firmengelände verlassen haben. Geh besser da lang!“, gab Nick hageren Jungen letzte Instruktionen, zeigte auf eine Straße hinter Greg, tippte sich zum Gruß an den Hut und verließ den kleinen Park.

Greg beobachtete, wie Nick sich unweit des Parks in die Schlange an einer Suppenküche einreihte, dann stand er mit weichen Knien auf und hastete durch die Innenstadt in Richtung der Unsichtbarkeit versprechenden Schatten der Armenviertel. Egal, wie unsicher es dort war, gefährlicher als die Innenstadt konnten sie für Greg momentan wahrlich nicht werden.

VI

Greg streunte ziellos durch die Straßen, immer darauf bedacht, niemandem, der ihn kannte, zu begegnen. Als Straßenjunge hatte er einen siebten Sinn dafür entwickelt, Polizeistreifen auszuweichen, was ihm jetzt sehr zugute kam. Er drückte sich in die Schatten und verlangsamte vor jeder Kreuzung seinen Schritt, um sicher zu gehen, dass hinter der nächsten Hausecke keine Gefahr lauerte.

Seine Gedanken kreisten unablässig. War es ein Zufall gewesen, dass ausgerechnet er den toten Jesua Fingrey gefunden hatte? Und dass kurze Zeit später der alte Nick in das Büro hereingekommen war? Noch nicht einmal angeklopft hatte er, ganz so, als wäre er dort zu Hause. Was hatte Nick überhaupt in der Fabrik gesucht? Greg überlegte, was er eigentlich über Nick wusste. Es war nicht viel, musste er sich eingestehen. Nick war ein Tagedieb, der von Betteln, Geschichtenerzählen und gelegentlichen Diebstählen lebte. Als Greg noch klein war, hatte er ihm hin und wieder einen Kanten Brot zugeschoben, aber das schien im Augenblick Ewigkeiten her zu sein. Was suchte ein Mann wie der alte Nick in seinem abgetragenen, schmutzigen Wollmantel in Jesua Fingreys Geschäftsräumen? Und das just an dem Vormittag, an dem der Fabrikbesitzer in seinem eigenen Büro ermordet wurde? Und dann ertappte dieser Tagedieb auch noch Greg allein mit dem Toten!

Greg wurde übel bei dem Gedanken daran, was Nick nun gegen ihn in der Hand hatte. Je länger er darüber nachdachte, desto unklarer wurde die Rolle, die der alte Mann möglicherweise in dieser Angelegenheit spielte. Und dann war da noch die Sache mit der Terapolis. Woher wollte einer wie Nick einen Inspektor in der Terapolis kennen? Ob es diesen Freydt überhaupt gab?

Greg gelangte an eine weitere Kreuzung und blieb abrupt stehen. Er stand vor dem Schwarzen Bären, einem Pub, der besonders von Polizisten gern besucht wurde. War das in seiner Situation nicht schon gefährlich genug, musste Greg außerdem feststellen, dass seine Füße ihn ganz in die Nähe seiner Gemeinschaft getragen hatten. Hier, in der Nähe des Lagerhauses, sollte er sich am allerwenigsten herumtreiben, hatte ihn der alte Nick gewarnt. Schon wieder der alte Nick, zum Kuckuck. Aber in dieser Sache hatte er recht. Wenn jemand Greg erkannt hatte, würde es nicht lange dauern, bis sie herausbekamen, wo er lebte, und dann würden sie dort zuerst nach ihm suchen.

Die Tür des Schwarzen Bären auf der anderen Straßenseite wurde aufgestoßen. Blitzschnell sprang Greg um die Hausecke zurück und prallte beinahe mit einem Mann in Anzug und Stetson-Hut zusammen. „He, pass doch auf!“, brummte der, hielt sich dann aber nicht weiter mit dem Jungen auf und eilte schleunigst weiter.

Greg atmete einmal tief durch. Was sollte er tun? Zu seiner Gemeinschaft konnte er nicht. An seinen Arbeitsplatz konnte er ebenso wenig zurück. Dort würde man ihn sofort festnehmen, dessen war er sich sicher. Er könnte sein altes Leben als Straßenjunge wieder aufnehmen, aber sein Gefühl sagte ihm, dass die City trotz ihrer enormen Größe zu klein sei, um ihn auf Dauer zu verbergen. Es sei denn – bei diesem Gedanken lief ihm ein unheimlicher Schauer über den Rücken – er zog sich in die Schemen zurück.

