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Irgendwer ist immer unterwegs

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Während Theo nach Hause fährt, sucht in der ersten Klasse eines soeben gelandeten Flugzeugs aus Nassau auf den Bahamas ein drahtiger Mann sein Handgepäck zusammen. Er ist etwa fünfzig und hat kurze, graue Haare. Seine Gesichtszüge mit der prägnanten Hakennase und seine Haltung verleihen ihm etwas militärisch-aristokratisches. Man könnte ihn für einen hohen Offizier halten. Doch auf seiner Visitenkarte steht „Sebastian Carras, Rückversicherungen, Nassau“ Keine Adresse, keine Telefonnummer.

Rückversicherungen decken Risiken ab, die Versicherungen aus eigenen Mitteln nicht mehr bezahlen können. Sozusagen die Versicherung der Versicherung. Rückversicherungen sind ein äußerst diskretes Geschäft. Auf den Bahamas, den Cayman-Inseln und anderen Steueroasen gibt es Rückversicherungen, die vor lauter Diskretion so schwierig anzusprechen sind, dass man eher noch eine Audienz beim Papst kriegt. Sebastian Carras fühlt sich in diesem Umfeld wohl. Auch sein wirkliches Geschäftsfeld lebt von Diskretion. Auch er ist schwierig anzusprechen. Seinem neuen Klienten in München ist es nur über Umwege gelungen, ihn zu beauftragen. Und wie eine Rückversicherung befasst sich auch Carras mit Risiken, die anderweitig nicht mehr zu beherrschen sind. Aber nicht mit Geld. Er eliminiert sie.

Ohne Hast begibt er sich ins Empfangsgebäude des Münchner Flughafens. Sein Pass ist in Ordnung, er hat nichts zu verzollen. Was er für seinen Auftrag braucht, liegt in einem Lagerhaus in Flughafennähe. Zur Abholung bereit. Durch den Zoll geschleust auf den bei Rauschgiftschmuggel üblichen Wegen. Er wird die beiden Koffer auf dem Weg in die Stadt mitnehmen. Nach Erledigung des Auftrags wird er sie samt Inhalt spurlos entsorgen. Carras benutzt nie einen Gegenstand zweimal. Am Mietwagenschalter holt er sich die Schlüssel für den reservierten Audi A6 ab. Stark und geräumig, aber noch unauffällig genug.

Nachdem er beim Lagerhaus seine Koffer geholt hat, gibt er im Navigationssystem die Adresse seines Hotels ein: Hilton, Am Tucherpark. Ganz in der Nähe ist die Kanzlei von Ruth Waldau. Aber die beiden kennen sich noch nicht. In seiner Hotelsuite öffnet Carras den Umschlag, der am Empfang für ihn hinterlegt war. Er enthält das Foto eines Mannes und etwas spärliche Informationen über ihn. Sein Auftraggeber hat bisher die Lösung seines Problems in die Hände eines, sagen wir, mäßig professionellen Mannes gelegt, denkt Carras süffisant. So etwas rächt sich immer. Der Halbprofi hat den Auftrag vermasselt und musste zum Schluss noch selbst beseitigt werden. „Das wird nicht mehr vorkommen“ sagt Carras zu sich selbst. Er greift sich eines seiner Prepaid-Handys und gibt eine Nummer ein.

„Ja?“

„Ich bin jetzt da.“

„Gut. Viel Erfolg.“

Carras verzichtet darauf, sich zu bedanken und unterbricht die Verbindung.




