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3.Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

R.BULTMANN, Jesus, Hamburg 41970 (= 1926); G.BORNKAMM, Jesus von Nazareth, Stuttgart 91971 (= 1956); H.CONZELMANN, Art. Jesus Christus, RGG3 III, Tübingen 1959, 619–653; H.RISTOW/K.MATTHIAE (Hg.), Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, Berlin 1960; H. BRAUN, Jesus, Stuttgart 21969 (NA 1988); N.PERRIN, Was lehrte Jesus wirklich?, Göttingen 1972; E.SCHILLEBEECKX, Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg 31975; J.JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu (s.o. 1); L.SCHOTTROFF/W.STEGEMANN, Jesus von Nazareth. Hoffnung der Armen, Stuttgart 1978; T.HOLTZ, Jesus aus Nazaret, Berlin 41983; H.SCHÜRMANN, Gottes Reich – Jesu Geschick, Freiburg 1983; E.P. SANDERS, Jesus and Judaism, London 1985; CHR.BURCHARD, Jesus von Nazareth, in: Die Anfänge des Christentums, hg. v. J.Becker, Stuttgart 1987, 12–58; E.SCHWEIZER, Art. Jesus Christus, TRE XVI, Berlin 1987, 670–726; G.THEISSEN, Der Schatten des Galiläers, München 51988; J.P. MEIER, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, I.II.III.IV.V., New York/New Haven 1991.1994.2001.2009.2016; J.GNILKA, Jesus von Nazareth. Botschaft und Geschichte, HThK.S 3, Freiburg 1993; M.BORG, Jesus – der neue Mensch, Freiburg 1993; G.VERMES, Jesus der Jude, Neukirchen 1993; J.D. CROSSAN, Der historische Jesus, München 1994; B.CHILTON/C.A. EVANS (Hg.), Studying the Historical Jesus, NTTS 19, Leiden 1994; E.P. SANDERS, Sohn Gottes. Eine historische Biographie Jesu, Stuttgart 1996; N.T. WRIGHT, Jesus and the Victory of God, Minneapolis 1996; G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus, Göttingen 1996; J.BECKER, Jesus von Nazaret, Berlin 1996; D.FLUSSER, Jesus, Hamburg 1999 (NA); G.LÜDEMANN, Jesus nach 2000 Jahren, Lüneburg 2000; J.ROLOFF, Jesus, München 2000; W.STEGEMANN/B.J. MALINA/G.THEISSEN (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002; G.THEISSEN, Jesus als historische Gestalt. Beiträge zur Jesusforschung, FRLANT 202, Göttingen 2003; J.D.G. DUNN, Christianity in the Making I: Jesus Remembered, Grand Rapids 2003; J.D. CROSSAN/J.L. REED, Jesus ausgraben. Zwischen den Steinen – hinter den Texten, Düsseldorf 2003; M.EBNER, Jesus von Nazareth in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge, SBS 196, Stuttgart 22004; D.MARGUERAT, Der Mann aus Nazareth, Zürich 2004; K.BERGER, Jesus, München 2004; T.KOCH, Jesus von Nazareth, der Mensch Gottes, Tübingen 2004; G.THEISSEN, Die Jesusbewegung, Gütersloh 2004 (NA); L.SCHENKE (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004; J.SCHRÖTER, Jesus von Nazareth, Leipzig 2006; T.ONUKI, Jesus. Geschichte und Gegenwart, BThSt 82, Neukirchen 2006; CHR.NIEMAND, Jesus und sein Weg zum Kreuz, Stuttgart 2007; M. HENGEL/A. M. SCHWEMER, Jesus und das Judentum. Geschichte des frühen Christentums I, Tübingen 2007; D. C. ALLISON, Constructing Jesus. Memory, Imagination, and History, Grand Rapids 2010; A. PUIG I TÀRRECH, Jesus. Eine Biografie, Paderborn 2011; A. STROTMANN, Der historische Jesus: eine Einführung, Paderborn 22015.

Jesus von Nazareth ist die Basis und der Ausgangspunkt aller neutestamentlichen Theologie (s.o. 2.1). Wer aber war dieser galiläische Wanderprediger und Heiler? Was verkündigte er und wie verstand er sich selbst? Welche methodischen und hermeneutischen Aspekte müssen bei der Gewinnung eines plausiblen Jesusbildes bedacht werden? Um diese Fragen zu beantworten, leiten methodologische und hermeneutische Überlegungen die Darstellung der Grundzüge der Verkündigung und des Lebens Jesu ein.

3.1Die Frage nach Jesus

A.SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung I.II, Gütersloh 31977 (= 1913); E.KÄSEMANN, Das Problem des historischen Jesus, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 61970, 187–214; R.BULTMANN, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: ders., Exegetica, hg. v. E.Dinkler, Tübingen 1967 (= 1960), 445–469; E.FUCHS, Zur Frage nach dem historischen Jesus, Tübingen 1960; J.M. ROBINSON, Kerygma und historischer Jesus, Zürich 21967; R.SLENCZKA, Geschichtlichkeit und Personsein Jesu Christi, FSÖTh 18, Göttingen 1967; M.BAUMOTTE (Hg.), Die Frage nach dem historischen Jesus, Gütersloh 1984; C.A. EVANS, Life of Jesus Research. An annotated Bibliography, NTTS 24, Leiden 1996; P.MÜLLER, Trends in der Jesusforschung, ZNT 1 (1998), 2–16; M.LABAHN/A.SCHMIDT (Hg.), Jesus, Mark and Q, Sheffield 2001; J.SCHRÖTER, Jesus und die Anfänge der Christologie, BThSt 47, Neukirchen 2001; J.SCHRÖTER/R.BRUCKER (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin 2002; J. H. CHARLESWORTH/P. POKORNÝ (Hg.), Jesus Research I, Grand Rapids 2009; T. HOLMÉN/S. E. PORTER (Hg.), Handbook for the Study of the Historical Jesus I–IV, Leiden 2011; CHR. KEITH/A. LE DONNE (Hg.), Jesus, Criteria, and the Demise of Authenticity, London 2012; P. BILDE, The Originality of Jesus, Göttingen 2013; J. H. CHARLESWORTH/B. RHEA (Hg.), Jesus Research II, Grand Rapids 2014.

Die historische Frage nach Jesus ist ein Kind der Aufklärung1. Für die ältere Zeit war es selbstverständlich, dass die Evangelien zuverlässige Kunde über Jesus vermitteln. Vor der Aufklärung beschränkte sich die neutestamentliche Evangelienforschung im Wesentlichen darauf, die vier Evangelien zu harmonisieren. Praktisch war die neutestamentliche Exegese eine Hilfsdisziplin der Dogmatik.

Stationen der Forschung

Erst am Ende des 18.Jh. brach die Erkenntnis auf, dass der vorösterliche Jesus und der von den Evangelien (und auch den Kirchen) verkündete Christus nicht derselbe sein könnten. Von besonderer Bedeutung in dieser Entwicklung war Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), von dem Gotthold Ephraim Lessing zwischen 1774–78 posthum sieben Fragmente veröffentlichte, ohne die Identität des Verfassers preiszugeben. Von nachhaltiger Wirkung war das 1778 publizierte 7. Fragment: „Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger“2. Reimarus unterscheidet hier zwischen dem Anliegen Jesu und dem seiner Jünger: Jesus war ein jüdischer politischer Messias, der ein weltliches Reich aufrichten und die Juden von der Fremdherrschaft erlösen wollte. Die Jünger standen nach der Kreuzigung vor der Vernichtung ihrer Träume, sie stahlen den Leichnam Jesu und erfanden die Botschaft von seiner Auferstehung. Für Reimarus war somit der Jesus der Geschichte mit dem Christus der Verkündigung nicht identisch; Geschichte und Dogma sind zweierlei: „allein, ich finde große Ursache, dasjenige, was die Apostel in ihren eignen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben würklich selbst ausgesprochen und gelehret hat, gänzlich abzusondern.“3

David Friedrich Strauss (1808–1874) veröffentlichte 1835/36 sein Aufsehen erregendes ‚Leben Jesu‘, das eine Flut von Widerlegungsversuchen hervorrief, seinem Verfasser lebenslange gesellschaftliche Ächtung bescherte, hinter dessen Grundthese von der mythischen Ausgestaltung der Jesusüberlieferung die Forschung aber nicht mehr zurück kann. „Wenn die altkirchliche Exegese von der doppelten Voraussetzung ausgieng, dass in den Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens eine übernatürliche, enthalten sei, wenn hierauf der Rationalismus die zweite dieser Voraussetzungen wegwarf, doch nur um desto fester an der ersten zu halten, dass in jenen Büchern lautere, wenngleich natürliche, Geschichte sich finde: so kann auf diesem halben Wege die Wissenschaft nicht stehen bleiben, sondern es muss auch die andere Voraussetzung fallen gelassen, und erst untersucht werden, ob und wie weit wir überhaupt in den Evangelien auf historischem Grund und Boden stehen.“4. Die Geschichtlichkeit Jesu wird von Strauss zu einem erheblichen Teil in den Mythos verflüchtigt, so dass die Wirklichkeit des historischen Geschehens und der damit verbundene Wahrheitsanspruch auseinanderklaffen. Strauss hoffte, die dadurch entstandene Spannung aufzulösen, indem er den Kern des christlichen Glaubens aus der Geschichte herauslöste und in eine Idee übertrug. Eine trügerische Hoffnung, denn dem scheinbar positiven Ertrag stand ein grundlegendes Defizit gegenüber: Wahrheit kann nicht auf Dauer jenseits von geschichtlicher Wirklichkeit behauptet werden.

Der projektive Charakter der Leben-Jesu-Bilder des 19.Jh. wurde in der ‚Geschichte der Leben-Jesu-Forschung‘ von Albert Schweitzer (1875–1965) aufgedeckt. Schweitzer zeigte, dass jedes der liberalen Jesusbilder genau die Persönlichkeitsstruktur aufwies, die in den Augen ihres Verfassers als höchstes anzustrebendes, ethisches Ideal galt. M.Kähler und R.Bultmann ziehen aus der Vielfalt der Jesusbilder und den exegetischen Schwierigkeiten, ein sachgemäßes Jesusbild zu entwerfen, in unterschiedlicher Weise den Schluss, allein den kerygmatischen Christus bzw. das nachösterliche Kerygma als theologisch relevant anzusehen (s.o. 2.1). M.Kähler betont, Jesus Christus sei für uns nur so fassbar, wie ihn die Evangelien schildern, nicht hingegen so, wie ihn wissenschaftliche Rekonstruktionen darstellen. Für R.Bultmann gilt es, radikal die Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, dass wir Jesus nur in einem mythischen Gewand kennen und es nicht möglich sei, wirklich hinter das Kerygma zurückzukommen. Bultmann folgt Kähler in der Anschauung, der Glaube könne sich nicht an scheinbar historische Fakten binden. Historische Forschung unterliegt notwendigerweise einem ständigen Wandel, so dass sich auch die Ergebnisse verändern müssen. Für den Glauben würde das bedeuten, dass er gewissermaßen den sich ständig ändernden Ergebnissen der Exegeten angepasst werden müsste.

Eine neue Runde in der historischen Frage nach Jesus leitete 1954 Ernst Käsemann (1906–1998) ein. Er konstatiert: „Die Frage nach dem historischen Jesus ist legitim die Frage nach der Kontinuität des Evangeliums in der Diskontinuität der Zeiten und der in Variation des Kerygmas.“5 Zwar war man weit davon entfernt, ein Leben Jesu rekonstruieren zu können, aber man erkannte, dass zwischen der Verkündigung Jesu und der frühen Gemeinde nicht so radikal getrennt werden konnte, wie Bultmann dies tat. Käsemann stellte bei seiner Rekonstruktion das sogenannte Differenzkriterium in den Mittelpunkt, wonach wir einigermaßen festen historischen Boden unter den Füßen haben, wo sich eine bestimmte Jesustradition weder aus dem Judentum noch aus dem frühen Christentum ableiten lässt. Als einflussreiche Jesusbücher aus dieser Forschungsphase sind die Werke von Günther Bornkamm (1905–1990) und Herbert Braun (1903–1991) zu nennen.

Die neuere Jesusforschung in Amerika (‚third quest‘)6 ist in sich uneinheitlich, deutlich stehen aber die Forderung nach Einbeziehung aller Quellen (außerkanonische Überlieferung, Archäologie, postulierte ‚Quellen‘7) und eine veränderte Wertung von Quellen (Qumran-Schriften, Nag-Hammadi-Funde mit dem Thomasevangelium) im Mittelpunkt der Diskussion8. So gelten die Qumranfunde als ein Zeugnis für die Vielschichtigkeit des Judentums im 1.Jh. n.Chr.9; diese Vielschichtigkeit ermöglicht es, auch Jesus von Nazareth konsequent im Rahmen des Judentums seiner Zeit zu interpretieren (z.B. G.Vermes, E.P. Sanders). Das von E.Käsemann so hoch geschätzte Differenzkriterium wird einer scharfen Kritik unterzogen, Jesus gilt als besonderer Jude innerhalb des Judentums10. Eine radikale Neubewertung erfährt teilweise das Thomas-Evangelium, das von einigen Exegeten als ältestes Zeugnis von Jesusüberlieferungen angesehen und nicht in die Mitte des 2.Jh., sondern um 50 n.Chr. datiert wird (J.D. Crossan). Eine solche Interpretation des Thomasevangeliums führt zu einem veränderten Jesusbild, bei dem nicht mehr die futurische Eschatologie im Mittelpunkt steht. Jesus ist nicht (mehr) der Verkünder des kommenden Reiches Gottes, sondern ein gesellschaftlich unangepasster, geisterfüllter, charismatischer Weisheitslehrer und Erneuerer (M.J. Borg). Allerdings sprechen die konsequente Entkontextualisierung der Worte Jesu, die sekundäre Stilisierung überkommener Formen und die gänzliche Abkopplung von der Geschichte Israels deutlich für eine spätere Datierung des Thomasevangeliums11.