Die Schemen oder auf Nick vertrauen? Es kam ihm vor, wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. In der Ferne sah er eine der Hauptverkehrsstraßen. Wenn er seinem jetzigen Weg folgte, musste er bald auf sie stoßen. Er beschloss, dem Zufall die Entscheidung darüber zu überlassen, was er als nächstes tun sollte. War das erste Gefährt, das ihn auf der Hauptstraße passierte, ein Dieselwagen, dann wollte er in die Schemen verschwinden, handelte es sich aber um eine Pferdekutsche, dann würde er Nick vertrauen. Natürlich gab es viel mehr Pferdekutschen als Dieselwagen, aber die letzteren machten den Nachteil mit ihrer höheren Geschwindigkeit wett. Die Chancen waren also ausgeglichen, redete Greg sich zufrieden ein und eilte zielstrebig voran. Zum ersten Mal seit dem Gespräch mit Nick hatte er ein Ziel, auf das er sich fokussieren konnte, und das tat verdammt gut.

Kurz, bevor er die Hauptstraße erreicht hatte, schloss Greg die Augen. Er wollte auf keinen Fall dem Schicksal ins Handwerk pfuschen. Vorsichtig legte er die letzten zehn Schritte zurück. Zum Glück stieß er dabei niemanden an, was er insgeheim befürchtet hatte. Als er sich auf Höhe der Kreuzung befinden musste, öffnete er die Augen. Keine zwei Fuß entfernt passierte ihn eine weiße Kutsche, in der ein glücklich winkendes Brautpaar saß. Vier Schimmel zogen das herrliche Gefährt. Von allen Seiten erschollen Hochrufe und Jubel.

Greg war nicht nach Jubeln zumute. Zwar hatte ihm das Brautpaar den Weg in die Schemen erspart, aber das bedeutete, dass er die City verlassen musste. Die City, die das einzige war, was er im Leben bisher kennen gelernt hatte. Hier war er aufgewachsen, hier hatte er alles gelernt, was er konnte, hier hatte er Freunde und Feinde gefunden, hier wusste er, wie alles funktionierte. Und nun? Nun sollte er dem Rat eines alten verwirrten Mannes folgen und all das hinter sich lassen.

Greg grübelte über all die praktischen Unmöglichkeiten, die einer Reise in die Terapolis entgegenstanden. Zunächst einmal hatte er überhaupt keine Ahnung, wie er überhaupt dorthin gelangen sollte. Die Terapolis war für ihn immer einer jener mythischen Orte gewesen, von denen alle sprachen, die aber noch nie jemand gesehen hatte. Ob Nick schon einmal dort gewesen war? Lag sie im Osten oder im Westen? In der Wüste oder in den Bergen? Greg wusste es nicht. Er hätte einfach einen der Schnellzüge nehmen können. Es gab sicher einen Zug, der Menschen in die Terapolis brachte. Aber zum einen hatte er dafür mit Sicherheit nicht genug Wertmarken und zum anderen würden die Züge sicher gut bewacht, so dass er dort sofort auffallen würde. Aber konnte er zu Fuß bis zu Inspektor Freydt laufen? Greg musste sich eingestehen, dass diese Vorstellung ihm furchtbare Angst machte. Wo sollte er schlafen, was sollte er essen? Und dann war da noch die Frage, wie er ohne Papiere aus der Stadt herauskommen sollte. Er besaß einen Passierschein der Klasse G, was bedeutete, dass er die City verlassen und die Vororte bis zur Kontrolllinie grün besuchen konnte. Einmal hatte er diesen Passierschein tatsächlich benötigt, als er mit Josh und Peanut auf einer Kirmes in einem der Dörfer gewesen war, aber ansonsten hatte er immer wenig Lust verspürt, die City zu verlassen. Aus diesem Grund hatte er seinen Passierschein auch in der kleinen Holzschachtel im Lagerhaus gelassen, in der er seine wenigen Habseligkeiten verstaute. Der Weg zu seiner Gemeinschaft war ihm aber verwehrt. Und ohne Passierschein war es doch nahezu ausgeschlossen, aus der Stadt herauszukommen. Eigentlich war es unmöglich für ihn, die Terapolis zu erreichen. Andererseits wäre es ihm heute Morgen auch noch völlig absurd erschienen, dass er jemals überhaupt an so etwas hätte denken müssen.