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Montagmorgens legt Theo Olga das Foto von Beatrix Waldau als Gespenst auf den Schreibtisch. „Olga, mach mal eine Recherche, ob und wo in Graz dieses Haus steht. Internet, Street View, Fremdenverkehrsamt, was weiß ich.“ Olga nickt nur, darin kennt sie sich aus. Theo geht in sein Büro, verbrennt sich wie immer den Mund an Olgas miesem Kaffee, als das Telefon läutet. Es ist Bernd Stiller, Papa Äffchen. „Guten Morgen, Herr Strack. Ruth Waldau hat uns gestern Abend angerufen und uns von ihrer Zusammenkunft mit Ihnen erzählt. Sie hat gefragt, ob wir etwas dagegen hätten, wenn sie sie über neue Erkenntnisse informieren würden. Ich will nur sagen, uns stört das nicht. Sie gehört ja eigentlich fast zur Familie. In Wahrheit…, wissen sie, Marga und mich regt das alles furchtbar auf. Es wäre uns ohnehin lieber, wenn sie uns erst nach Abschluss ihrer Ermittlungen wieder kontaktieren. In der Zwischenzeit können sie gerne mit Ruth reden. Wir haben sie sozusagen…bevollmächtigt.“ Tausche zwei Urwaldäffchen gegen hübsche Anwältin, denkt Theo erfreut, kein schlechter Deal. „Soll mir recht sein, Herr Stiller“ sagt er fröhlich. „Sie hören dann wieder von mir“.

Theos Laune bessert sich noch, als Olga eine Stunde später hereinkommt. „Wir haben das Haus, Chef“ sagt sie, sichtlich stolz. Die freundliche Dame vom Fremdenverkehrsamt hat´s gewusst. Steht in Graz in der Altstadt, Adresse steht auf dem Zettel. Da ist so ein esoterischer Laden drin. Im Telefonverzeichnis hab ich aber keinen Eintrag dazu gefunden.“ Esoterischer Laden, denkt Theo, dazu würde der Drudenfuß passen. „Dann muss ich halt hinfahren“ sagt er und schaut zum Fenster hinaus. Es ist so ein herrlicher Spätsommertag, an dem der Himmel nicht hellblau-dunstig ist wie im Hochsommer, sondern von einem ganz klaren, durchsichtigen, ,kräftigen Blau. Die Luft hat eine gewisse Schärfe, man kann schon ein bisschen den kommenden Herbst riechen. „Allerfeinstes Reisewetter“ stellt Theo fest. Er guckt in seinen Kalender. „Sag meine Termine für Morgen und Übermorgen ab, Olga. Die armen Teufel erfahren noch früh genug, mit wem ihre Frauen sie betrügen. Ich fahre jetzt gleich.“

Theo packt noch schnell ein paar Sachen zusammen, für spontane Dienstreisen ist er stets gerüstet. Er schnappt sich seine Tasche, winkt Olga zu und verlässt das Büro. Auf dem Gang läuft ihm Hummel in die Arme. Spontan denkt Theo: Warum nicht? Der Kerl soll was lernen!

„Hummel, was hältst du von einer Dienstreise ins Ausland?“ Hummel strahlt. Dienstreisen sind toll. „Gerne, Chef, wann soll´s losgehen?“

„Jetzt sofort.“ Theo packt Hummel am Arm und zieht ihn hinter sich her.

„Aber, aber ich muss doch erst…“

„Was du brauchst besorgen wir unterwegs“ schneidet ihm Theo das Wort ab und schiebt Hummel in den Aufzug.


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Die Fahrt nach Graz verläuft ohne Ereignisse, außer dass sie ständig zum Tanken müssen, weil der Grand Am bei Autobahntempo dreißig Liter braucht. Zum Ausgleich flieg ich nicht nach Thailand zum Baden, sagt sich Theo jedes Mal, wenn er die Zapfpistole an die Säule hängt. In einem Hotel in Zentrumsnähe hat Olga für Theo reserviert. Theo versenkt den Grand Am unter Beanspruchung zweier Stellplätze in der Tiefgarage und geht mit Hummel zur Rezeption. Olga weiß nicht, dass Hummel mitgekommen ist, aber auch für ihn ist noch ein Zimmer frei. „In einer halben Stunde im Foyer“ sagt Theo, bevor sie auf Ihre Zimmer gehen.