In Teilen der nordamerikanischen Jesusforschung war und ist deutlich die Tendenz zu spüren, tatsächliche oder postulierte außerkanonische Überlieferungen in den Rang von Vor- oder Nebenformen der synoptischen und johanneischen Jesusüberlieferung zu erheben (H.Köster/J.M. Robinson12; J.D. Crossan, B.L. Mack13). Das Ziel solcher Konstruktion liegt zweifellos darin, die Deutungsmacht der kanonischen Evangelien zu brechen und ein alternatives Jesusbild zu etablieren. Dabei dienen häufig die Lust am Sensationellen (Jesus und die Frauen; gleichgeschlechtliche Liebe, Jesus als Prototyp alternativen Lebens, undogmatische Anfänge des Christentums), die bloße Vermutung und das unbewiesene Postulat als Stimulans für eine bewusst öffentlichkeitswirksam geführte Debatte14. Historischer Kritik halten solche Konstruktionen nicht stand, denn weder die Existenz eines ‚geheimen Markusevangeliums‘ oder einer ‚Semeia-Quelle‘15 lassen sich wahrscheinlich machen und das Thomasevangelium gehört in das 2.Jh.!

Schließlich ist die neue Frage nach Jesus durch eine starke Einbeziehung sozialgeschichtlicher und kultur-hermeneutischer Fragestellungen16 sowie ein Zurücktreten genuin theologischer Themen gekennzeichnet. Nach der Funktion der radikalen Liebes- und Versöhnungsethik Jesu innerhalb der damaligen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Gegebenheiten wird ebenso gefragt wie nach der besonderen Form des Judentums in Galiläa oder nach Übereinstimmungen zwischen der Jesusbewegung und der Kynikerbewegung in Syrien/Palästina17.

Das Phänomen der Erinnerung spielt innerhalb der Jesusforschung schon seit Jahrzehnten eine Rolle. Dabei rückten in den letzten Jahren zwei Forschungsrichtungen in den Vordergrund:

1) Das Konzept der Augenzeugen, wobei vor allem mit Hinweis auf die Gedächtnis- und Erzählforschung von einer gesicherten und stabilen mündlichen Tradition ausgegangen wird, die bei Augenzeugen des Geschehens (vor allem dem Zwölferkreis) ihren Ausgangspunkt hat18. Dies könnte für kurze stabile Überlieferungseinheiten (Einzellogien, kurze Logiensammlungen, Gleichnisse, Sentenzen) durchaus zutreffen, nicht aber für größere komplexe Texteinheiten. Zumal die Einbindung einer Erzählung in einen vorher nicht vorhandenen schriftlichen Kontext die Textgestalt verändert, was gegen die These einer kontinuierlichen Traditionsentwicklung vom Mündlichen zum Schriftlichen spricht. Hinzu kommt, dass dieser Ansatz teilweise mit apologetischen Motiven verbunden ist, indem die historische Zuverlässigkeit der Traditionen stark betont wird.

2) Tendenziell in die entgegengesetzte Richtung geht der sog. memory approach, der vor allem im anglo-amerikanischen Bereich beheimatet ist. Er betont im Rahmen der neueren geschichtstheoretischen Diskussion (s.o. 1.1–3)19, dass jeder Erinnerungszugang unumgänglich durch die je eigene Gegenwart des Erzählenden/der Erzählenden geprägt ist. Im Mittelpunkt stehen die Interessen und Motive der Erzählgemeinschaft. Die Texte sagen immer zuerst etwas über die aus, die sie überliefern; über ihre Erinnerungskultur, ihre Probleme und ihre theologischen Konzepte. Nicht die Vergangenheit an sich wurde bewahrt, sondern als Wirkung von Vergangenheit jene Traditionen, die einer Erzählgemeinschaft zur Deutung ihrer Gegenwart wichtig waren. Diese zutreffenden Beobachtungen, wonach uns Jesus nur in den narrativen Präsentationen der Evangelien zugänglich ist (s. u. 3.1.1), werden jedoch vielfach mit grundsätzlichen Einwänden20 gegen die gängigen Kriterien der kritischen Jesus-Forschung verbunden (s. u. 3.1.2). Was der memory approach der Jesusforschung vorwirft, trifft aber in einem viel höheren Maß für ihn selbst zu: eine unpräzise Fragestellung mit einer völlig unklaren Methodik21. Zunächst ist social memory keine Methode, sondern eine Fragestellung; besser: eine Metapher, in die jeder/jede etwas hineinlegen kann. Erinnerung gibt es streng genommen immer nur bei Einzelpersonen. Kann man die Erinnerungen einer Gruppe erfassen? Es geht um anonyme Erinnerungs- und Erzählprozesse von Gemeinschaften, die sich aber nicht wirklich greifen lassen und faktisch nur behauptet werden! Hinzu kommt: Die Evangelien sind keine abgeschlossenen narrativen Räume, die nur auf einer Ebene – der Ebene der Erzählgemeinschaft – Auskunft über sich selbst geben. Vielmehr sind Gedächtnis, Erinnerung und Erzählung grundsätzlich offene Systeme, das Resultat einer Geschichte und als solche reflektieren sie Geschichte. Geschichte geht in die Texte ein und wird in und mit den Texten verarbeitet. Deshalb werden Textgrenzen keineswegs überschritten, wenn methodisch reflektiert über die Jesusbilder der erzählenden Gemeinschaften hinaus nach den Ausgangspunkten dieser Bilder in den Texten gefragt wird: dem Wirken des geschichtlichen Jesus von Nazareth. Die von und über Jesus handelnden Texte selbst geben zahlreiche Hinweise auf sie prägende historische Ereignisse. Genau diese Ereignisse überliefern uns die Erzählgemeinschaften und man würde ihr Interesse geradezu ins Gegenteil verkehren, bliebe man auf ihrer Ebene stehen.

3.1.1Jesus in seinen Deutungen

Unübersehbar sind auch die neuen Jesus-Bilder Spiegel ihrer Zeit; der Jesus der Postmoderne erfüllt alle politischen und kulturellen Hoffnungen seiner Interpreten/Interpretinnen: Er überwindet geschlechtsspezifische, religiöse, kulturelle und politische Spaltungen, wird so zum Sozialreformer und universalen Versöhner. Deutlich in den Hintergrund treten alle nicht zeitgemäßen Aspekte des Wirkens Jesu: seine Wundertätigkeit, seine Gerichtspredigt mit ihren dunklen Visionen und sein Scheitern an den gesellschaftlichen/politischen Verhältnissen der Zeit. Er ist vor allem das, was auch wir sind und sein wollen: Mensch, Freund und Vorbild. Auf dem Hintergrund der vorangegangenen geschichtstheoretischen Überlegungen (s.o. 1) überrascht dies nicht, denn jedes Jesus-Bild ist unausweichlich eine Konstruktion der Exegeten in ihrer Zeit.

Methodisch zweifelhaft wird dann aber ein Grundzug, der nach wie vor Teile der internationalen Jesusforschung bestimmt: den ‚historischen‘, ‚wirklichen‘ Jesus hinter den uns vorliegenden Quellen zu finden22. Jesusforschung wird dabei weitgehend als ein reduktives Verfahren verstanden, mit dem Ziel, hinter der Vielfalt der Deutungen die tatsächlich geschehene Geschichte aufzuspüren. Auch das vermehrte Wissen über das antike Judentum, die vertieften Einblicke in die historischen und sozialen Kontexte Galiläas im 1.Jh. und eine reflektierte Methodik können die Perspektivität und Relativität historischer Erkenntnis nicht überwinden. Erst in der narrativen Darstellung der Zusammenhänge gewinnt ein Geschehen historische Qualität (s.o. 1); Tatsachen oder Ereignisse der Vergangenheit werden nur zum Bestandteil von Geschichte, wenn sie durch Prozesse historischer Sinnbildung angeeignet werden können. Die Personen und die Ereignisse müssen in Beziehung zueinander gesetzt werden, Anfang und Ende eines historischen Verlaufs muss bestimmbar sein. Die Voraussetzungen jeweils gegenwärtigen Erkennens und der jeweilige Quellenbefund gehen von Beginn der historischen Darstellung an eine unlösliche Verbindung ein. Dies gilt für die Evangelisten als Autoren einer Jesus-Christus-Geschichte ebenso wie für Exegeten, die ihre Jesus-Christus-Geschichte schreiben. Die notwendige narrative Präsentation eines Geschehens negiert aber keineswegs die Rationalitätsansprüche der Historiographie, sondern ist ihre Voraussetzung. Jesus von Nazareth kann deshalb nicht anders als in seinen literarischen Kontexten erfasst werden. Die Frage nach Authentizität und Fakten auf der Basis eines kritischen Quellenbefundes bleibt, kann aber nicht hinter oder jenseits der narrativen Präsentation und damit des immer auch fiktionalen Charakters der Jesus-Christus-Geschichte in den uns vorliegenden Evangelien beantwortet werden. Es kann keine Reproduktion von Quellen oder Rekonstruktion vorgegebener historischer Zusammenhänge, keine Rück-Frage nach Jesus geben, sondern nur eine den Verstehensbedingungen und dem Überlieferungsbefund gleichermaßen verpflichtete, methodisch geleitete Konstruktion des Wirkens Jesu23. Deshalb können Jesusdarstellungen nicht länger eine Suche nach der Welt hinter den Texten sein24. Es ist nicht möglich, eine historisch und theologisch verantwortbare Jesuserzählung an den narrativen Darstellungen der Evangelien vorbei zu entwerfen, weil bereits sie die frühesten Zeugnisse einer Figuration des Wirkens Jesu sind.

Konsequenzen

Aus diesen Überlegungen ergeben sich mehrere Konsequenzen: 1) Wenn die narrative Präsentation überhaupt erst Geschichte ermöglicht, es ohne Erzählung keine Erinnerung an Jesus geben kann, dann kann zwischen der Erzähl- und der Wortüberlieferung nicht mehr schematisch eine Alternative aufgebaut werden, wonach die Wortüberlieferung Anspruch auf Authentizität besitze, die Erzählüberlieferung hingegen sekundär hinzugetreten sei25. Beide Formen haben zunächst denselben Anspruch auf Authentizität, denn sie überliefern, was als charakteristisch und damit erinnernswert von Jesus erzählt und schließlich aufgezeichnet wurde. Nicht die Gattung, sondern erst die Einzelanalyse kann darüber entscheiden, welches Ereignis oder welches Wort für Jesus in Anspruch genommen werden kann. Die narrativen Kontexte der Wort- und Gleichnisüberlieferung müssen innerhalb der Jesusdarstellung ernst genommen werden. 2) Die Frage nach Jesus kann nicht auf den ‚historischen‘ Jesus als den ‚wirklichen‘ Jesus reduziert werden26, denn wenn uns Jesus nur in seiner narrativen Präsentation und damit in seiner Bedeutsamkeit zugänglich ist, kann nicht einfach zwischen einer ‚rein‘ historischen und einer theologischen Fragestellung unterschieden werden27. Es gibt die historische Frage nach Jesus, nicht aber den ‚historischen‘ Jesus! Weil Jesus von Nazareth niemals jenseits seiner Bedeutung für den Glauben zugänglich war und ist, muss auch für den vorösterlichen Jesus die Frage nach seinem Sendungsbewusstsein und der theologischen Bedeutung seines Wirkens gestellt werden28. 3) Jedes Jesus-Bild muss die unterschiedlichen Wahrnehmungen erklären, die Jesus von Nazareth vor und nach Ostern auslöste und die verschiedenen Anknüpfungen an ihn plausibel machen. Die Geschichte des frühen Christentums zeichnet sich von Anfang an durch eine hohe Anschlussfähigkeit sowohl gegenüber dem hellenistischen Judentum als auch gegenüber dem genuin griechisch-römischen Kulturraum aus. Eine nachhaltige Anschlussfähigkeit ist nicht einfach identisch mit Anpassung, sondern gewinnt ihre Kraft aus dem Ursprungsgeschehen, d.h. die Entstehung der Christologie und die verschiedenen Entwicklungen in der Geschichte des frühen Christentums bis hin zur beschneidungsfreien Völkermission werden aus geschichtstheoretischer Sicht auch Anhaltspunkte im Wirken und in der Verkündigung des Jesus von Nazareth haben. Jesu einzigartiger vorösterlicher Anspruch, eine schon sehr früh ausdifferenzierte Christologie und eine innerhalb der Weltgeschichte singuläre Ausbreitungsgeschichte einer neuen Religion lassen sich nur überzeugend erklären, wenn die Kraft des Anfangs so stark und mannigfaltig war, dass sie eine Vielfältigkeit der Interpretationen aus sich heraussetzen konnte.