Als die Dämmerung hereinbrach und die ersten Gaslaternen entzündet wurden, schlich sich Greg zu dem Lagerhaus mit dem grünen Tor, das ihm Nick beschrieben hatte. Es war klug gewählt, denn es stand etwas abseits der großen Lokschuppen, war bereits in Dunkelheit gehüllt und hatte, wie Greg bei einem Erkundungsgang am Nachmittag festgestellt hatte, tatsächlich als einziges Gebäude weit und breit ein grünes Tor.

Greg lehnte sich neben den Türrahmen und versuchte, in den Schatten Bewegungen auszumachen. Von Ferne drangen die Klänge einer Big Band herüber, die einen schnellen Swing spielte. Greg fragte sich, ob es wohl Frogs Band war, die da das Publikum zum Tanz animierte. Ob er Frog und die anderen wohl jemals wiedersehen würde? Was würden sie sagen, wenn er einfach nicht wiederkäme? Ob sie auch glauben würden, er habe Jesua Fingrey umgebracht, wenn die Gerüchte erst die Runde machten?

Der heftige Hieb eines Ellbogens in seine Rippen presste ihm die Luft aus den Lungen und riss ihn aus seinen wehmütigen Gedanken. Stöhnend hielt sich Greg die rechte Seite und blickte nach oben, um den Angreifer erkennen zu können.

„Also wirklich, Junge. Da bist du einer der meistgesuchten Männer der Stadt und träumst in der Gegend herum, als hättest du dich gerade zu einem Schäferstündchen verabredet.“ Nick schenkte Greg ein fast zahnloses Grinsen, denn packte er ihn am Kragen und schob ihn in den alten Schuppen. „So, hier ist es sicherer. Da draußen gibt es zu viele Augen und Ohren.“, brummte er, als er das Tor hinter ihnen zugeschoben und sich den Staub von der Jacke geklopft hatte. Greg beobachtete ihn argwöhnisch, immer darauf bedacht, eine Armlänge Abstand zwischen ihnen beiden zu wahren. Was hatte der alte Nick mit ihm vor?

Nick kramte umständlich in der Innentasche seines Wollmantels. „Ah, da haben wir es ja.“, sagte er endlich zufrieden, zog ein kleines Päckchen hervor und legte es auf einer Kiste ab. In der Dunkelheit konnte Greg nur die Umrisse erkennen. Nick wühlte noch einmal in den Taschen seines Mantels, dann erklangen Klick- und Schabgeräusche, und kurz darauf erhellte die kleine Flamme eines Taschenfeuerzeugs den Raum.

„Los, mach schon auf!“, knurrte Nick und deutete mit dem Kinn auf das Päckchen. Greg beugte sich vor und zog gehorsam die Verschnürung ab. Dann legte er das Päckchen zurück auf die Holzkiste und öffnete es vorsichtig. Darin fand er ein Feuerzeug, ein Taschenmesser mit Griffschalen aus schwarzem Holz, eine Schweißerbrille und ein Stück Papier. Greg warf Nick einen fragenden Blick zu. Der Mund des alten Mannes verzog sich zu einem Schmunzeln. „Ich dachte mir, dass du vermutlich halb nackt auf Reisen gehen wolltest, also habe ich etwas Vorsorge getroffen. Ein Feuer in der Nacht hat schon so manchen Wanderer am Leben erhalten. Na, und was man mit einem Messer alles anstellen kann, muss ich einem Straßenjunge wie dir sicher nicht erklären.“ Mit einer herrischen Geste würgte er Gregs Protest ab, bevor dieser überhaupt einsetzen konnte. „Du wirst es brauchen können. Und wenn du aus der City heraus bist, solltest du unter gar keinen Umständen ohne Schutzbrille herumlaufen. Die Sonne dort draußen ist mörderisch, musst du wissen. Die Schutzhüllen, die man um die Cities gelegt hat, können nicht das ganze Land umfassen.“

Greg schaute Nick verständnislos an. „Der Rauch!“, erklärte Nick mit einer fahrigen Handbewegung. „Er macht irgendetwas mit der Luft. Früher konnte man einfach so in der Sonne herumlaufen, aber seit wir ohne Ende Kohle und Diesel verbrennen und alles in die Atmosphäre blasen, dringt die Sonne unbarmherzig zu uns herab. Für die Cities haben sie Solarpatrocinien errichtet. Die halten die schlimmsten Strahlen ab. Aber wenn du draußen ohne Schutzbrille herumläufst, bist du nach zwei Tagen blind. Und ganz egal, wie heiß dir wird, lass die langen Hosen und die Jacke an. Deine Haut verbrennt schneller, als du dich wieder anziehen kannst.“, setzte er mit energischer Stimme hinzu. „Jetzt aber zum Wichtigsten.“ Nick deutete mit dem Zeigefinger auf das Papier.