Als Hummel pünktlich wieder herunterkommt, hat sich Theo vom Portier schon den Weg zu der gesuchten Adresse beschreiben lassen. „Beeil dich, es ist schon früher Abend“ treibt er Hummel an.“ Wir müssen dort sein, bevor der Laden zumacht.“ Wie ein Bluthund, der Witterung aufgenommen hat, schießt Theo aus dem Hotel. Hummel hat Mühe zu folgen und fragt sich, wie Theo mit seinen Pfunden auf so ein Tempo kommt. Hummel würde sich ja gern die malerische Altstadt anschauen, aber er traut sich nicht, den Blick vom davon stürmenden Theo abzuwenden. Nach zehn Minuten haben sie die abgelegene Gasse erreicht. Theo holt Luft. Da steht es. Das gelbe Haus, wie auf dem Foto. Der Ausleger mit dem Drudenfuß, alles unverändert da. Eine hölzerne Eingangstür, daneben ein winziges Schaufenster, voll mit esoterischem Krimskrams, Tarotkarten, Pendel, Glaskugeln, Ouija-Bretter, Fläschen mit Tinkturen, Beutel mit Kräutern, alles mögliche. An der Tür ein Messingschild:

Melisande Stumm Medium Esoterische Lebensberatung

Jetzt kommt der Moment der Wahrheit, denkt Theo. Entweder wir finden hier was, oder ich kann den Stiller-Fall zu den Akten legen. Er drückt die Klinke und betritt den Laden.

Drinnen sieht es aus wie im Schaufenster, nur dass der Krimskrams hier aus Regalen quillt, die alle Wände von oben bis unten bedecken. Es riecht nach Weihrauch und Kräutern. Eine Lampe in der Ecke beleuchtet mit warmen Licht einen winzigen Tresen, hinter dem eine junge Frau erwartungsvoll von ihrer Lektüre aufschaut. „Guten Abend, Fremde“ sagt sie freundlich. Dem Akzent nach ist sie nicht von hier. “Ich bin Pandora. Kann ich euch helfen?“ Theo räuspert sich. „Guten Abend, mein Name ist Strack, und das ist Herr Hummel. Wir würden gerne mit Frau Stumm sprechen.“

„Habt ihr einen Termin?“

„Nein, leider, wir sind extra aus München hergekommen, um Frau Stumm zu sehen.“ Pandora blickt verträumt an die Decke. „Oh, die Menschen kommen aus der ganzen Welt hierher, um Melisande zu sehen. Aber ohne Termin, ohne Vorbereitung, empfängt sie keinen Besuch. Soll ich euch einen Termin machen? In einem halben Jahr…“

„Vielleicht können sie uns ja auch helfen“ sagt jetzt Hummel. „Wie lange arbeiten sie schon hier?“

„Seit etwa einem Jahr, wieso?“

Mist, das ist nicht lange genug, denkt Theo, es geht nicht ohne Melisande Stumm. „Vielleicht können wir es ja so machen“ sagt er zu Pandora „wir sind Privatdetektive auf der Suche nach zwei vermissten Personen. Eine der Personen wurde vor etwas über zwei Jahren vor diesem Haus fotografiert.“ Er legt das Bild von Beatrix auf den Tresen. „Die Frau war in Begleitung dieses Mannes.“ Theo überreicht eine Aufnahme von Frank Stiller. „Könnten sie Frau Stumm fragen, ob sie diese Menschen jemals gesehen hat? Es wäre wirklich wichtig.“

Pandora will etwas sagen, als sie von einer Stimme unterbrochen wird, die hinter dem Vorhang hervorkommt, der den Laden vom Rest des Hauses abteilt. „Pandora, bring mir die Fotos.“ Es ist die Stimme einer jungen Frau, die nicht viel älter sein kann als Pandora selbst.