3.1.2Kriterien der Frage nach Jesus

W.G.KÜMMEL, Dreissig Jahre Jesusforschung (1950–1980), BBB 60, Königstein/Bonn 1985, 2–32; K.KERTELGE (Hg.), Rückfrage nach Jesus, Freiburg 21977; F.HAHN, Methodologische Überlegungen zur Rückfrage nach Jesus, in: K.Kertelge (Hg.), Rückfrage nach Jesus, 11–77; E.SCHILLEBEECKX, Jesus (s.o. 3), 70–89; D.LÜHRMANN, Die Frage nach Kriterien für ursprüngliche Jesusworte, in: J.Dupont (Hg.), Jésus aux origenes de la christologie, BEThL XL, Leuven 1989, 59–72; J.SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils (s.u. 3.6), 8–94; G.THEISSEN/D.WINTER, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung, Fribourg/Göttingen 1997; J.P. MEIER, A Marginal Jew I (s.o. 3), 167–195; ST. PORTER, The Criteria for Authenticity in Historical-Jesus Research, JSNT.S 191, Sheffield 2000; I.BROER, Die Bedeutung der historischen Rückfrage nach Jesus und die Frage nach deren Methodik, in: L.Schenke (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s.o. 3), 19–41; A.SCRIBA, Echtheitskriterien der Jesus-Forschung. Kritische Revision und konstruktiver Neuansatz, Hamburg 2007.

Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, dass die Frage nach Jesus von Nazareth hermeneutisch und methodisch hohe Anforderungen stellt. Sie ist nicht ‚hinter‘, sondern in den Texten zu vollziehen; damit aber keineswegs unmöglich, sondern auf der historischen Ebene methodisch reflektiert durchführbar und auf der theologischen Ebene geboten. Jesus von Nazareth war und bleibt der zentrale Bezugspunkt des Glaubens, der auch nach der historischen Vergewisserung seiner selbst fragt, weil er sich wesentlich auf eine historische Gestalt und ein historisches Gesamtgeschehen bezieht. Wie aber soll das konkret aussehen; mit Hilfe welcher Kriterien/Kategorien ist es möglich, aus dem breiten Strom der Überlieferung Worte Jesu herauszufiltern, sie von späteren Interpretationen und Aktualisierungen zu unterscheiden, ohne dabei die oben genannten Grundüberlegungen zu vernachlässigen? Zur Beantwortung dieser Fragen muss zunächst zwischen Basiskriterien und Materialkriterien unterschieden werden.

Basiskriterien

Das entscheidende Basiskriterium ist die ‚Gesamtplausibilität‘, wonach eine Rekonstruktion der Verkündigung Jesu sowohl im Kontext des Judentums als auch des entstehenden Christentums plausibel sein muss29. Zur Gesamtplausibilität gehört auch, dass jedes Jesus-Bild mit der Gesamttendenz der synoptischen Evangelien übereinstimmen sollte30. Diese Evangelien sind die Basis-Quellen für Jesus von Nazareth und es kann keine historisch verantwortete Jesusinterpretation an ihnen vorbei oder sie massiv korrigierend geben, weil ein solches Vorgehen als willkürlich anzusehen wäre. Die Evangelisten waren keine eigenmächtigen Konstrukteure, sondern sie dokumentieren, repräsentieren, reflektieren und interpretieren ein geschichtliches Geschehen. Deshalb bilden sie das Fundament und bestimmen zugleich die Grenzen jeder plausiblen Jesus-Darstellung. Die ‚Kontextplausibilität‘ geht davon aus, dass eine Alternative Jesus – Judentum historisch wie theologisch verfehlt ist. Jesus kann nicht vom Judentum abgehoben werden, sondern er muss innerhalb des Judentums, genauer: im Kontext seiner galiläischen Welt verstanden werden. Die Einbindung Jesu in die Sprach- und Handlungsmuster seiner Umwelt schließt zudem eine kritische Stellung Jesu innerhalb des Judentums keineswegs aus, denn das Judentum war zu dieser Zeit keine homogene Einheit, sondern umfasste vielfältige, sich teilweise widersprechende Strömungen.

Zugleich muss erklärt werden, wie aus der Verkündigung Jesu das frühe Christentum entstehen konnte. Neben der Kontextplausibilität ist die ‚Wirkungsplausibilität‘ das zweite entscheidende Kriterium, denn historisch kann nur ein Jesusbild sein, dass sowohl die Verkündigung Jesu im Rahmen des Judentums seiner Zeit als auch die Entwicklung von Jesus zum Urchristentum verständlich macht31. Die Botschaft Jesu ist in Galiläa entstanden und mit Galiläa verbunden, ohne jedoch auf die sozialen, kulturellen und politischen Gegebenheiten Galiläas reduziert werden zu können; sie hat politische Dimensionen, obwohl sie in ihrem Kern nicht politisch ist32. Dies zeigt deutlich die Rezeptionsgeschichte, denn Jesu Verkündigung vom Reich Gottes wurde – abgelöst von seinem konkreten historischen und geographischen Ort – innerhalb sehr kurzer Zeit im gesamtem Mittelmeerraum aufgenommen. Dies war nur möglich, weil Jesu Verkündigung über ihre religiösen und sozial-politischen Inhalte hinaus auch eine ideengeschichtliche Qualität hatte und hat: Der eine Gott, der in neuer und überraschender Weise in der Liebe den Menschen nahe kommt und eine neue Gemeinschaft der Menschen jenseits von Herrschaft und Gewalt schaffen will.

Die beiden Basiskriterien der Kontext- und Wirkungsplausibilität nehmen die geschichtstheoretische Einsicht auf, dass nachhaltige historische Entwicklungen über Anschlussfähigkeit verfügen müssen. Diese Anschlussfähigkeit vollzieht sich immer innerhalb existierender kultureller Kontexte und setzt neue Entwicklungen in Gang.

Materialkriterien

Als materiale Kriterien für die Erhebung authentischer Jesusworte können gelten33: 1) Die Mehrfachbezeugung. Die Rückführung eines Wortes auf Jesus ist dann plausibel, wenn dieses Wort in verschiedenen Überlieferungssträngen aufbewahrt wurde (z.B. Jesu Stellung zur Ehescheidung in Mk, Q, Paulus). Zur Mehrfachbezeugung gehört auch die gegenseitige Bestätigung von Wort- und Tatüberlieferung. Wenn Jesu Worte und sein Verhalten in die gleiche Richtung gehen, sich wechselseitig erläutern, dann liegt ein starkes Argument für Authentizität vor (z.B. Jesu Verhalten gegenüber Zöllnern und Sündern). 2) Differenz- bzw. Unähnlichkeitskriterium. R.Bultmann formuliert dieses klassische Kriterium so: „Wo der Gegensatz zur jüdischen Moral und Frömmigkeit und die spezifisch eschatologische Stimmung, die das Charakteristikum der Verkündigung Jesu bilden, zum Ausdruck kommt, und wo sich andererseits keine spezifisch christlichen Züge finden, darf man am ehesten urteilen, ein echtes Gleichnis Jesu zu besitzen.“34 Das Differenzkriterium steht mit anderen Kriterien in Spannung (z.B. der Kontextplausibilität), und man kann hier von einer Wortlastigkeit sprechen, weil der Erzählüberlieferung zu wenig historischer Eigenwert zuerkannt wird. Dennoch ist der dem Differenzkriterium zugrunde liegende Gedanke ernst zu nehmen: Es können solche Aussagen von Jesus hergeleitet werden, die sich weder aus den Voraussetzungen und Interessen des Judentums, noch aus denen der christlichen Gemeinde erklären lassen. 3) Das Kohärenzkriterium. Dieses Kriterium beruht auf dem Postulat, dass sich die Verkündigung Jesu im Ganzen als kohärent erweisen muss. Es müssen Jesus somit diejenigen Teile der Überlieferung abgesprochen werden, die nicht in dieses Gesamtbild passen. Auch dieses Kriterium ist widersprüchlich, denn es setzt immer schon ein bestimmtes Bild der Verkündigung Jesu voraus, das sich dann selbst bestätigt. Dennoch ist auch hier der Grundgedanke zutreffend. Was sachlich mit jenen Stoffen übereinstimmt, die mit Hilfe eines anderen Kriteriums als echt erwiesen wurden, kann als ursprünglich gelten. 4) Das Wachstumskriterium. Dem Wachstumskriterium liegt die Überlegung zugrunde, dass ursprüngliches Jesusgut im Verlauf der Überlieferung durch sekundäre Texteinheiten angereichert wurde, die wiederum literarkritisch abgetragen werden können. Die literarkritische Analyse ermöglicht es hier, das Jesuslogion als Ausgangspunkt der Überlieferung zurückzugewinnen (vgl. Mt 5,33–37). 5) Das Anstößigkeitskriterium. Dieses Kriterium geht von der Überlegung aus, dass Worte oder Taten Jesu, die sowohl im jüdischen Umfeld als auch im Urchristentum als anstößig gesehen werden mussten, Verlegenheit hervorriefen und tendenzwidrige Züge aufwiesen, auf Jesus zurückzuführen sind. So gehört z.B. die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer zum historischen Grundbestand des Lebens Jesu, denn sie wurde vom Urchristentum in ihrer Bedeutung minimiert. Jesus lässt zudem unmoralische Helden in seinen Gleichnissen auftreten, so z.B. den ungerechten Haushalter (Lk 16,1b–7). Schließlich agiert Jesus selbst als unmoralischer Held und pflegt geselligen Verkehr mit Zöllnern und Sündern. 6) Das Kriterium der Ablehnung und Verwerfung. Hier geht es um Ereignisse, Erzählungen und Worte, die zu einer Ablehnung Jesu führten. Zu diesem Bereich gehören z.B. die Zurückweisung der Tora-Auslegung Jesu durch die Pharisäer und Schriftgelehrten; sein Einzug in Jerusalem, der von Juden und Römern als religiös-politische Anmaßung verstanden werden konnte, oder die Tempelreinigung, die von den Sadduzäern als Angriff auf ihre Privilegien gewertet werden konnte.

Jedes Jesus-Bild ist notwendigerweise und unausweichlich eine Konstruktion, die aber nicht willkürlich, sondern auf der Basis der Überlieferung anhand von Kriterien vollzogen wird35. Jedes Einzelkriterium verfolgt eine bestimmte Frageabsicht und ist für sich widersprüchlich. In ihrer Gesamtheit sind die Kriterien jedoch aussagekräftig, denn sie ergänzen sich im Zusammenspiel. Ein Gesamtbild baut immer auf den Ergebnissen von Einzelanalysen auf, zugleich beeinflusst das gewonnene Gesamtbild stets auch die Einzelanalysen. Dieser Zirkel ist sachgemäß, weil so Einseitigkeiten verhindert werden. Der vorausgesetzte und zugleich immer wieder gewonnene Gesamtsinn des Wirkens Jesu und die zahlreichen Einzelaspekte seines Wirkens interpretieren und ergänzen sich gegenseitig.

Über die genannten Kriterien hinaus ist die Überlieferungsdichte von grundlegender Bedeutung; je umfassender bestimmte Redeformen (z.B. Gleichnisse), Perspektiven (Reich Gottes, Gericht), Taten (z.B. Heilungen) und Handlungen (z.B. Konflikte mit Pharisäern; Gemeinschaft mit ‚Unreinen‘) dominieren, um so wahrscheinlicher bilden sie das Zentrum des Auftretens Jesu. Die Überlieferungsdichte lässt die Grundstrukturen des Wirkens Jesu deutlich vor Augen treten36 und zeigt, wie Jesus vor und nach Ostern wahrgenommen wurde. Kein historisch plausibles Jesus-Bild kann an den Hauptlinien der narrativen Präsentation Jesu und damit an der Überlieferungsdichte vorbei entworfen werden!


3.2Der Anfang: Johannes der Täufer

J.BECKER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, BSt 63, Neukirchen 1972; O.BÖCHER, Johannes der Täufer, TRE 17, Berlin 1988, 172–181; ST. V. DOBBELER, Das Gericht und das Erbarmen Gottes, BBB 70, Frankfurt 1988; J.ERNST, Johannes der Täufer, BZNW 53, Berlin 1989; K.BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes, PaThSt 19, Paderborn 1991; R.L. WEBB, John the Baptizer and Prophet, JSNT.S 62, Sheffield 1991; H.STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg 1993, 292–313; J.P. MEIER, A Marginal Jew II (s.o. 3), 19–233; G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus (s.o. 3), 184–198; U.B. MÜLLER, Johannes der Täufer, Leipzig 2002; J.D.G. DUNN, Jesus Remembered (s.o. 3), 339–382; L.SCHENKE, Jesus und Johannes der Täufer, in: ders. (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s.o. 3), 84–105.

Mit keiner Gestalt Israels sah sich Jesus so eng verbunden wie mit Johannes dem Täufer. Bereits von ihren Zeitgenossen wurden beide miteinander verglichen (Mt 11,18fpar; vgl. Mk 2,18par; 6,14–16par) und in der frühchristlichen Überlieferung werden zahlreiche Verbindungen zwischen ihnen und auch ihren Schülern angedeutet (vgl. Mk 2,18; Lk 1,5ff; 11,2; Joh 1,35–51; 3,22ff; 4,1–3; 10,40–42; Apg 19,1–7). Wer Jesus von Nazareth verstehen will, muss Johannes den Täufer kennen lernen.