Greg nahm es vorsichtig hoch und versuchte, im Schein des Feuerzeugs zu erkennen, was darauf stand. „Ist das eine Art Passierschein?“, fragte er unsicher.

„Eine Art Passierschein.“, wiederholte Nick mit sarkastischem Unterton. „Hör sich einer den Jungen an! Das, mein Junge, ist ein Passierschein, der dich von hier bis zur Terapolis und überall sonst hinbringen wird. So einen Passierschein erhalten nur Handelsvertreter. Er gilt für alle Grenzen und sogar für die Außenbezirke der Terapolis.“, dozierte Nick mit erhobenem Zeigefinger. „Ab heute bist du Handelsreisender im Auftrag der Fingrey Dieselmotoren-Fabrik.“

Greg starrte ihn ungläubig an. „Aber, das ist doch Wahnsinn. Ich bin doch kein Handelsreisender. Das kauft mir doch keiner ab!“

Nun war es an Nick, verständnislos zu blicken. „Wieso denn nicht? Du kennst dich doch mit Dieselmotoren aus. Sogar ziemlich gut, wenn ich es richtig verstanden habe, oder?“

„Nun ja. Ich komme ganz gut zurecht.“, druckste Greg herum. Langsam wurde ihm die Sache unheimlich. Wieviel wusste Nick eigentlich von ihm? Und wo hatte er so mal eben einen solchen Passierschein besorgen können? „Meinst du, es ist nicht etwas verwegen, gerade im Auftrag von Fingreys Firma unterwegs zu sein? Man wird mir Fragen stellen!“

„Und du wirst sie nicht beantworten.“, sagte Nick mit festem Blick. „Du bist schon seit einiger Zeit unterwegs und hast keine Ahnung, was in der Firma direkt vor sich geht. Deine Aufgabe ist es, Dieselmotoren zu verkaufen, und das kannst du richtig gut.“

Greg dachte darüber nach. Nicks Erklärung klang in seinen Ohren vernünftig, doch ein schaler Beigeschmack und das unbestimmte Gefühl, dass es keinesfalls so einfach werden würde, wie Nick es ihm ausmalte, konnte sie nicht verdrängen.

„Ach, beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen.“, fügte Nick mit einer gespielten Geste des Erschreckens hinzu und deutete mit dem Zeigefinger auf die Stelle, an der der Name eingetragen war. „Offiziell heißt du Theodor Gregorich Knox.“

„Aber...“, setzte Greg zu einer weiteren Frage an.

„Na, unter deinem alten Namen kannst du ja wohl kaum reisen, oder?“, unterbrach ihn Nick mit einem Zwinkern. „Aber da ihr Jungs ja immer Flausen im Kopf habt, habe ich es so gedreht, dass du deinen Spitznamen sorglos weiter benutzen kannst, Greg Gregorich.“ Nun strahlte er über beide Ohren, wie ein kleiner Junge, der voller Stolz seinen ersten selbst geschnitzten Holzsoldaten präsentiert.

„Das...ist sehr nett.“ Eine bessere Antwort fiel Greg nicht ein. „Und wie komme ich jetzt in die Terapolis?“, stellte er die Frage, die ihn seit dem Augenblick, an dem die Hochzeitskutsche seinem Leben eine so entscheidende Wendung gegeben hatte, umtrieb.

„Auch dafür habe ich schon eine Lösung.“, sagte Nick mit selbstgefälligem Ton in der Stimme. „Oder besser, einen Experten, der uns weiterhelfen kann. Komm!“, sagte er und zeigte mit einer einladenden Geste auf das Tor des Lagerschuppens.