Pandora huscht hinter den Vorhang und bleibt quälende Minuten lang verschwunden. Man hört leise Stimmen reden. Endlich taucht sie wieder auf, streift den Vorhang beiseite und macht eine einladende Geste. „Tretet ein, Melisande empfängt euch jetzt.“


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Durch einen kurzen Gang gelangen sie in einen hinteren Raum. Als sie eintreten, blicken sie auf eine Szene, die selbst Theo, der schon viel gesehen hat, erst einmal sprachlos macht. Das Zimmer sieht aus, als ob Filmrequisiteur mit unbegrenzten Mitteln das Boudoir einer osmanischen Prinzessin geschaffen hätte. Orientteppiche bedecken den gesamten Boden und fast alle Wände, Räucherschalen, riesige Vasen, niedrige Messingtischchen, lederne Sitzkissen auf dem Boden, Kandelaber verbreiten schummriges Licht. Am Kopfende des Raums steht erhöht auf einem Podest ein mit üppigen Polstern bedeckter Diwan, auf dem die dickste Frau thront, die Theo jemals gesehen hat. Ihre Fleischmassen werden von einem schwarzen, goldbestickten Kaftan gnädig verborgen. Der kugelrunde Kopf mit Doppelkinn sitzt scheinbar ohne Hals auf den Schultern, die weißen Haare sind straff hinter dem Kopf zusammengebunden. Die Frau ist offenbar alt, hat aber keine Falte im Gesicht. Der absolute Hammer, durchfährt es Theo, ist aber ihre Stimme, mit der sie die beiden zum Platznehmen auf den Lederkissen auffordert. Es ist die Stimme einer jungen Frau, die Stimme, die sie vorhin durch den Vorhang gehört haben.

Wie passt das zusammen? Melisande bemerkt den ungläubigen Ausdruck auf Theos Gesicht, verzieht den winzigen Mund zu einem Lächeln und sagt:“ Wundert euch nicht über die Stimme, sie ist nur eines der vielen Geheimnisse in meinem Leben“. Dann wird sie wieder ernst. “Ihr habt meine Gehilfin angelogen. Die Menschen auf diesen Fotos werden nicht vermisst. Sie sind tot. Beatrix Waldau, vor zwei Jahren in Italien bei einem Strandspaziergang gestorben. Herzversagen, hat man gesagt. Ihr Freund, Frank Stiller vor einem Jahr in München zu Asche verbrannt.“

Theo will etwas sagen, aber Melisande spricht weiter. „Fragt mich nicht, woher ich das weiß. Ich weiß viele Dinge.“ Sie beugt sich vor und sieht die beiden durchdringend an, Hummel läuft ein Schauer über den Rücken. „Und jetzt sagt mir, weswegen ihr wirklich hier seid.“

Theo erkennt, dass er wohl nur mit absoluter Offenheit weiterkommt. Er erzählt die ganze Geschichte, angefangen vom Besuch der Stillers, und lässt auch den Anschlag auf sich nicht aus. Vielleicht besteht ja doch ein Zusammenhang. „Gut“, sagt Melisande nachdenklich, als Theo fertig ist. „Das könnte ein längeres Gespräch werden. Aber ich bin eine schlechte Gastgeberin. „Ihr wollt“-sie blickt auf die Uhr und lächelt kaum merklich- „ihr müsst jetzt sicher etwas trinken.“ Sie klatscht in die Hände. Wie aus dem Boden gewachsen steht Pandora im Zimmer. „Sperr vorne den Laden ab. Dann bringst du“-sie schaut Theo kurz intensiv an-„eine Flasche Cardenal Mendoza und ein Glas für diesen Herrn, und für seinen jungen Begleiter“-sie wendet sich Hummel zu-„ eine Flasche“-sie überlegt noch kurz-„Jägermeister?“ Hummel kann nur noch wortlos nicken, er bringt vor Verblüffung keinen Ton mehr heraus. Auch Theo ist beeindruckt. Entweder es ist ein Riesenzufall, oder sie hat uns weiß Gott wie ausspioniert, oder sie kann wirklich hellsehen, denkt er. Melisande genießt die Situation sichtlich. Pandora serviert die Getränke, vor Melisande stellt sie ungefragt ein Glas mit grünlicher Flüssigkeit ab. Theo will lieber nicht wissen, worum es sich da handelt. Detektiv und Lehrling nehmen je einen kräftigen Schluck, um den Pegel wieder hochzufahren. Melisande nippt an ihrem Glas, schaut die beiden lange an und sagt: „Dann will ich euch einmal eine Geschichte erzählen.“


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„Ich habe gewusst, irgendwann wird jemand kommen und nach diesen jungen Menschen fragen. Ich habe diesen Tag gefürchtet. Aber gestern Nacht habe ich im Traum einen großen, grünen Wagen gesehen, auf dem Weg hierher. Da wusste ich, jetzt ist es soweit.“ Theo und Hummel schauen sich an.