3.2.1Johannes der Täufer als historische Gestalt

Das Neue Testament und Josephus (37/38 – um 100 n.Chr.) sind die beiden wichtigsten Quellen über Johannes d. T., die mit ihren Darstellungen jeweils eigene Ziele verfolgen. Die ntl. Nachrichten sind von der Auseinandersetzung mit der Täuferbewegung bestimmt und deutlich bestrebt, Johannes d. T. unterzuordnen, ihn zum eschatologischen Vorläufer und zum Zeugen des Messias Jesus von Nazareth zu degradieren (vgl. Mk 1,7f; Lk 3,16par; Joh 1,6–8.15.19ff). Josephus (Ant 18,116–119) stellt den Täufer für seine römisch-griechische Leserschaft als einen Tugendlehrer dar, der von Herodes Antipas getötet wurde, „obwohl er ein vortrefflicher Mann war und die Juden dazu aufforderte, Tugend und Gerechtigkeit gegeneinander und Frömmigkeit gegenüber Gott zu üben und zur Taufe zu kommen. Dann werde Gott die Taufe angenehm sein, weil sie nicht zur Abbitte für Sünden, sondern zur Reinigung des Leibes ausgeführt werde, denn die Seele sei schon vorher durch (ein Leben) in Gerechtigkeit gereinigt“ (Ant 18,117)37. Josephus schweigt über die Beziehung zwischen Johannes und Jesus, er unterdrückt die Gerichtsbotschaft des Täufers und stellt dessen Taufe als bloße rituelle Reinigung des Körpers ohne einen Bezug zur Sündenvergebung dar. Zugleich zeigt der Bericht des Josephus aber auch, dass im antiken Judentum der Täufer als unabhängige und selbständige Gestalt wahrgenommen wurde.

Biographisches und Geographisches

Das Geburtsjahr des Täufers ist unbekannt, er dürfte in den letzten Jahren vor dem Tod Herodes d. Gr. (4 v.Chr.) geboren sein38. Johannes entstammte wahrscheinlich einer einfachen priesterlichen Familie (vgl. Lk 1,5), und dieser priesterliche Hintergrund war für sein Selbstverständnis und Handeln von großer Bedeutung39. Die Wirksamkeit Johannes d. T. begann nach Lk 3,1 im 15. Jahr des Tiberius, d.h. im Jahr 28; die Dauer seines Wirkens ist unbekannt. Er trat nach Mk 1,4f „in der Wüste“ auf (vgl. Q 7,2440: „Nachdem sie aber weggegangen waren, begann Jesus zu der Volksmenge über Johannes zu sagen: Was seid ihr in die Wüste hinausgegangen zu sehen“) und taufte im Jordan. In Frage kommt für diese Ortsangabe der Unterlauf des Jordans, wo es Stellen gibt, die sich durch Zugänglichkeit, fließendes Wasser und Wüste bis direkt an den Fluss heran auszeichnen. Wahrscheinlich lag die Taufstelle östlich des Jordans gegenüber Jericho41, denn Johannes verband mit dem Ort ein theologisches Programm: Das Geschehen der Urzeit wiederholt sich in der Endzeit; Israel befindet sich wiederum vor dem Einzug in das verheißene Land, der nun vom Täufer neu und anders ermöglicht wird42. Für ein Wirken des Täufers östlich des Jordans spricht auch die Tradition, dass er (wahrscheinlich um 29 n.Chr.) durch den Tetrarchen von Peräa Herodes Antipas hingerichtet wurde (vgl. Mk 6,17–29; Jos, Ant 18,118f)43. Zum Auftreten in der Wüste passen schließlich die Nachrichten über das Auftreten und die Lebensweise des Täufers in Mk 1,6 (vgl. Q 7,25)44. Seine Kleidung war aus Kamelhaaren gefertigt (vgl. Elia nach 1Kön 19,13.19; 2Kön 1,8LXX; 2,8.13f); sie bestand aus demselben Material, aus dem die Beduinen ihre Mäntel und Zelte herstellten. Der Ledergurt ist ebenfalls ein beduinisches Requisit, ein langer Riemen aus Gazellenleder, den die Beduinen zum Schutz um den bloßen Leib geschlungen trugen. Die Heuschrecken und der wilde Honig gehören zu der kargen Nahrung der Beduinen, so dass der Täufer schon von seinen Zeitgenossen asketisch gedeutet wurde (vgl. Mk 2,18; Q 7,33f). Kleidung, Nahrung und Auftreten des Täufers sind kulturfern und signalisieren eine Existenz außerhalb des von Israel in Besitz genommenen Landes. Mit dieser gesamten Existenzweise bekundet Johannes den Ernst der Gerichtssituation, in der er seine Zeitgenossen sieht.

Der Grundbestand der Verkündigung des Täufers lässt sich relativ sicher ermitteln; sie ist Gerichts- und Bußpredigt und ganz von einer eschatologischen Naherwartung bestimmt.

Kommender Zorn und Feuergericht

Im Zentrum der Verkündigung des Täufers steht Gottes unmittelbar bevorstehendes Gerichtshandeln (Q 3,7–9): „Schlangenbrut! Wer hat euch in Aussicht gestellt, dass ihr dem kommenden Zorngericht entkommt? Bringt darum Frucht, die der Umkehr entspricht, und bildet euch nicht ein, bei euch sagen zu können: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erwecken. Aber schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird daher herausgehauen und ins Feuer geworfen.“ Johannes lebte offenbar in der Gewissheit, dass der ‚kommende Zorn‘ unmittelbar ganz Israel bedroht. Die Metapher der ‚Schlangenbrut‘ dient als Unheilsandrohung, denn Schlangen werden zertreten oder erschlagen. Auch der Rekurs auf Abraham ist nicht mehr möglich und die bedrohliche Gerichtsnähe wird mit der Zeitangabe (ἤδη = „schon“) zugespitzt und durch das Bildwort von der Axt und dem Baum konkretisiert. Alles zusammen macht die Ausweglosigkeit der Situation deutlich. Nirgends begründet der Täufer, warum Gott zürnt; er konfrontiert Israel in aggressiver Selbstverständlichkeit mit seiner Gerichtsbotschaft. Damit steht Johannes in prophetischer Tradition (vgl. Am 5,18–20; 7,8; 8,2; Hos 1,6.9; Jes 6,11; 22,14; Jer 1,14)45, die er bewusst aufnimmt und verschärft, denn die Gerichtskatastrophe kommt nicht irgendwann, sondern steht unmittelbar bevor: Wenn die Axt schon angesetzt ist, muss nur noch die Person kommen, die fällen soll. Die Trennung von Spreu und Weizen durch Worfeln hat schon begonnen, danach wird die Spreu verbrannt (Q 3,17). Auffallend ist, dass bei dem schmalen Überlieferungsbestand gleich dreimal das Feuermotiv als Metapher für das Gericht46 in verschiedener Konnotation begegnet (vgl. Q 3,9.16b.17). Es dürfte für den Täufer charakteristisch gewesen sein, auch wenn es nur in Q und nicht bei Josephus, Markus und Johannes erscheint.

Die entscheidende theologische Weichenstellung des Täufers liegt allerdings nicht in der Schärfe und Dringlichkeit des Vernichtungsgerichts47, sondern in der ausweglosen Situation der Angeredeten. Weil Gericht und Heil immer zugleich Bestandteil des Handelns Gottes sind48, ist Gottes Heilshandeln stets auch sein Gerichtshandeln. Die herkömmliche Stellung der Gruppen innerhalb dieses Geschehens (hier die auserwählten Gerechten, dort die Abtrünnigen und/oder Heiden) verschiebt sich allerdings grundlegend. Der Täufer teilt nicht die im antiken Judentum allgemein verbreitete Auffassung, wonach auf die Einsicht in die eigene Schuld und das Bekenntnis der Buße die Vergebung Gottes folgt, der an seinen Bund mit den Vätern trotz des wiederholten Versagens Israels festhält (vgl. z.B.Neh 9; Tob 13,1–5; PsSal 17,5; LibAnt 9,4; TestLev 15,4). Die bisher offene Möglichkeit der Wiederholung der Buße aufgrund der Erwählung Israels steht nicht mehr zur Verfügung! Die trügerische Hoffnung, Gott werde um des Bundes willen Israel wohl züchtigen, nicht aber ganz verwerfen, denn Gott könne sich nicht untreu werden, wird vom Täufer zerstört. Jerusalem, Tempel oder Tora werden noch nicht einmal erwähnt. Neu und besonders provokativ war schließlich, dass Johannes die Flucht zu Abraham und den damit verbundenen Verheißungen versperrte. Die von Johannes geforderte Umkehr orientiert sich nicht am Gesetz und am Tempel, sondern sie erfolgt in der Taufe49. Dabei geht es nicht nur um eine sittliche Besserung, sondern die Wendung βάπτισμα μετανοίας εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν (Mk 1,4: „Taufe zur Vergebung der Sünden“) beinhaltet eine anthropologische Prämisse: Das gesamte vorfindliche Israel ist ein Unheilskollektiv und dem Unheilsgericht verfallen. Die von Johannes verkündete Umkehr verlangt von Israel das Bekenntnis, dass Gott mit seinem Zorn im Recht ist. Dieses Bekenntnis ist nach Auffassung des Johannes die letzte Möglichkeit, die Gott Israel einräumt, um dem kommenden Unheil zu entgehen. Gott wird in Kürze seinen Willen universal durchsetzen und es ist die Stellung zur Botschaft des Täufers, die über Heil oder Unheil im Endgeschehen entscheidet. Die Taufe des Johannes als eschatologisches Bußsakrament ist der Ausdruck der geforderten Umkehr und sie verbürgt als eine Art Versiegelung das Heil. Damit ist Johannes der Täufer nicht einfach nur ein Vorläufer des kommenden Richters, sondern er ist zugleich Mittler des Heils, denn seine Taufe ermöglicht es, im kommenden Gericht auf der Heilsseite zu stehen. Wer der kommende Richter sein wird, lässt sich den Texten nicht mehr mit Sicherheit entnehmen.

Der kommende Stärkere

Der Verweis auf einen kommenden Stärkeren ist ein weiteres zentrales Element der Verkündigung des Täufers (Q 3,16b–17): „Ich taufe euch mit/in Wasser, der nach mir kommt, ist jedoch stärker als ich. Ich bin nicht würdig, ihm seine Sandalen zu tragen. Er selbst wird euch mit/in [heiligem Geist und]50 Feuer taufen. Seine Schaufel ist in seiner Hand, und er wird seinen Dreschplatz säubern und den Weizen in seine Scheune einsammeln, die Spreu aber wird er in einem Feuer verbrennen, das nicht erlischt.“ Wer ist der Starke, der nach dem Täufer unmittelbar das Feuergericht vollziehen wird? In der Forschung schwankt man zwischen einer messianischen Gestalt und Gott selbst.

Für eine Identifizierung des Stärkeren mit Gott können folgende Argumente angeführt werden: 1) Nur Gott kann ein neues endzeitliches Handeln jenseits aller überlieferten jüdischen Heilserwartungen vollziehen und Sünden vergeben. 2) In Q 3,17 beziehen sich die Possessivpronomina („seine Tenne“, „seine Scheune“) auf Gott; ὁ ἰσχυρός („der Starke“) ist ein der LXX geläufiger Gottesname, was der Stärkere tut, ist traditionell Gottes Werk (vgl. Jes 27,12f; Jer 13,24; 15,7; Mal 3,19). 3) In Lk 1,15f wird gesagt, dass der Sohn des Zacharias ‚groß sein wird vor dem Herrn‘ und „dass er viele Kinder Israels hinwenden wird zu dem Herrn, ihrem Gott“51. Diesen Argumenten stehen andere gegenüber, die auf eine von Gott zu unterscheidende Mittlergestalt verweisen: 1) Die Beziehung des Täufers zu einem anderen, der „stärker“ ist und eine noch wirkungsvollere Taufe bringt, ist eine Verhältnisbestimmung, die beide Gestalten einem Bereich mit nur graduellem Unterschied zuordnet. 2) Der Anthropomorphismus vom „Tragen der Schuhe“ (Q 3,16b) bzw. vom „Lösen der Schuhriemen“ (Mk 1,7b) ist als Bild für Gott unpassend. 3) Die Frage des Täufers an Jesus: „Bist du der Kommende“ (Q 7,19) setzt eine auf Erden wirkende Mittlergestalt voraus. 4) Wäre Gott der Kommende, dann müsste sich der Täufer nicht so stark abgrenzen, denn Gott war selbstverständlich „der Stärkere“. Eine solche von Gott zu unterscheidende Mittlergestalt könnten der Menschensohn (vgl. Dan 7,13f; äthHen 37–71)52, der davidische Messias (vgl. PsSal 17; Achtzehngebet Ben 14) oder eine messianische Mittlergestalt ohne geläufigen Titel sein53.

Eine Entscheidung ist schwer zu treffen, aber der vom Täufer erhobene Anspruch lässt keinen Platz für eine weitere Mittlergestalt, sondern verweist auf Gott selbst als den in Kürze Handelnden54. Der Täufer proklamiert eine Neukonstitution Israels jenseits von Erwählung, Bund, Tempel und Tora, die nur von Gott im Gericht ratifiziert werden kann. Im Kontext von Mal 3 verstand sich Johannes als Gottes endzeitlicher Bevollmächtigter, der als Erster andere Menschen taufte55; er lebte in dem Bewusstsein, die endzeitliche, allein Gott zukommende Sündenvergebung bereits jetzt sakramental zu bewirken.

3.2.2Jesus und Johannes der Täufer

Das Verhältnis zwischen Jesus und dem Täufer berührt die Ebenen der Biographie, der Lehre und der Wirkungsgeschichte.