Mit einer Geschmeidigkeit, die Greg einem Mann seines Alters niemals zugetraut hätte, huschte Nick über die Schienen des inzwischen in völliger Dunkelheit liegenden Bahnhofsgeländes. Greg musste sich sputen, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Immer wieder stolperte er bei dem vergeblichen Versuch, gleichzeitig zu sehen, wo seine Füße hintraten und wohin sich Nick wandte, über Schienen oder Schwellen. Zielstrebig lief der alte Mann auf ein paar dunkle Schatten zu, die vermutlich Lagerschuppen waren. Er schien sich hier auszukennen, wie in seiner Westentasche. Und nicht nur hier. Einmal mehr wunderte sich Greg über diesen alten Mann, der in seinem zerschlissenen Wollmantel und den abgetragenen Tuchhosen so verloren und harmlos wirkte, sich aber in der ganzen Stadt bestens zurechtzufinden schien und über eine Ausdauer und Orientierungsfähigkeit verfügte, die einem wesentlich jüngeren Mann zur Ehre gereicht hätten. Und dann dieses Drahtgestell in seinem Gesicht! Nicht, dass Greg noch nie eine Prothese gesehen hätte. Es gab unzählige Leute in der City, die ein Holzbein oder eine einfache Armschiene aus Aluminium trugen. Aber eine so fein ziselierte Arbeit, die sich fast organisch an das umgebende Gewebe anpasste, war sehr teuer und äußerst selten. Selbst die Reichen, die sich eine Prothese zulegen mussten, machten meist nicht so ein Aufhebens um das Aussehen. Funktionalität stand im Vordergrund. Das wusste Greg von Josh, der sich nichts sehnlichster wünschte, als sein Holzbein durch eines dieser beweglichen Metallbeine zu ersetzen, die jede Bewegung mitgingen und angeblich so an den Körper angepasst wurden, dass es einem vorkam, als hätte man zwei gesunde Beine. Josh meinte sogar, mit einer richtig gut gearbeiteten Prothese könne man weiter springen und schneller rennen als mit zwei gesunden Beinen. Ob Nick mit seinem künstlichen Auge, das immer so starr zwischen den Metalldrähten lag, auch besser sehen konnte, als er? Greg lief ein Schauer über den Rücken. Er spürte einen heftigen Stoß gegen den großen Zeh des rechten Fußes. Bevor er seine Gedanken wieder auf die nächtliche Realität richten konnte, verlor er bereits das Gleichgewicht und spürte, wie sein Körper nach vorn fiel. Er konnte gerade noch die Arme nach oben reißen, um den Sturz abzufangen. Seine Hand verfing sich in einem Stück Stoff und klammerte sich daran fest. Durch seine Schultern ging ein heftiger Ruck, doch gelang es ihm, den Aufprall wenige Zentimeter vor dem Boden zu stoppen. Wie aus weiter Ferne hörte er das ratzende Geräusch, dass entsteht, wenn Stoff reißt. Dann plumpste er die letzten Fingerbreit nach unten und landete unsanft im Kiesbett.

Erschrocken öffnete Greg die Hand, die immer noch den Stoff umklammert hielt und rappelte sich mühsam hoch. Die Knie taten ihm weh, aber sonst schien er unverletzt zu sein. Er hörte, wie Nick vor ihm seinen Mantel abklopfte.

„Tut mir leid wegen des Mantels.“, schluckte Greg.

„Halb so schlimm.“, brummte Nick. „Er war ohnehin hinüber. Komm jetzt lieber weiter und träum nicht so viel!“, knurrte der alte Mann im Befehlston.

Woher wusste Nick, dass Greg geträumt hatte? Konnte er mit seinem künstlichen Auge auch in die Köpfe anderer Leute schauen? Das würde einiges erklären. Greg erwischte sich dabei, wie seine Gedanken schon wieder abschweiften. Er musste sich wirklich besser konzentrieren. Wenn er schon nicht einmal unverletzt über den Bahnhof der City laufen konnte, wie sollte er dann eine Flucht in eine Stadt überleben, von der er noch nicht einmal wusste, wo sie überhaupt lag?

Nachdem sie einige weitere Gleise überquert hatten, blieb Nick abrupt vor einem der Lagerhäuser, auf die sie zugesteuert waren, stehen, so dass Greg keine Möglichkeit mehr hatte, selbst zum Stehen zu kommen und ihm stattdessen direkt in den Rücken lief. Nick klopfte in einem komplizierten Rhythmus an eine Tür, die kurz darauf geöffnet wurde. Der alte Bettler packte Greg am Kragen und stieß ihn in das Gebäude, ohne einen Ton zu sagen. Greg stolperte ein paar Schritte vorwärts und hörte, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, dann tauchte plötzlich Kerzenlicht den Raum in ein orangefarben flackerndes Licht.

Wie Greg bereits vermutet hatte, befanden sie sich in einem Lagerhaus. Überall waren Kisten, Ballen und Säcke gestapelt. Der Lichtkegel der Kerze tauchte nur einen kleinen Teil des Raums in ein fahles Licht. Der Großteil des Lagers blieb in Schatten gehüllt. Schatten, in denen Greg hier und da kleine Bewegungen ausmachen konnte. Offenbar verbargen sich hier mehr Leute als die drei verlotterten Gestalten, die um die Kerze herum saßen.