“Frank und Beatrix könnten beide noch leben, wenn ich damals geschwiegen hätte. Diese Schuld werde ich den Rest meines Lebens mit mir herumtragen.“ Melisande nimmt einen Schluck von dem grünlichen Zeugs, Theo und Hummel schenken sich nach. Dann fährt sie fort.

„Vor knapp drei Jahren war hier in der Stadt ein Kongress über Esoterik und Parapsychologie, an dem ich teilgenommen habe.“ Theo fragt sich, ob Melisande ihren Diwan in den Versammlungsraum mitgenommen hat.

„Dabei habe ich Frank Stiller kennen gelernt. In unserer paranormalen Wissenschaft, die von der Schulwissenschaft nicht anerkannt und verlacht wird, tummeln sich leider sehr viele Schwindler und Scharlatane. Gewissenlose Betrüger, die an den Wünschen und Ängsten der Menschen viel Geld verdienen. Dagegen habe ich immer schon gekämpft. Frank Stiller hat zu diesem Thema auf dem Kongress recherchiert. Das hat uns zusammengebracht. Ich habe Frank erzählt, ich könnte ihm Informationen über einige der übelsten Schwindler der Branche geben. Deswegen hat er mich am nächsten Tag hier besucht. Und dabei sind wir ins Reden gekommen.“

Melisande seufzt und redet weiter. „Es ist immer dasselbe. Die meisten Menschen sind gerade vom Bösen fasziniert. Es zieht sie regelrecht an. So war das auch bei Frank. Er kam plötzlich auf die dunklen Seiten in unserem Metier zu sprechen. Verwünschungen, Voodoo-Zauber, Dämonen, Ferntötungen, Untote, Geisterbeschwörungen, Vampire, sechster Sinn, das ganze Kabinett des Grauens. Ich habe ihm gesagt, dass es so etwas natürlich gibt, ich mich aber damit nicht befasse und niemals befassen werde. Die Materie ist sehr gefährlich und kann völlig außer Kontrolle geraten, wenn man nicht genau weiß, was man tut. Es vergiftet Körper und Seele von allen, die sich darauf einlassen. Unumkehrbar. Man wird es niemals wieder los. Es frisst einen mit Haut und Haaren.“

Theo spürt bei diesen Worten, wie im plötzlich kalt wird. Ein komischer Geschmack breitet sich in seinem Mund aus. Er sieht zu Hummel hinüber, der die Schultern hochgezogen hat, leicht zittert und hastig einen Schluck Jägermeister nimmt. Zufall? Theo schaut Melisande an. Ihr Blick sagt ihm, dass sie genau weiß, was Theo im Moment empfindet. Sie fährt fort.

“ Es gibt nur sehr wenige Menschen, die in der Lage sind, sich ernsthaft mit der dunklen Seite zu befassen, ohne dabei… umzukommen. Kaum jemand kennt sie wirklich. Sie bleiben unter sich. Aber ihre Seelen sind verloren und sie bringen nur Unheil über jeden, der sich mit ihnen abgibt. Oder auf sie hereinfällt. Ich kenne jedenfalls keinen und will auch nie einen kennen lernen.“

Melisande trinkt etwas von der grünlichen Flüssigkeit. Es ist totenstill im Raum, man hört Theo und Hummel kaum atmen. Melisande scheint das nicht zu überraschen. „Ich hätte damals aufhören sollen“ sagt sie traurig „ aber Frank war ein sehr neugieriger Mensch und hartnäckig, wenn er sich in etwas verbissen hatte. Er hat nicht lockergelassen, wollte unbedingt mehr wissen, wollte eine Reportage darüber schreiben. Wenn ich schon niemand kenne, der sich mit der dunklen Seite befasst, vielleicht kenne ich jemand, der einen kennt? Und da habe ich ihm…eine Adresse gegeben. Das hätte ich niemals tun dürfen.“

„Was für eine Adresse?“ fragt Theo.