Biographische Berührungen

Die grundlegende biographische Kontinuität ist das historische Faktum der Taufe Jesu durch Johannes d. T. (vgl. Mk 1,9–11par). Damit verbindet sich die Frage, ob dies ein punktuelles Ereignis war oder Jesus über längere Zeit als Mitglied der Täuferbewegung angehörte. Deutlich ist zunächst, dass Jesus durch die Taufe die Perspektive des Täufers bejahte und übernahm: Gottes richtendes Eingreifen steht unmittelbar bevor. Israel kann sich nicht mehr auf seine heilsgeschichtlichen Prärogative berufen und ist in seiner Gesamtheit dem Gericht verfallen. Innerhalb der Gerichtsbotschaft besteht zweifellos die größte Kontinuität zwischen dem Täufer und Jesus56, beide stehen außerhalb der sonstigen Gruppenbildungen in Israel und gehören zur prophetischen Tradition. Zugleich gibt es deutliche Unterschiede in der Außenwahrnehmung und Selbstdarstellung: Josephus weiß offenbar nichts von einer Verbindung zwischen dem Täufer und Jesus und Q 7,33f verweist auf markante Differenzen: „Denn Johannes kam, er aß nicht und trank nicht, und ihr sagt: Er hat einen Dämon. Der Menschensohn kam, er aß und trank, und ihr sagt: Siehe dieser Mensch, ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern.“57 Bei aller Hochschätzung gegenüber dem Täufer (vgl. Q 7,26: „Doch was seid ihr herausgegangen zu sehen? Einen Propheten? Ja, ich sage euch, und mehr als einen Propheten“), grenzt sich Jesus zugleich deutlich ab, denn ‚der Kleinste im Königreich Gottes ist größer als Johannes‘ (Q 7,28; vgl. Q 16,16).

Die Überlieferung verweist auf eine geistige Verwurzelung Jesu im Täuferkreis, beide bewegten sich in einem vergleichbaren religiös-sozialen Milieu und Jesus wurde als Parallelgestalt zum Täufer wahrgenommen (vgl. Mk 6,14–16par; 8,28). Zugleich gibt es keine überzeugenden Indizien für eine längere Mitgliedschaft Jesu im Täuferkreis58. Man wird Jesus deshalb als einen Täuferschüler für kurze Zeit verstehen müssen59.

Kontinuität und Diskontinuität in der Lehre

Eine entschiedene Theozentrik verbindet die Verkündigung des Täufers und Jesu: Es geht ihnen um den hereinbrechenden Gott, der auf neue Art und Weise handelt. Die Unheilsbotschaft ist dabei die entscheidende lehrmäßige Brücke; auch für Jesus ist Israel als Ganzes dem Vernichtungsgericht verfallen, der Rückgriff auf die heilsgeschichtliche Erwählung fruchtet nicht mehr (vgl. Lk 13,1–5). Unterschiedlich bestimmen der Täufer und Jesus jedoch die neue Zuwendung Gottes. Bei Johannes ist die Taufe eschatologisches Bußsakrament und rettet vor dem Unheil; insofern muss auch beim Täufer von einer Heilsbotschaft gesprochen werden. Jesus setzt andere Akzente, er tauft nicht und löst den Bußgedanken von der Taufe. Er misst der Grundgewissheit des Täufers einen anderen Platz bei, denn bei ihm dominiert nicht die Unheils-, sondern die Heilsbotschaft. Jesus teilt mit dem Täufer eine akute Naherwartung, sieht aber im Hereinbrechen des Reiches Gottes in Verbindung mit seiner Person einen Vorrang des Heilshandelns Gottes, so dass bei ihm neben die futurische eine präsentische Eschatologie tritt (s.u. 3.4.2). Der Täufer erwartete den „Stärkeren“, womit er Gott selbst meinte. Jesus sprach hingegen vom zukünftigen Menschensohn, mit dem er sich identifizierte und den er auf Erden bereits repräsentierte (s.u. 3.9.2). Während der Täufer demonstrativ asketisch auftrat und in der Wüste wirkte, durchzog Jesus die besiedelten Gebiete Galiläas und begab sich auch nach Jerusalem. Auffällig ist schließlich, dass Jesus sich in besonderer Weise Randgruppen zuwandte und vor allem als Gleichniserzähler und Wundertäter im Gedächtnis blieb.

Wirkungsgeschichtliche Berührungen

Johannes d. T. sammelte bereits zu Lebzeiten Jünger um sich, als Kennzeichen dieser Gruppe galten Fastenbräuche (vgl. Mk 2,18par: „Und die Jünger des Johannes und die Jünger der Pharisäer fasteten“) und eigene Gebete (Lk 5,33; 11,1). Nach Ostern entwickelte sich eine Konkurrenz zwischen den Johannesjüngern und der sich bildenden christlichen Gemeinde, denn zwischen beiden Bewegungen gab es einen personalen Austausch (vgl. Joh 1,35–51; 3,22; 4,1); sie ähnelten sich und wurden von Zeitgenossen verglichen. Aus dem völlig eigenständig auftretenden Täufer wird nun der „Vorläufer“ und „Wegbereiter“ für Jesus (vgl. Mk 1,2fpar). Der vierte Evangelist annullierte schließlich die Selbständigkeit des Täufers ganz und machte aus ihm den bloßen Zeugen für Jesus als Sohn Gottes (Joh 1,23.27–34.36; 3,27–30). Die Christen erkannten in Jesus von Nazareth den gekreuzigten und auferstandenen Christus, den von Johannes verheißenen Messias, und übernahmen von ihm die Taufpraxis. Zugleich grenzten sie sich von der Johannestaufe durch ihre Geisterfahrung ab, während Johannes nur mit Wasser taufte, tauften sie mit Wasser und Geist (vgl. Mk 1,8par; Apg 19,1–7). Dennoch existierte die Johannesbewegung über einen langen Zeitraum und wirkte über den palästinisch-syrischen Raum hinaus auch in Kleinasien, worauf Apg 18,24–19,7 hinweist.

Jesu Eigenständigkeit

Was begründete die Eigenständigkeit Jesu gegenüber seinem Lehrer? Welches Ereignis brachte ihn zu der Gewissheit, dass Gottes endgültiges Eingreifen schon begonnen hat – nicht zum hereinbrechenden Unheil, sondern in neuer Weise zum Heil? Wahrscheinlich führte ein visionäres Erleben Jesu zu der Einsicht, dass Gott zuerst zum Heil gegenwärtig ist (s.u. 3.3.2/3.4). Ein Nachklang dieser Vision dürfte in Lk 10,18 vorliegen: „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz“60. Das mythische Böse ist schon besiegt, der Satan aus dem Zentrum der Wirklichkeit entfernt. Deshalb trat Jesus als Wundercharismatiker mit einer Heilsbotschaft für die Armen und Marginalisierten auf. Die in seiner Gegenwart von Gott und ihm selbst bewirkten Wunder überzeugten ihn davon, dass schon jetzt die Heilszeit begonnen hatte, der Satan besiegt war und er von Gott als entscheidende Gestalt im Endgeschehen ausersehen war.

3.3Der Ausgangspunkt: Das Kommen des einen Gottes in seinem Reich

J.JEREMIAS, Abba, in: ders., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 15–67; J.BECKER, Das Gottesbild Jesu und die älteste Auslegung von Ostern, in: Jesus Christus in Historie und Theologie (FS H.Conzelmann), hg. v. G.Strecker, Tübingen 1975, 105–126; H.MERKLEIN, Die Einzigkeit Gottes als die sachliche Grundlage der Botschaft Jesu, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 103, Tübingen 1998, 154–173.

Für Jesus von Nazareth ist das gesamte Leben und die Wirklichkeit insgesamt ein Gottesgeschehen, eine theozentrische Grundperspektive prägt seine Sicht der Welt. Gott erscheint weder als weltfernes Gegenüber noch als ein kultisch Domestizierter, sondern er ist neu, überraschend und machtvoll unmittelbar gegenwärtig. Diese Erfahrung einer neuen Gottesnähe und die Formulierung eines neuen Gottesbildes sind die prägenden Elemente der Sinnbildung Jesu.

3.3.1Der eine Gott in der Verkündigung Jesu

Die Einzigkeit Gottes bildet die sachliche Grundlage des Denkens und der Verkündigung Jesu. Das Grundbekenntnis Israels zur Einzigkeit Jahwes (vgl. Dtn 6,4; Ex 34,13; Hos 13,4) wurde von Deutero-Jesaja zum grundlegenden theologischen Konzept erhoben61. Jahwe, der ‚König Jakobs‘ geht mit den Göttern der Heiden ins Gericht und erweist ihre Nichtigkeit (vgl. Jes 41,21–29; 43,10 u.ö.). Positiv zeigt sich die Einzigkeit Jahwes in seiner totalen und exklusiven Kompetenz für Schöpfung, Geschichte und Heil. Der Spruch an Kyros fasst dies zusammen: „Ich bin der Herr, und sonst niemand; außer mir gibt es keinen Gott. Ich habe dich zum Kampf gerüstet ohne dass du mich kanntest, damit man vom Osten bis zum Westen erkenne, dass es außer mir keinen Gott gibt. Ich bin der Herr, und sonst niemand. Ich erschaffe das Licht und erschaffe das Dunkel, ich bewirke das Heil und bewirke das Unheil. Ich bin der Herr, der das alles vollbringt“ (Jes 45,5–7). Weil Jahwe der einzige ist, muss sich sein Königreich als befreiende Tat an seinem Volk erweisen: „Ich bin Jahwe, ich, und außer mir gibt es keinen Retter. … Ich allein bin Gott; auch künftig werde ich es sein“ (Jes 43,11–13). Schon jetzt kann Deutero-Jesaja die baldige Rettung seines Volkes mit dem Ruf ankündigen: „Dein Gott ist König“ (Jes 52,7). In der weiteren prophetisch-apokalyptischen Tradition wird die Einzigkeit Gottes als Motiv durchgehend vorausgesetzt. Den sachlichen Zusammenhang von Gottesherrschaft und Einzigkeit Jahwes formuliert prägnant Sach 14,9: „Dann wird der Herr König sein über die ganze Erde. An jenem Tag wird der Herr der einzige sein und sein Name der einzige.“ Die Einzigkeit Gottes und seine Herrschaft über Israel gehören unmittelbar zusammen, Jahwe erweist sich in der Durchsetzung seiner Herrschaft als der einzige Gott und sein Name wird als der einzige gepriesen werden.

Der eine Gott in der Jesustradition

Explizit erscheint die Einzigkeit Gottes in der Jesustradition nur an vier Stellen; in der Erzählung der Heilung eines Gelähmten (Mk 2,1–12), in der Frage nach dem höchsten Gebot (Mk 12,28–34), in der Perikope vom reichen jungen Mann (Mk 10,17–27) und in Mt 23,9, wo Jesus sagt: „Und niemanden auf Erden sollt ihr euren Vater nennen; denn einer ist euer Vater, der im Himmel“62. Mk 2,1–12 ist in seiner vorliegenden Form eine Bildung der vormarkinischen Gemeinde, die aber Jesu Anspruch sachlich zutreffend wiedergibt, Sünden vergeben zu können (Mk 2,5b). Er tritt an die Stelle des einen Gottes (vgl. Mk 2,7: „Was redet er so? Er lästert! Wer kann Sünden vergeben außer der eine Gott“) und handelt aus einem einzigartigen Gottesbewusstsein heraus63. Auch die Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe unter Aufnahme von Dtn 6,5 und Lev 19,18 geht auf Jesus zurück (s.u. 3.5.3). Sie ist in der jüdischen Tradition zwar vorbereitet, kommt aber dort explizit nicht vor. Die gesamte Botschaft und das gesamte Handeln Jesu sind von der Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe geprägt. Die grundlegende Bedeutung der Einzigkeit Gottes für die Verkündigung Jesu zeigt sich aber auch dort, wo nicht explizit von dem ‚einen Gott‘ gesprochen wird. Wenn Jesus im Vaterunser bittet: „Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme“ (Lk 11,2), dann ist deutlich, dass die Heiligung des Namens Gottes letztlich auf die Anerkennung seiner Einzigkeit und damit das Kommen der Gottesherrschaft auf die Durchsetzung der Einzigkeit Gottes zielt. Mit der Verheißung und Ansage der kommenden Gottesherrschaft proklamiert Jesus die eschatologische Offenbarung der Einzigkeit Gottes. Die Vorstellung der Gottesherrschaft wird bei Jesus vom Gedanken der Einzigkeit Gottes getragen. Wahrscheinlich ist diese Verbindung der Grund dafür, warum Jesus den Begriff der Gottesherrschaft in analogieloser Weise zum Zentrum seiner Botschaft macht und andere Heilsvorstellungen diesem Begriff subsumiert64.