„Ah, Nick.“, rief einer der Männer. Soweit Greg das in dem kargen Lichtschein erkennen konnte, trug er abgerissene Kleider und einen Hut mit mächtiger Krempe und zwei Federn auf dem Kopf. „So spät noch unterwegs?.“

„Notfall.“, bestätigte Nick, ohne die Anwesenden zu begrüßen. „Der Junge hier muss schnell aus der Stadt.“ Dabei deutete er mit dem Daumen auf Greg, der sich Fehl am Platze fühlte und die neugierigen Blicke von bestimmt acht Augenpaaren auf sich spürte.

„Soso. Muss er das?“, fragte der Mann mit dem großen Hut schelmisch. „Was hat er denn ausgefressen?“

Hinter Greg erklang ein leises gehässiges Kichern.

„Also, ich...“ Greg fühlte sich aus irgendeinem Grund verpflichtet, eine Erklärung abzugeben.

„Erzähl es uns bloß nicht!“, unterbrach ihn der Hutmann mit gebieterischer Stimme. „Alles, was wir wissen, bringt uns bloß in Schwierigkeiten.“, erklärte er dem verwirrt dreinblickenden Jungen. „Jeder hier hat bestimmt genug Dreck am Stecken, um für Jahrzehnte in den Kohlegruben schuften zu müssen.“, fügte der Mann hinzu. Wieder erklang das hämische Kichern, jetzt aus mehreren Kehlen. „Aber ich weiß nicht, was die anderen getan haben, und sie wissen nichts von mir. Ich kenne noch nicht einmal ihre Namen und glaub mir, Junge, das ist auch besser so.“ Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. „Aber wenn Nick sagt, du musst schnell weg von hier, dann vertrau ich ihm, dass es damit seine Richtigkeit hat.“ Er nickte Nick kurz zu. „Also, wo soll es hingehen?“

„Der Junge war noch nie außerhalb der City.“, sagte Nick. Greg fiel auf, dass er damit die eigentliche Frage nicht beantwortete, aber vielleicht hatte Nick dafür ja einen Grund.

„So, er muss also weg, weiß aber nicht, wohin, und hat auch keine Ahnung, wie es da draußen so zugeht?“, fasste ihr Gegenüber Gregs prekäre Lage zusammen.

Aus den Schatten im Hintergrund erklang ein Pfeifen, dass ein wohlwollender Beobachter durchaus als Anerkennung hätte interpretieren können.

„Genau.“, bestätigte Nick. „Habt ihr eine Karte für ihn?“ Bei diesen Worten kramte er ein kleines Säckchen hervor, dass er einem kleingewachsenen Mann, der ebenfalls neben der Kerze saß, zuwarf. Er hatte einen krummen Rücken, trug eine abgewetzte Lederjacke und ein Kopftuch nach Art der Piraten, von denen Greg als Kind nicht genug Geschichten hatte hören können, um den Kopf gebunden. Darunter lugten lange lockige Haare hervor. Der kleine Mann nestelte den Beutel auf und steckte seine Nase hinein. „Guter Stoff.“, meckerte er und nickte mehrmals zufrieden mit dem Kopf.

„Guter Stoff, gute Karte!“, sagte der Mann mit dem Hut und schnippte mit den Fingern. Aus dem Hintergrund erschien nach einem kurzen aufgeregten Tuscheln eine Frau in einem weiten bunten Wollkleid. Sie reichte dem Hutträger einen Fetzen mehrfach gefalteten Papiers und zog sich schnell wieder in die Schatten zurück. „Hier, Nick. Eine der besten Karten, die wir haben.“, sagte er in gönnerhaftem Ton.

Nick winkte Greg zu sich heran. Auch er vermied es also, Namen zu nennen. Greg trat vorsichtig näher und schaute ihm über die Schulter. „Sieh genau her!“, schärfte ihm Nick ein. „Die großen roten Punkte sind Cities. Wir sind hier!“ Er deutete auf einen Punkt, neben dem das Kürzel 95B457 stand. „Du musst die Karte so halten, dass du die Zahlen und Buchstaben lesen kannst, dann ist Norden immer oben.“, erklärte er. Greg war plötzlich froh, dass er im Heim damals, vor seiner Flucht, gezwungen worden war, lesen und schreiben zu lernen. Wer hätte jemals gedacht, dass es für ihn einmal überlebensnotwendig werden konnte, die verschnörkelten Zeichen richtig deuten zu können. „Das hier,“, Nick deutete auf einen dicken blauen Punkt in der Mitte der Karte, „ist die Terapolis. An der orientieren sich alle Entfernungsangaben. Soweit alles klar?“

Greg nickte. „Was stellen die Striche dar?“, fragte er, nachdem er einen weiteren ausführlichen Blick auf die Karte geworfen hatte.