„Die Adresse von einem Professor in Deutschland. Er befasst sich nicht aktiv mit der dunklen Seite. Aber er ist von allen, die auf der richtigen, der guten Seite stehen, derjenige, der mit Abstand am meisten über die dunkle Seite weiß. Er kennt auch einige Personen, die dort…aktiv sind.

Der Rest ist dann schnell erzählt. Frank hat mich ein paar Monate später zusammen mit seiner Freundin wieder besucht. Damals ist auch das Foto von Beatrix entstanden, das ihr mir gezeigt habt. Ich habe Frank gefragt, ob er bei dem Professor war. Er hat gesagt ja, aber er wäre der Sache dann doch nicht weiter nachgegangen. Aber er hat gelogen. Das habe ich sofort gespürt. Er hat so eine negative Aura gehabt. Als ob etwas auf seiner Schulter sitzt. Das Böse hatte ihn schon gezeichnet. Und das schlimmste war, seine Freundin hatte diese Aura auch. Er muss sie irgendwie eingeweiht, mit hineingezogen haben. Später sind sie dann beide gestorben. Das Böse hat sie geholt. Meine Schuld.“

„Es war seine eigene Entscheidung“ sagt Theo ruhig. „ Sie haben ihn gewarnt. Wenn jemand von ihnen etwas über das Fallschirmspringen wissen will, müssen sie nicht so tun, als ob es Fallschirmspringen gar nicht gibt. Sie können ihm sagen, dass Fallschirmspringen gefährlich ist. Sie können ihm sagen, wo eine Fallschirmspringerschule ist. Wenn er hingeht, dann springt und der Schirm geht nicht auf, ist das nicht mehr ihre Schuld. Ich weiß auch, dass es gefährlich ist, die Umstände des Todes von Frank und wohl auch von Beatrix aufzuklären. Ich handle auf eigenes Risiko. Ganz bewusst.“

Theo macht eine Pause und sieht Melisande in die Augen. Dann sagt er: „Kann ich die Adresse von dem Professor haben?“

Melisande überlegt lange. Dann nimmt sie einen Zettel, kritzelt etwas darauf und legt den Zettel auf das Tischen. Sie murmelt: „Ihr solltet jetzt gehen.“

Auf dem Weg ins Hotel sind Theo und Hummel sehr schweigsam. Theo muss an eine Labormaus in einer Versuchsanordnung denken. Auf der einen Seite der Kiste sitzt die Maus, auf der anderen Seite ist das Futter. Dazwischen ist ein Labyrinth. Findet die Maus den Weg zum Futter, oder verirrt sie sich im Labyrinth und verhungert? Ich bin die Maus. Wie und warum ist Frank Stiller gestorben? Wer ist dafür verantwortlich? Die Antwort darauf ist das Futter. Dazwischen liegen Wege und Irrwege, die sich offenbar auf der dunklen Seite von etwas befinden, das sich Parapsychologie nennt. Oder Paranormalie. Am Anfang seiner Reise in diese Welt hat Frank Stiller jemanden aufgesucht. Dort muss er gewesen sein: Der Eingang des Labyrinths.

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Am nächsten Tag machen sich Theo und Hummel zurück auf den Weg nach München. Während der Fahrt ruft Theo bei Olga im Büro an. Er teilt mit, auf dem Rückweg und gegen acht Uhr abends wieder in München zu sein. Nein, Olga müsse nicht auf ihn warten. Theo will das Gespräch gerade beenden, als Olga noch fragt:

“Sag mal, Chef, Hummel ist gestern nicht gekommen. Wissen sie, wo der steckt?“

Theo will gerade sagen, dass Hummel neben ihm im Auto sitzt, als die Funkverbindung abbricht. Egal, denkt Theo, das kann ich ihr auch morgen erzählen. Dann ruft er Ruth Waldau auf ihrer privaten Handy-Nummer an, die sie ihm in Germering gegeben hat.