Die Rede von Gott als „Vater/Abba“

Terminologisch auffällig für Jesus ist die Bezeichnung und Anrede Gottes als „Vater“. Dies ist kein Novum, denn sowohl im griechisch-römischen Kulturraum65 als auch im Judentum66 findet sich diese Anrede für Gott. Bemerkenswert ist allerdings die Häufigkeit, denn das Wort πατήρ („Vater“) für Gott begegnet im Munde Jesu ca. 170mal in den Evangelien. Obwohl ein Großteil dieser Belege nicht als authentische Rede Jesu gewertet werden kann, zeigt die darin sichtbare Wirkungsgeschichte, dass „Vater“ die für Jesus typische Gottesbezeichnung war. Bemerkenswert ist auch die konkrete Form der Vateranrede Jesu mit , die in der urchristlichen Überlieferung als so charakteristisch angesehen wurde, dass selbst in den griechischen Texten mit ἀββά das aramäische Wort beibehalten wurde (vgl. Gal 4,6: „Weil ihr jetzt aber Söhne seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft Abba, Vater!“; Röm 8,15: „Der Geist, den ihr empfangen habt, ist nicht ein Geist der Knechtschaft, so dass ihr euch aufs neue fürchten müsstet; sondern ihr habt den Geist der Sohnschaft empfangen, in welchem wir rufen: Abba, Vater!“; ferner Mk 14,36: „Und er sprach: Abba, Vater, alles ist dir möglich. Lass diesen Kelch an mir vorübergehen! Doch nicht, was ich will, sondern was du willst“). Abba ist keine analogielose Gottesanrede67 und kann auch nicht ein besonderes Sohnesbewusstsein Jesu begründen68. Jesus bewegt sich innerhalb jüdischer Sprachmöglichkeiten, wobei gerade die Einfachheit und nicht die Exklusivität der Anrede ‚Vater‘ die Nähe zu Gott anzeigt, in der Jesus sich befindet und in die er seine Hörer mit aufnehmen will. Nicht ein neues Wesen Gottes oder auch nur ein neuer, bisher verborgener Zug am Wesen Gottes wird offenbart. Wohl aber setzt Jesu Gottesanrede in ihrer Einfachheit und Offenheit ein neues, veränderndes Handeln Gottes am Menschen voraus. Das Unheilskollektiv Israel wird aus seiner Unheilsgeschichte und Schuldvergangenheit herausgerissen und Jesus spricht ihm das eschatologische Heil zu. Weil dieses erwählende und neuschaffende Handeln Gottes im Wirken Jesu schon geschieht, stehen diejenigen, die sich diesem Geschehen anvertrauen, bereits jetzt in einem unmittelbaren Gottesverhältnis jenseits von Tempel, Opfer und zentraler Inhalte der Tora und dürfen wie selbstverständlich diesen handelnden Gott wie Jesus „Abba“ nennen. Jesus verkündet keinen neuen Gott, wohl aber erschließt sich der Gott Israels in dem von Jesus proklamierten eschatologischen Geschehen der Gottesherrschaft in neuer Weise als „Vater“.

Im Vaterunser verbindet sich die Anrede Gottes als „Vater/Abba“ sogleich mit der Bitte um die Heiligung des Namens und das Kommen der Herrschaft des Vaters (Lk 11,2par). Gottes neuschaffendes Handeln soll sich durchsetzen und zum Ziel kommen, so dass alle den Namen des einen Vaters bekennen und somit sein Herr- und Königsein anerkennen. Die Wir-Bitten (Lk 11,3.4) des Vaterunsers fallen aus diesem eschatologischen Bezug nicht heraus, sondern applizieren nur das in den beiden ersten Bitten angesprochene Handeln Gottes auf die Existenz der davon Betroffenen. Die Bitte um die Vergebung der Schuld (Lk 11,4a; vgl. auch Mk 11,25; Mt 6,14) unterstreicht das menschliche Angewiesensein auf das jetzt geschehende, die Schuld tilgende Erwählungshandeln Gottes und versichert sich dessen in der Bereitschaft, selbst Schuld zu vergeben. Die Schlussbitte (Lk 11,4b: „Und führe uns nicht in Versuchung“) bringt zum Ausdruck, dass der Beter das neue Gottesverhältnis nicht in eigener Kraft durchhalten kann, sondern nur, wenn Gott ihn durch alle Versuchung hält und ihn in der Anfechtung bewahrt. Auch die Brot-Bitte (Lk 11,3par) ist zutiefst eschatologisch geprägt, denn der Beter bittet nur um das notwendige Brot für heute, d.h. er erwartet eine andere Zukunft, die über die irdische Vor-Sorge hinausgeht. Es ist die eschatologische Zukunft, die in der vorangehenden Bitte angesprochen wurde. Die Sorge für morgen ist unnötig; nicht nur, weil die eventuell morgen kommende Gottesherrschaft die Vorsorge von heute als voreilig ausweisen könnte, sondern weil das Geschehen der Gottesherrschaft die Gewissheit gibt, dass der Vater das jeweils heute Nötige geben wird, bis er dieses Geschehen zum Ziel gebracht hat. Deshalb mündet die Spruchgruppe vom Bitten (Q 11,9–13) und vom Nicht-Sorgen in Q (Lk 12,22b–31/Mt 6,25–33) in den Hinweis, dass „euer Vater weiß, dass ihr dies (alles) braucht“; Lk 12,30bpar), und dann mit der Mahnung schließt: „Vielmehr sucht seine (= des Vaters!) Königsherrschaft, und dies (alles) wird euch dazugegeben“ (Lk 12,31par). Der Rückgriff auf weisheitliche Motive aus dem Bereich der Schöpfungswirklichkeit zur Veranschaulichung der Sorge des Vaters (vgl. „die Vögel des Himmels“ und „die Lilien (des Feldes)“ in Lk 12,24.27f /Mt 6,26.28–30; ferner Lk 12,6f/Mt 10,29–31), zeigt, dass Jesus das Alltägliche in einem neuen eschatologischen Licht sieht. Das erwählende Handeln Gottes gibt ihm die Gewissheit, dass sein Vater weiß und gibt, was zum Leben notwendig ist (Lk 12,30bpar; vgl. auch Mt 6,8). Die Eschatologie Jesu ist der sachgemäße Ort seiner Rede vom Vater, so dass die Theozentrik eschatologisch strukturiert ist! Die eschatologische Perspektive prägt bei Jesus das Gottesbild, man kann von einer „Koinzidenz von ‚Aufblick‘ und ‚Ausblick‘, von Theo-logie und Eschato-logie“69, von einem gegenseitigen Durchdringen von Aufblicken zum Vater und Ausblicken auf die kommende Basileia bei Jesus sprechen. Jesus verkündet den einen Gott als den eschatologisch handelnden Vater, dessen Herrschaft er als bereits gegenwärtiges Geschehen erfährt.

3.3.2Das neue Gottesbild

Jesus hat ein neues, aber keineswegs unjüdisches Gottesbild gebracht. Es stand allerdings in Spannung zu den herrschenden Gottesbildern im Judentum, denn Jesus ließ (wie der Täufer) zentrale Elemente der Gottesvorstellung seiner Zeit außer Acht und wertete andere Traditionen neu. Auffällig ist zunächst, worauf sich Jesus nicht beruft70: Der für das Judentum seiner Zeit zentrale Bundesgedanke71 wird ebenso wenig aufgegriffen wie die Exodus- und Landtradition, die Geschichte Israels kommt nur ansatzweise in den Blick. Die Erzväter- und Zionstradition erscheint auffälligerweise im Kontext des Verhältnisses Israels zu den Heiden und wird entschieden abgewandelt (s.u. 3.8.3). Obwohl sich Jesus zu Israel gesandt weiß, nimmt er die geläufige Opposition ‚Israel – Heiden‘ nicht auf und kann Heiden zum Vorbild des Glaubens erklären (vgl. Q 7,1–10). Auch die religiöse Fundamentalunterscheidung ‚rein – unrein‘ gilt nicht mehr (vgl. Mk 7,15). Mit der Tempelreinigung (vgl. Mk 11,15–18par) übte Jesus scharfe Kritik am herrschenden Tempelkult, die ihn in einen tödlich endenden Konflikt mit der jüdischen Obrigkeit und den Römern brachte (s.u. 3.10.2). Der Tempel gehört für ihn zu dem, was zerstört werden wird (vgl. Mk 14,58). Auch die seit der Mitte des 2. Jh. v.Chr. im jüdischen Leben dominierende Tora steht nicht im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu, sondern das als nah geglaubte und erfahrene Reich Gottes (s.u. 3.4). Q 16,16 hebt ausdrücklich die Zeit des Gesetzes und der Propheten und die Zeit des Reiches Gottes voneinander ab, so dass Jesu eschatologische Perspektive die von ihm vorgenommene Neubewertung der Tora begründet. Die Tora wird nicht überwunden oder aufgehoben, sondern in eine neue theozentrisch-eschatologische Perspektive gerückt: „Im Horizont der Basileia-Verkündigung, in der Gottes Zukunft als lebenschenkendes, heilvolles Geschehen bereits sichtbar wird (Mt 11,5f/Lk 7,22f), müssen sich die Weisungen der Tora und ihre Auslegung danach beurteilen lassen, inwieweit sie dem von Jesus verkündeten und gelebten Inhalt der Gottesherrschaft entsprechen, deren einziges Kriterium der sich im Liebesgebot zentrierende Wille Gottes ist (Mk 12,28–34par; Mt 5,43–48par; 9,13; 12,7; 23,23; vgl. 7,12).“72 Es dominiert nicht die Vergangenheit, sondern die Erfahrung der Gegenwart und der Ausblick auf die Zukunft Gottes. Sie zeigt einen Gott, der das Verlorene sucht (vgl. Lk 15,1–10.11–32) und sich der Menschen erbarmt (vgl. Mt 18,23–27); einen Gott, dessen Wille es ist, die Kranken und nicht die Gesunden zu retten, den Sündern Vergebung zu gewähren und den Armen und Bedrückten das Heil zu bringen. Das Bild des gütigen und vergebenden Gottes findet sich auch in der jüdischen Tradition73, Jesus stellt es jedoch in neuer Weise in die Mitte seiner Verkündigung und formt es aus seiner eschatologischen Perspektive.

3.4Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes

N.PERRIN, Was lehrte Jesus wirklich? (s.o. 3), 52–119; O.CAMPONOVO, Königtum, Königsherrschaft und Reich Gottes in den frühjüdischen Schriften, OBO 58, Freiburg CH/Göttingen 1984; H.MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, SBS 111, Stuttgart 1983; H.WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft, BThSt 20, Neukirchen 1993; H.MERKEL, Die Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu, in: Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, hg. M.Hengel/A.M. Schwemer, WUNT 55, Tübingen 1991, 119–161; J.P. MEIER, A Marginal Jew II (s.o. 3), 237–506; M.WOLTER, „Was heisset nu Gottes reich?“, ZNW 86 (1995), 5–19; M. DE JONGE, Jesus’ rôle in the final breakthrough of God’s kingdom, in: H.Cancik/H.Lichtenberger/P.Schäfer (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion. FS M.Hengel III: Frühes Christentum, Tübingen 1996, 265–286; G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus (s.o. 3), 221–253; J.BECKER, Jesus von Nazaret (s.o. 3),100–121; N.T. WRIGHT, Jesus (s.o. 3), 198–474; B.J. MALINA, The Social Gospel of Jesus, Minneapolis 2001; G.VANONI/B.HEININGER, Das Reich Gottes, NEB.Th 4, Würzburg 2002; J.D.G. DUNN, Jesus Remembered (s.o. 3), 383–487; R.A. HORSLEY, Jesus and Empire, Minneapolis 2003; L.SCHENKE, Die Botschaft vom kommenden „Reich Gottes“, in: ders. (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s.o. 3), 106–147; J.SCHRÖTER, Jesus (s.o. 3), 189–213; D. C. ALLISON, Constructing Jesus (s.o. 3), 31–220.

Religiöse Rede hat immer eine symbolische Dimension, weil die Wirklichkeit Gottes für Menschen nicht unmittelbar zugänglich ist. Symbole sind über sich selbst hinausweisende, neue Sinnwelten eröffnende Zeichen74, die eine andere Wirklichkeit in unsere Wirklichkeit hineintragen. Sie bilden diese neue Wirklichkeit nicht nur ab, sondern vergegenwärtigen sie so, dass sie wirksam werden kann. Sie repräsentieren sowohl die göttliche als auch die menschliche Welt und partizipieren zugleich an ihnen75. Symbole müssen so ausgewählt werden, dass sie einerseits für die Hörer/Leser rezipierbar sind, andererseits das zu Symbolisierende sachgemäß wiedergeben. Bei Jesus von Nazareth ist das zentrale religiöse Symbol das Reich/die Herrschaft Gottes, er verkündigte das Kommen des einen Gottes in seinem Reich.

3.4.1Religionsgeschichtliche und politische Vorgaben

Symbole sind als sprachliche Zeichen immer eingebunden in die Enzyklopädie eines Kulturkreises, speziell in seine Sprache. Um ein Symbol verstehen zu können, muss die Enzyklopädie des Begriffes abgeschritten werden. Bei ‚Reich/Herrschaft Gottes‘ ist dies die Vorstellung von Gott als König im Alten Testament76, im antiken Judentum77 und im Hellenismus78. Dazu gehören ein weites Sprachfeld (Gott als König und verbale Formulierungen von Herrschen), Assoziationen verwandter Art (z.B. Gott als Herr und Richter), königliche Attribute und Insignien (z.B.Palast, Thron, Hofstaat, Herrlichkeit), königliche Metaphorik (z.B. der König als Hirte) und typische königliche Aufgaben (den Frieden gewähren, die Feinde richten). Ausgangspunkt dieser Vorstellungen ist die in der Antike unmittelbare Erfahrung der uneingeschränkten Herrschaft und Allmacht von Königen, deren Machtfülle sich als Symbol für Gott anbot.