„Die schwarzen sind Eisenbahnlinien, die roten Straßen und Wege, die blauen Flüsse. Alles ganz logisch aufgebaut.“, erläuterte der Mann mit dem Hut selbstgefällig. „Wie gesagt: Guter Stoff, gute Karte!“, er hieb mit seiner Hand auf die Kiste und die Männer an seiner Seite brüllten vor Lachen. Auch aus den Schatten schlossen sich einige Lacher an.

„Außerdem sind einige Kolonien eingezeichnet, das sind die kleinen schwarzen Punkte.“, erklärte Nick unbeirrt weiter. „Muss er noch etwas wissen?“, fragte er in die Dunkelheit hinein.

Wieder war es der Mann mit dem Hut, der das Wort an sich riss. „Das erste Mal unterwegs?“, fragte er nun wieder mit völligem Ernst in der Stimme. „Gut, pass auf! Am schnellsten reist du mit dem Zug. Dieselzüge verkehren zwischen den Cities und verbinden sie mit der Terapolis. Dort willst du aber nicht hin, glaub mir! Zu den Kolonien verkehren Dampfzüge. Meistens sind es Gütertransporte, weniger stark bewacht als die Dieselzüge, dafür aber schmutziger zu bereisen. Bei Dampfloks fährst du lieber vorn im Zug, bei Dieselloks besser hinten. Pferdekutschen und Ochsenkarren kannst du meistens trauen. Sie nehmen gern einen einsamen Wanderer ein paar Meilen weit mit. Wenn du aber Dieselwagen hörst, verlässt du lieber die Straße. Vor allem, wenn du gesucht wirst.“ Bei diesen Worten bedachte er Greg mit einem durchdringenden Blick. „Achte auf die Sonne, die ist mörderisch, und sieh zu, dass du immer genug Wasser und Essen hast! Alles andere lernst du unterwegs.“

Das plötzlich einsetzende zustimmendes Gemurmel rings herum zeigte Greg, dass die Anwesenden der Meinung waren, diese Informationen würden völlig ausreichen, in der Wildnis zu überleben. Er hatte seine Zweifel, ob es wirklich so einfach sein würde, wagte aber nicht, die Worte des Mannes in Frage zu stellen.

„Wenn es schnell gehen soll, rate ich dir, einen Zug zu nehmen. In Kürze fahren mehrere Nachtzüge für die vornehmen Reisenden ab. Wenn du einen davon nimmst, hast du morgen früh schon ein gutes Stück zurückgelegt. Nur für den Fall, dass dich jemand suchen sollte.“, zwinkerte der Hutmann Greg zu. Das Kichern in seinem Rücken machte Greg allmählich nervös.

„Aber, wie soll ich in den Zug hineinkommen? Ich kann mir doch keine Fahrkarte kaufen und der Schaffner würde doch bestimmt stutzig werden, wenn ich in diesem Aufzug einsteige.“ Er zeigte an seiner verdreckten Arbeitskleidung hinunter.

„Fahrkarte? Einsteigen?“, prustete der kleine Mann, dem Nick das Beutelchen zugeworfen hatte. Ein weiterer Heiterkeitsanfall breitete sich in dem Lagerhaus aus. „Du bist wirklich lustig, Junge!“, keuchte er.

„Du fährst nicht in dem Zug.“, erklärte der Mann mit dem breitkrempigen Hut. „Du legst dich auf die Radlager. Mit den Händen hältst du dich an den Laschen unterhalb des Unterbodens fest, die Füße verkeilst du in der Aufhängung. Wenn man ein bisschen geübt ist, kann man so recht bequem reisen. Es gibt nur zwei Dinge, auf die du achten musst.“

Er machte eine kleine Kunstpause, um Greg deutlich zu machen, wie wichtig die folgenden Informationen waren. „Erstens.“ Dabei hob er den Zeigefinger der rechten Hand. „Nicht einschlafen!“

„Klar.“, brachte Greg heraus.