„Frau Waldau, hier ist Strack. Ich bin gerade auf dem Weg von Graz nach München. Ich habe dort einige Neuigkeiten erfahren, die ich ihnen gerne erzählen möchte. Nein, nicht hier am Telefon. Kommen sie heute Abend in mein Büro. Um neun müsste ich sicher wieder dort sein. Passt? Gut, dann bis heute Abend.“

Nach den üblichen Tankpausen schaffen es Theo und Hummel tatsächlich, gegen acht Uhr zurück im Büro zu sein. Theo zwängt den Grand Am in die Garage und sagt dann:

„Hummel, geh schon mal rauf ins Büro und stell meine Reisetasche dort ab. Ich muss noch schnell zu Ossi, eine Flasche Cardenal Mendoza besorgen. Ich komm dann gleich nach.“

Er drückt Hummel die Büroschlüssel in die Hand. Hummel ist stolz. Zum ersten mal darf er die Büroschlüssel haben. Und überhaupt, die tolle Reise mit dem Chef! Dass er bei einer so wichtigen Recherche dabei sein durfte, erfüllt ihn mit großer Zuversicht, einmal ein großer Detektiv zu werden. So wie Humphrey Bogart in den alten Filmen der schwarzen Serie. Wie in Hollywood.

Von diesen Gedanken beschwingt hat Hummel den vierten Stock erreicht. Er schließt die Tür auf und tritt ein. Die Tür von Theos Büro ist nur angelehnt, aus dem Zimmer fällt Licht. Hat Olga vergessen abzuschalten? Hummel schließt die Tür zum Gang, stellt die Reisetasche auf den Boden und betritt Theos Büro. Hinter dem Schreibtisch sitzt ein Mann, den Hummel noch nie gesehen hat. Sein Aussehen und Habitus haben etwas militärisches, er sieht aus wie ein General in Zivilkleidung. Sein Gesichtsausdruck ist überrascht, so, als habe er jemand anderen erwartet.

Hummel steht da wie angewurzelt. Das ist sein Fehler. Wäre er ohne zu zögern davongerannt, hätte er vielleicht noch eine Chance gehabt. So aber sieht er sprachlos, wie der Mann seine rechte Hand unter dem Schreibtisch hervorzieht. Aus der Bewegung heraus legt er mit einer großen Pistole auf Hummel an. Die beiden ploppenden Geräusche aus dem Schalldämpfer hört Hummel schon nicht mehr. Er ist tot, bevor sein Körper auf dem Boden aufschlägt.

Wer zum Teufel war das denn, denkt Sebastian Carras verärgert. Aus den abgehörten Telefonaten war nicht zu erkennen, dass Strack Begleitung hat. Egal, er kann jetzt nicht länger warten. Dann eben das nächste Mal. Carras steigt über Hummels Leiche und verschwindet.

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Drei Stunden später bauen die Männer von der Spurensicherung die Halogenstrahler ab und packen ihre Geräte in die Koffer. Als sie abgezogen sind, bleiben nur Kommissar Hans Baer, Theo und Ruth Waldau, die ahnungslos dazugekommen war, am Tatort zurück. Baer kocht vor Wut, er kann sich nur mühsam beherrschen.

„Theo, eins schwöre ich dir: Wenn du mir jetzt nicht sagst, was hier Sache ist, sorge ich dafür, dass du deine Lizenz verlierst. Ich werde dafür sorgen, dass du wegen ein paar der alten Geschichten in den Knast kommst. Und ich werde dafür sorgen, dass du zu dem schlimmsten Typen, den du je hinter Gittern gebracht hast, in die Zelle gesteckt wirst.“

Theo weiß genau, dass das keine leeren Drohungen sind. So wie er Baer kennt, bringt der so was durchaus fertig. Man muss wissen, wann man verloren hat.