Religiöse Dimensionen

Der im Tempel (vgl. Jes 6,1ff; Ps 47,9; 99,1f: „Der Herr ward König; es zittern die Völker; er thront auf den Cheruben; es wankt die Erde; groß ist der Herr in Zion“) bzw. der auf dem Zion thronende Jahwe (vgl. Ps 46; 48; 84; 87)79 ist König über alle Völker (vgl. Ps 47; 93; 96–99). Nach dem Exil vollzieht sich eine Eschatologisierung der mit der Herrschaft Jahwes verbundenen Traditionen, die deutlich mit Deuterojesaja einsetzt. Der König Israels wird sich seines Volkes in einer neuen Weise annehmen (vgl. Jes 41,21; 43,15; 44,6). Er beherrscht die Völker und lenkt die Könige (vgl. Jes 41,2f; 43,14f; 45,1), regiert die Geschichte und Schöpfung (40,3f; 41,4; 43,3). Damit verbindet sich eine unausweichliche Spannung zwischen gegenwärtiger und erwarteter Gottesherrschaft, von der auch Jesu Verkündigung geprägt ist. Das futurische Element dominiert in der Apokalyptik, wo Gott in einem endzeitlichen Kampf seine Feinde unterwerfen wird. Die Vorstellung eines Endkampfes zwischen zwei Machtblöcken findet sich in vielfältigen Variationen, wobei vor allem Beliar/Belial als Feind Gottes auftritt (vgl. TestDan 5,10b–13: „Und er selbst (Gott) wird gegen Beliar Krieg führen / und siegreiche Rache über seine Feinde geben. … Und er wird ewigen Frieden denen geben, die ihn anrufen. Und die Heiligen werden in Eden ausruhen, / und über das neue Jerusalem werden sich die Gerechten freuen … Und Jerusalem wird nicht länger Verwüstung erdulden, noch Israel in Gefangenschaft bleiben, denn der Herr wird in ihrer Mitte sein, und der Heilige Israels wird über ihnen König sein“; vgl. ferner Joel 3; Zeph 3,15; Sach 14,9; Jes 24,21–23; Dan 2,24–45; 2 Makk 1,7–8; 1QM; Sib I 65–86; III 46–62. 716–723. 767–784). Bemerkenswert ist PsSal 17 (um 50 v.Chr.), wo Gott Israels König für immer ist (PsSal 17,1.3.46), zugleich aber der erwartete Messias als Repräsentant dieses Königtums erscheint (PsSal 17,32.34). Er wird als Herrscher Jerusalem und das Land Israel von den Völkern reinigen (PsSal 17,21.22.28.30), das heilige Volk sammeln (PsSal 17,26) und die Heidenvölker werden zur Fron nach Israel kommen und ihre Tribute abliefern (PsSal 17,30f). Das Reich Gottes für Israel ist hier wie in zahlreichen anderen Texten (vgl. z.B.Dan 2,44; 7,9–25; Ob 15–21) in Opposition zu den Heiden gedacht. Nach der um die Zeitenwende entstandenen Assumptio Mosis wird Gott in der Endzeit seiner Herrschaft über die gesamte Schöpfung antreten „und dann wird der Teufel nicht mehr sein“ (AssMos 10,1) und „der höchste Gott, der allein ewig ist, wird sich erheben, und er wird offen hervortreten, um die Heiden zu strafen, und alle Götzenbilder wird er vernichten“ (AssMos 10,7). In liturgischen Texten wie den Sabbatliedern aus Qumran dominiert eine präsentische Perspektive80. Diese Preisungen Gottes als des ewigen himmlischen Königs konzentrieren ihr beschreibendes Lob auf das himmlische unbegrenzte Königtum Gottes. Der irdische Kult partizipiert am himmlischen, indem man den himmlischen lobend beschreibt und somit Schöpfung und Geschichte weitgehend hinter sich lässt81. Ein weiteres eindrückliches Beispiel ist das Bittgebet in äthHen 84,2–3a: „Gepriesen seiest du, Herr (und) König, groß und mächtig in deiner Größe, Herr der ganzen Schöpfung des Himmels, König der Könige und Gott der ganzen Welt. Deine Gottheit, Königsherrschaft und Majestät währen für immer und alle Zeit und deine Herrschaft durch alle Geschlechter: Und alle Himmel sind dein Thron in Ewigkeit und die ganze Erde der Schemel deiner Füße für immer und alle Zeit. Denn du hast (alles) geschaffen und du regierst über alles, und schlechterdings nichts ist dir zu schwer“. Auch protorabbinische Grundtexte jüdischen Glaubens, wie das Achtzehnbittengebet (11. Segensformel: „Bring wiederum unsere Richter wie vordem und unsere Ratsherrn wie zu Anfang, und sei König über uns eilends, du allein“)82 und das Qaddisch-Gebet („Und er lasse herrschen seine Königsherrschaft in euren Lebzeiten und in euren Tagen und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel, in Eile und in naher Zeit“)83 zeigen, dass die Bitte um das Kommen und die Gegenwart des Reiches Gottes ein Kernstück jüdischer Hoffnung z.Zt. Jesu war.

Politische Dimensionen

Jesu Botschaft vom Reich Gottes vollzog sich innerhalb bestehender politischer Königreiche. Vornehmlich lebte und wirkte Jesus im Klein-Königreich des Herodes Antipas (4 v.Chr.–39 n.Chr.), der über Galiläa und Peräa herrschte84. Herodes Antipas war wie sein Vater Herodes d. Gr. ein nach Rom orientierter hellenistischer Herrscher, der zugleich seine jüdische Identität hervorhob. Wie bei Herodes d. Gr. gewann die kulturelle Gesinnung und der politische Herrschaftsanspruch auch bei Herodes Antipas zuallererst in baulichen Maßnamen Gestalt85, wobei die Urbanisierung mit einer Romanisierung und einer Kommerzialisierung zuungunsten der einfachen Landbevölkerung einherging. Er baute Sepphoris um und gründete um 19 n.Chr. als neue Hauptstadt von Galiläa Tiberias (benannt nach dem Kaiser Tiberius), das ganz nach hellenistischem Vorbild gebaut wurde86. Die Heirat von Herodes Antipas mit Herodias, die zuvor mit einem seiner Halbbrüder verheiratet war, wurde von Johannes d. T. angeprangert (vgl. Lk 3,19–20; Mk 6,14–29). Diese politisch-kulturelle Kritik hatte die Hinrichtung des Täufers zur Folge (s.o. 3.2.1). Offenbar fürchtete Herodes Antipas den Täufer ebenso wie Jesus (vgl. Lk 13,31–32) als Führer messianischer Bewegungen, die zu Beginn des 1.Jh. n.Chr. in Palästina nichts Außergewöhnliches waren87, so dass Herodes Antipas hier möglicherweise eine Gefahr für seine Regierung sah. Galiläa war insgesamt von tiefen strukturellen Spannungen durchzogen88, von Spannungen zwischen Juden und Heiden, Stadt und Land, Reichen und Armen, Herrschern und Beherrschten89. Wenn Jesus in diesem Kontext eine schon jetzt beginnende Wende aller Dinge verkündigte, dann fand er Zuhörer, die eine große Sehnsucht nach dieser neuen Herrschaft Gottes hatten; einer Herrschaft Gottes, die nicht mit imperialen Machtattributen wie Bauten arbeitete, nicht auf Unterdrückung zielte und nicht politisch-kulturell korrumpierte. Noch war die von Jesus verkündete Gottesherrschaft in der Gegenwart verborgen, aber sie erhob bereits jetzt den Anspruch, am Ende über alles zu triumphieren. Der von Jesus mit seiner Botschaft vom Reich Gottes vertretene Herrschaftsanspruch konnte auf Dauer nicht unpolitisch bleiben, ohne jedoch politisch konzipiert zu sein90.

Die Verfremdung

Von großer theologischer und hermeneutischer Bedeutung ist die Beobachtung, dass Jesus mit ‚Reich/Herrschaft Gottes‘ ein Leitwort für seine Verkündigung wählt91, das einerseits in ein reichhaltiges Motivfeld eingebettet ist, andererseits aber in keinem anderen theologischen Entwurf eine vergleichbare Schlüsselstellung innehat. Jesus nimmt so die verbreitete Enzyklopädie der Herrschaft und des Königtums Gottes auf, zugleich fügt er aber durch die singuläre Konzentration92 auf das Abstraktum /βασιλεία neue Elemente in die Vorstellung von Gott als König und Herrscher ein93. Zudem verfremdet Jesus die zeitgenössische Enzyklopädie, indem er nicht von Gott als König spricht, sondern sich auf ein ganz bestimmtes Vorstellungsfeld mit einem einzigen Leitwort konzentriert. Diese Verfremdung ist die produktive Voraussetzung für eine partielle Neudefinition des Wesens Gottes, die Jesus in seiner Verkündigung und seinem Handeln vornimmt.

3.4.2Die zeitlichen Perspektiven des Reiches Gottes

Jesus rechnete wie alle Juden um ihn mit dem realen Handeln Gottes in der Geschichte. Wie Johannes der Täufer lebte er in einer intensiven Naherwartung und verstand das Reich Gottes als eine geschichtlich-kosmische Größe, deren Sachgehalt und Zeit-/Raumstruktur er in vielfältiger Weise beschreibt. Für das zeitliche Verständnis des Reiches Gottes gibt das Verhältnis zum Täufer erste Hinweise.

Johannes der Täufer und das Reich Gottes

Jesus brachte den Täufer und das Reich Gottes ausdrücklich miteinander in Verbindung94. Aus Q 16,16 („Das Gesetz und die Propheten sind bis Johannes. Von da an leidet die Königsherrschaft Gottes Gewalt, und Gewalttäter rauben sie“)95 lässt sich nicht eindeutig herauslesen, ob Johannes an das Ende des Gesetzes und der Propheten oder an den Anfang des Reiches Gottes gehört oder aber das Bindeglied zwischen beiden darstellt. Die Zeitbestimmung μέχρι („bis“) korrespondiert mit ἀπὸ τότε („von da an/ab“); beide Zeitangaben markieren eine Abfolge, denn sie sind inhaltlich voneinander abgehoben. All dies spricht für eine exklusive Deutung, wonach der Täufer nicht in das Reich Gottes hineingehört96. Wäre dies der Fall, dann hätte der Täufer die Reich-Gottes-Predigt Jesu in irgendeiner Form vorwegnehmen oder vertreten müssen. „Aber hier liegt gerade der tiefste Unterschied zwischen beiden.“97 Die Zeit nach Johannes weist eine neue Qualität auf, wobei der Täufer aus der Sicht Jesu auf der Nahtstelle zwischen beiden Epochen steht. In dieselbe Richtung weist Q 7,28, wo Jesus über den Täufer sagt: „Ich sage euch: Unter den von Frauen Geborenen ist keiner größer als Johannes aufgetreten. Doch ist der Kleinste im Königreich Gottes größer als er“. Der Täufer gehört hier nicht zum Reich Gottes, so dass er als das Ende der einen Epoche den Übergang zum Reich Gottes als einer völlig neuen Epoche markiert. Es ist umstritten, ob Q 7,28 auf Jesus zurückgeht oder sich dem Interesse der nachösterlichen Gemeinde verdankt, den Täufer und Jesus deutlich voneinander abzugrenzen. Für eine zumindest sachliche Zurückführung auf Jesus können die Kontinuität zu Q 16,16 und das sich hier wiederum aussprechende gesteigerte eschatologische Bewusstsein angeführt werden. Zudem finden sich in diesem Vers drei Aussagen über das Reich Gottes, die sich in das Gesamtbild einfügen: 1) Der Vergleich zwischen dem Täufer und dem ‚Kleinsten‘98 im Reich Gottes zeigt die Andersartigkeit und Neuheit des Reiches Gottes, das nicht mit Irdischem („von Frauen Geborenen“) zu vergleichen ist; 2) das Reich Gottes hat auch eine räumliche Dimension99, und 3) es besitzt bereits eine präsentische Dimension (ἐστίν), denn nur dann ist der Vergleich sinnvoll. Auch Q 7,18f.22f und Mk 2,18f zeigen, dass Jesus die gegenwärtige eschatologische Heilszeit des Reiches Gottes dem Wirken des Täufers und seiner Jünger gegenüberstellte. Dennoch wäre es verfehlt, den Täufer aus der Sicht Jesu zum Vorläufer oder Ankündiger zu degradieren. Jesus schätzte den Täufer über alle Maßen und wies ihm einen einzigartigen Platz zu (vgl. Q 7,26). Das Auftreten des Täufers ist ein Wendepunkt in der Geschichte Gottes mit Israel: Johannes steht auf der Schwelle zum Reich Gottes.

Das zukünftige Reich Gottes

Worte über das zukünftige Reich Gottes/die kommende Gottesherrschaft finden sich in fast allen Überlieferungssträngen, sie führen in das Zentrum der Verkündigung Jesu:

1) Die zweite Vaterunser-Bitte „Dein Reich komme“ (Q 11,2: ἐλϑέτω ἡ βασιλεία σου) zielt auf das Offenbarwerden von Gottes Heiligkeit, Herrlichkeit und Herrschaft100. Sie hat einerseits eine nahe Parallele in der zweiten Bitte des Qaddisch-Gebetes („Und er lasse herrschen seine Königsherrschaft in euren Lebzeiten und in euren Tagen und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel, in Eile und in naher Zeit“), andererseits verweisen die Kürze/Schlichtheit und die Rede vom Kommen des Gottesreiches auf jesuanisches Profil101. Charakteristisch ist die Verbindung zwischen Theozentrik und Eschatologie, bemerkenswert ferner, wie unbestimmt und damit zugleich offen für Erweiterungen und Verfremdungen Jesus formuliert.