Der Mann nickte. „Zweitens.“ Er hob den Mittelfinger zusätzlich zum Zeigefinger. „Egal, was passiert, du darfst auf keinen Fall loslassen...“

Die Tür des Lagerhauses wurde aufgerissen und ein Schwall kalter Luft lies die Kerze flackern. „Raus hier! Die Bahnpolizei kommt. Ihr habt gebrüllt wie eine Herde Ochsen.“, schrie ein Mann von der Tür her. Im nächsten Moment war er schon wieder verschwunden.

Um Greg herum breitete sich hektisches Treiben aus. Die Menschen rafften Tücher, Taschen und Rucksäcke und huschten durch die Tür und zwei Luken in der Rückwand aus dem Lagerhaus. Er spürte, wie Nick ihn am Handgelenk packte und ins Freie stürmte. Von einer Seite des Bahnhofsgeländes kamen mehrere Sturmlaternen in zügiger Geschwindigkeit auf sie zu. Nick schlug einen Weg ein, der von den Laternen wegführte und Greg ließ sich bereitwillig mitreißen. Eine Begegnung mit der Bahnpolizei war auch ohne einen Mordverdacht am Hals zu haben, etwas, das man unter allen Umständen vermeiden sollte. Den Gerüchten nach war die Bahnpolizei ein Abschiebebahnhof für Polizisten, die durch Dienstvergehen, meist sollten diese etwas mit unangebrachter Brutalität zu tun haben, nicht mehr haltbar waren. Eine dunkle Nacht allein mit diesen Typen in einem finsteren Lagerhaus verbringen zu müssen, stand auf Gregs Wunschliste der Ereignisse, die er vor seinem Tod auf jeden Fall noch erleben wollte, ganz unten.

Nick führte ihn mit traumwandlerischer Sicherheit um die Sturmlaternenträger herum zu den Zügen, die sich für eine Abfahrt bereit machten. An den Bahnsteigen herrschte nur mäßiges Gedränge. Die meisten Fahrgäste schienen schon eingestiegen zu sein und machten es sich vermutlich bereits in ihren Betten bequem. Nick und Greg näherten sich in der Dunkelheit vorsichtig einem Zug, der etwas abseits stand. Sie kamen von der dem Bahnsteig abgewandten Seite, so dass die Chance, gesehen zu werden, verschwindend gering sein musste.

„Dieselzug.“, flüsterte Nick. „Du legst dich besser nach hinten.“ Er klopfte Greg auffordernd auf die Schulter und reichte ihm das Papierstück, das er immer noch in der Hand hielt. „Hier hast du die Karte, pass gut darauf auf.“

„Nick. Der Mann wollte noch etwas Wichtiges sagen.“, zischte Greg nervös.

„Ich weiß. Aber jetzt sind wir hier und du musst aufsteigen. Der Zug fährt gleich los. Denk einfach dran, nicht loslassen, hörst du?“, antwortete Nick und schob ihn auf den Zug zu.

Greg nickte bloß. Sein Gesicht war kreidebleich, die Knie schlotterten ihm, aber das konnte Nick in der Dunkelheit zum Glück nicht sehen, oder? „Danke, Nick.“, flüsterte er.

Nick hob die Hand zum Gruß und zog sich eilig in die Schatten zurück.

Greg kroch zwischen die Waggons und tastete sich an eine der Achsen heran. Wie beschrieben, fand er eine Lasche am Unterboden des Zuges und zog seinen Körper nach oben. Nach einigem Ruckeln hatte er eine einigermaßen annehmbare Position gefunden. Gerade, als er seine Füße in die Aufhängung klemmte, ertönte ein lautes Pfeifen vom Bahnsteig her. Seine Gedanken ratterten. Was, wenn die Bahnpolizei ihn beobachtet hatte? Ob sie gleich unter den Zug kriechen und ihn herauszerren würden? Was würde mit ihm passieren, wenn sie ihn hier unten erwischten? Sollte er lieber schnell wieder absteigen und versuchen, zu Fuß über das Bahnhofsgelände zu fliehen? Wenn er den Schienen folgte, würde er mit etwas Glück die City verlassen können und am Morgen auch schon ein gutes Stück zurückgelegt haben.

Als er soeben zu der Überzeugung gelangt war, das es tatsächlich am besten war, die Flucht zu Fuß zu beginnen und schon seine Füße aus der Verankerung lösen wollte, spürte Greg, wie das Achslager unter ihm wackelte. Die Räder setzten sich in Bewegung und ganz langsam glitt er über das Kiesbett. Die Gasbeleuchtung des Bahnsteigs warf gespenstische Schatten unter den Zug, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen – der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt.

Terapolis

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