“Also gut“ seufzt er. Baer guckt fragend zu Ruth Waldau hinüber. „Frau Waldau kann dableiben“ sagt Theo. Er weiß immer noch nicht, wie der Mord mit der Stiller-Sache zusammenhängt. Er kippt sich erstmal einen dreifachen Cardenal Mendoza hinter die Binde. Dann fängt er an zu erzählen: Vom Besuch der Stillers, dem Südamerikaner, seinem Verdacht auf die Inszenierung von dessen Tod, der Spur in den Euro-Industriepark, dem Besuch in Germering, dem Treffen mit Melisande. Dieses Treffen sei aber leider ergebnislos verlaufen, lügt er dann. Die Sache will er doch noch lieber für sich behalten.

Als er fertig ist, sagt Baer grimmig: „Dass du mich aus dem Fall Stiller heraushalten willst, kann ich ja gerade noch verstehen. Aber die Geschichte mit dem Euro-Industriepark? Das hört sich überhaupt nicht nach Hokuspokus an. Das ist schlicht und einfach irdische Schwerkriminalität. Wo soll da der Zusammenhang sein?“

Eigentlich hat er Recht, denkt sich Theo. Da war ich wohl etwas vernagelt.

„Theo“ sagt Baer, „irgendjemand will dich aus dem Weg räumen, aber warum? Entweder du weißt etwas, was du nicht wissen darfst, oder du hast jemandem etwas Furchtbares angetan, für das du jetzt büßen sollst. Wie steht´s damit? Vor Jahren bei dem Sparkassenraub ist einer der Täter, Dragan Jukovic, vor der Verhaftung erschossen worden, mit einer unbekannten Waffe. Ich werde bis heute das Gefühl nicht los, dass dir die Hintergründe dieser Geschichte nicht ganz unbekannt sind. Könnte aus dieser Richtung etwas kommen?“

„Kann ich mir nicht vorstellen“ antwortet Theo. „Selbst wenn ich mit der Sache etwas zu tun haben sollte, was ich selbstverständlich nicht habe,“ - er lächelt hintergründig- „ Jukovic war ein Einzelgänger, seine gesamte Familie ist damals im Balkankrieg umgekommen. Keine rachsüchtige Ehefrau, die mir ans Leder will. Hans, ich weiß wirklich nicht, wer da dahinter stecken könnte. Großes Ehrenwort.“

Baer guckt skeptisch. Dann sagt er: „OK, Theo, in Sachen Mord ermittelt ab sofort ausschließlich die Polizei. Wage ja nicht, dich einzumischen. Und wenn du auf irgendwelche Hinweise stoßen solltest, erwarte ich unverzüglich informiert zu werden.“

„Abgemacht“ sagt Theo und meint es fast so.

„Und was den Fall Stiller betrifft“ fährt Baer fort,“ ich kann dich nicht daran hindern, dort weiter herumzustochern. Im Moment habe ich keine Veranlassung, die Akte wieder aufzumachen. Aber wenn du da etwas vermasseln solltest, wenn du irgendwelche Alleingänge machst, dann Gnade dir Gott. Auch hier gilt: Falls du was erfährst, was ich wissen sollte, teilst du mir das sofort mit. Kapiert?“

„Geht klar“ sagt Theo und denkt: Den Teufel werde ich tun.

„Na dann“ sagt Baer und denkt: Den Teufel wird er tun. Ich muss ihn im Auge behalten.

Baer verabschiedet sich. „Auf gute Zusammenarbeit“ ruft Theo ihm noch nach. So schaust du aus, denkt Baer und geht.

Theo beschließt, sich von dem Schock über Hummels Ermordung durch Arbeit abzulenken. „Sind sie noch aufnahmefähig?“ fragt er Ruth Waldau. Die ist zwar leichenblass, nickt aber tapfer. „Hier können wir nicht bleiben“ stellt Theo fest. „Kommen sie mit zu Ossis Kneipe, da gibt es ein Nebenzimmer. Dort werde ich ihnen erzählen, was ich in Graz wirklich erfahren habe.“




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