2) Die Erwartung der Völkerwallfahrt nach Jerusalem/auf den Zion (vgl. Jes 2,2ff; Mich 4,1ff; Jes 43,1ff; Bar 4,36ff u.ö.) wird in Q 13,29.28 aufgegriffen: „Und viele werden von Osten und Westen kommen und sich zum Mahl niederlegen mit Abraham und Isaak und Jakob im Königreich Gottes, ihr aber werdet in die äußerste Finsternis hinausgeworfen werden; dort wird Heulen und Zähneklappern sein.“102 Das Erwählungsbewusstsein Israels wird mit diesem Drohwort einer scharfen Kritik unterzogen; seinem Ausschluss vom eschatologischen Gastmahl mit den Patriarchen korrrespondiert die Aufnahme der Heiden aus Osten und Westen. Damit verbindet sich eine universalistische Tendenz in der Basileia-Verkündigung Jesu.

3) Eine unerfüllte Prophetie ist das Abendmahlswort Mk 14,25: „Amen sage ich euch: Ich werde vom Gewächs des Weinstocks nicht mehr trinken bis zu jenem Tage, an dem ich es neu trinken werde im Reich Gottes.“ Wahrscheinlich hoffte Jesus, das Reich Gottes breche so bald herein, dass ihm der Weg durch den Tod erspart bleibt. Eine nachösterliche Entstehung dieses Wortes ist unwahrscheinlich, denn nicht Jesus, sondern das zukünftige Reich Gottes steht im Zentrum. Auch das Feigenbaumgleichnis in Lk 13,6–9 lässt die gespannte Erwartung Jesu deutlich erkennen. Dem unfruchtbaren Feigenbaum wird noch ein Jahr Gnadenfrist geschenkt vor dem Umhauen, d.h. dem Gericht.

4) Anspruch auf Authentizität haben auch jene Worte, in denen das zukünftige Reich Gottes als eine Gegenwelt angekündigt wird. Angesichts der Randstellung von Kindern in der antiken Gesellschaft musste Mk 10,15 provozierend wirken: „Amen, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen.“ Jesu Wort über die Reichen in Mk 10,23 („Da blickte Jesus um sich und spricht zu seinen Jüngern: Wie schwer kommen die Begüterten ins Reich Gottes“; vgl. Mk 10,25) zielt ebenso auf eine neue Wirklichkeit wie die provokante Aussage in Mt 21,31c: „Die Zöllner und Dirnen kommen vor euch ins Reich Gottes.“ Es gilt: „Die Ersten werden die Letzten sein“ (Mk 10,31), und: „Wer sich erniedrigt, wird erhöht werden“ (Lk 14,11). Die ‚Letzten‘ sind die Armen, denen die Gottesherrschaft gehört, die Weinenden, die Trost finden werden, und die Hungrigen, die satt werden sollen (Lk 6,20f). Auch der Makarismus im Kontext der Parabel vom Gastmahl (Lk 14,15: „Als aber einer von denen, die zu Tische lagen, das hörte, sagte der zu ihm: Selig, wer im Reich Gottes Brot essen wird“) und die rigorosen Forderungen in Mk 9,42–48 (V. 47: „Und wenn dein Auge dich zu Fall bringt, reiß es aus. Es ist besser für dich, einäugig in das Reich Gottes einzugehen, als mit beiden Augen in die Hölle geworfen zu werden“) lassen das zukünftige Reich Gottes als eine neue Welt erscheinen103.

Das gegenwärtige Reich Gottes

Ein singulärer Zug der Verkündigung Jesu besteht darin, dass für ihn das kommende und nahe Reich Gottes bereits gegenwärtig ist104. Er spricht allerdings nicht von der allgemeinen Präsenz Gottes (im Tempel), sondern von der vorweggenommen Gegenwart des Zukünftigen. Die konkrete Bestimmung dieser Gegenwart zeigt wieder den für Jesus charakteristischen Verfremdungseffekt:

1) In den ursprünglichen Seligpreisungen spricht Jesus denen gegenwärtig das Reich Gottes zu, die sich selbst als Ausgeschlossene begreifen müssen: „Selig ihr Armen, denn euer ist das Königreich Gottes. Selig ihr Hungernden, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig ihr Trauernden, denn ihr werdet getröstet werden“ (Q 6,20f)105. Dem leibhaftig Armen, Rechtlosen, Unterdrückten ist die eigenmächtige Gestaltung seines Lebens verwehrt, er kann nur auf Barmherzigkeit und Hilfe von außen hoffen. In dieser Situation des unbedingten Angewiesenseins gewährt Jesus Anteil am Reich Gottes. Damit offenbart sich ein Stück des Wesens des Reiches Gottes: Es ist Gottes Reichtum, seine schenkende Güte, seine Annahme des Menschen. Wo Gottes Herrschaft Raum gewinnt, dort ist allein Gott der Geber und der Mensch der Empfangende. Angesichts des Reiches Gottes kann sich der Mensch nur als Angenommener und Beschenkter verstehen. Nicht das Haben, der Besitz, befähigt den Menschen zur Offenheit gegenüber dem Reich Gottes, sondern die Erkenntnis des Angewiesenseins auf Gottes Hilfe. Wie die Armen befinden sich die Trauernden und Hungernden in einer Distanz zum Leben. Den Trauernden wurde durch den Tod eines geliebten Menschen auch ein Stück des eigenen Lebens genommen. Die Klage ist der sinnfällige Protest gegen diesen Lebensentzug. Das Leben der Hungernden ist in unmittelbarer Weise durch den Hunger bedroht. Leben artikuliert sich für sie in dem elementaren Verlangen nach Lebensmitteln. Jesus preist beide Gruppen selig und lässt sie teilhaben am Leben in der Gegenwart der Gottesherrschaft.

2) Die Gegenwart des Reiches Gottes wird offenbar in der Entmachtung des Teufels und dem Zurückdrängen des Bösen. Die Dämonenaustreibungen und Heilungen, die Bitte im Vaterunser um die Erlösung vom Bösen (Mt 6,13b), die Vision Jesu in Lk 10,18, der Vorwurf, Jesus stehe mit den bösen Geistern in Verbindung (vgl. Q 11,14–15.17–19) und die in Mk 3,27/Lk 11,21f vorausgesetzte Entmachtung des Satans verdeutlichen den Kampf gegen das Böse bzw. den Bösen als zentralen Inhalt der Lehre und des Handelns Jesu (s.u. 3.5.2).

3) Angesichts des hereinbrechenden und in der Wundertätigkeit Jesu offenbar werdenden Gottesreiches werden Menschen von den sie unterjochenden Mächten des Satans befreit und wieder ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung zugeführt; die Heilungen Jesu zeugen vom gegenwärtigen Anbruch des Reiches Gottes. Programmatisch formuliert Q 11,20: „Wenn ich aber mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist die Königsherrschaft Gottes schon zu euch gelangt“106. Auch der Lobpreis der Augenzeugen in Q 7,22f und Q 10,23f weist in dieselbe Richtung (s.u. 3.5.2); Jesus sah die Gegenwart als die Zeit der Heilswende an.

4) Die Wachstumsgleichnisse zeugen vom verborgenen Beginn der Gottesherrschaft. Sowohl beim Gleichnis von der ‚selbst wachsenden Saat‘ (Mk 4,26–29) als auch im Doppelgleichnis vom ‚Senfkorn‘ und ‚Sauerteig‘ (Q 13,18f.20f) geht es um die Pointe, dass aus kleinen Anfängen etwas Großes entsteht. Das Entscheidende, die Aussaat, ist schon geschehen; die Senfstaude wächst schon und der Teig wird schon durchsäuert.

5) Auch im Stürmerspruch Q 16,16 ist die Gottesherrschaft unabhängig von der Gesamtinterpretation des Verses in jedem Fall eine gegenwärtige Größe. Sie ist seit den Tagen Johannes d. T. präsent und kann in der Gegenwart „erobert“ werden.

6) Die Fastenfrage in Mk 2,18–22 zielt ebenfalls auf die erfüllte Gegenwart. Weil jetzt der Bräutigam da ist, können die Jünger – im Unterschied zu den Anhängern des Täufers – nicht fasten.

7) Auf die Frage, wann das Gottesreich komme, antwortet Jesus nach Lk 17,20f: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten kann, man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch (ἐντὸς ὑμῶν).“ Die Übersetzung, die Bedeutung und die Zurückführung von ἐντὸς ὑμῶν auf Jesus sind umstritten107. Es kann in einem spirituellen Sinne verstanden werden, etwa „das Reich Gottes ist innerlich in euch“ (vgl. ThEv 3: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch und außerhalb von euch“). Möglich ist auch eine räumliche Deutung: „in eurer Mitte“ (vgl. ThEv 113: „Vielmehr ist das Königreich des Vaters ausgebreitet über die Erde, und die Menschen sehen es nicht“). Neben der spirituellen und lokalen gibt es noch eine dynamische Deutung im Sinn von: die Gottesherrschaft ‚ist in eurer Verfügung‘ oder ‚in eurem Erfahrungsbereich‘, d.h. „die Gottesherrschaft ist in euren Erfahrungsbereich eingetreten“108. Diese Deutung verbindet sich mit den anderen Logien (bes. Q 11,20), denn hier spricht sich die Gewissheit der Gegenwart des Reiches in besonderer Weise aus!

Das gegenwärtig zukünftige Gottesreich

Wie verhalten sich die Aussagen über das zukünftige und gegenwärtige Gottesreich zueinander? Einen Hinweis liefert Mk 1,15, wo der Evangelist am Anfang seines Evangeliums Jesu Botschaft so zusammenfasst: „Erfüllt ist die Zeit, und nahe herbeigekommen ist die Gottesherrschaft. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15)109. Weil die Gottesherrschaft kommt, ist die Zeit erfüllt, d.h. zwischen den präsentisch-eschatologischen Aussagen und den futurisch-eschatologischen Aussagen darf keine Alternative aufgebaut werden. Alle Texte zeigen, dass Jesus ‚Reich/Herrschaft Gottes‘ nicht in erster Linie im Sinne eines Territoriums, sondern dynamischfunktional versteht: Gottes Zukunft nähert sich sichtbar der Gegenwart, Gott herrscht und Mächte wie Menschen stehen unter seiner Herrschaft. Die Gegenwart wird als Gegenwart Jesu als Endzeit qualifiziert, weil sich nun das Endheil unaufhaltsam und unwiderstehlich durchsetzt, bis die uneingeschränkte, keinen Widerspruch des Bösen mehr duldende Alleinherrschaft Gottes die alles bestimmende Größe in Schöpfung und Geschichte ist. Futurische Worte kündigen das Hereinbrechen der neuen Welt an und Anbruchsworte versichern zugleich: Sie beginnt verborgen schon jetzt. Im Gebet zu Gott und letztlich in Gott selbst werden Gegenwart und Zukunft verbunden: die Fürsorge des Vaters in der Gegenwart mit dem Kommen seiner Königsherrschaft in der Zukunft. Die Alternative von Gegenwart und Zukunft der Gottesherrschaft ist bei Jesus überwunden, weil sich die Gottesherrschaft von der Zukunft bis in die Gegenwart hinein erstreckt. Die entscheidende Zeit ist die von der Zukunft erfüllte Gegenwart! In der Gegenwart eröffnen sich neue Zugänge zu Gott, neue Wahrnehmungen der Wirklichkeit Gottes in der Welt und ein neues Handeln des Menschen. Gottes neue Zeit ragt nach Jesu Verständnis in die alte Zeit der Menschen hinein und gestaltet sie in der Gegenwart um. Überwunden ist damit auch die in vielen jüdischen Apokalypsen vorherrschende Nivellierung der Gegenwart durch eine Glorifizierung der Zukunft. Für Jesu Zeitverständnis verläuft die entscheidende Trennungslinie zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, wobei die Gegenwart und die Zukunft eine kontinuierliche Einheit bilden, weil die Zukunft als ankommende Gottesherrschaft die Gegenwart bereits eingeholt hat110. Die Gottesherrschaft hat keine Vergangenheit und sie hat ihre eigene Zeit: die gegenwärtige Zukunft.

3.4.3Das Reich Gottes in Gleichnissen

J.JEREMIAS, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 101984; E.LINNEMANN, Gleichnisse Jesu, Göttingen 71978; E.JÜNGEL, Paulus und Jesus, HUTh 2, Tübingen 61986; R.W. FUNK, Parables and Presence, Philadelphia 1982; W.HARNISCH, Gleichnisse Jesu. Positionen der Auslegung, Darmstadt 1982; DERS., Die Gleichniserzählungen Jesu, Göttingen 42001; H.WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, FRLANT 120, Göttingen 41990; E.RAU, Reden in Vollmacht, FRLANT 149, Göttingen 1990; CHR.KÄHLER, Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie, WUNT 78, Tübingen 1995; K.ERLEMANN, Gleichnisauslegung, Tübingen 1999; R. ZIMMERMANN (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007.

Die Bedeutung der Gleichnisse für das Verständnis der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu ergibt sich zunächst aus dem Überlieferungsbefund. Alle Quellen (Q, Mk, Mt/Lk-Sondergut, ThEv) bezeugen den elementaren Zusammenhang, dass bei Jesus das Reich Gottes in der Sprachform des Gleichnisses eine besondere Auslegung erfährt111.

Gleichnisse als Erschließungstexte

Gleichnisse sind bei Jesus eine bevorzugte Sprachform, weil sie in besonderer Weise das Wesen des Reiches Gottes zu erschließen vermögen. Es gelingt Jesus, die Gleichnisse von ihrem inneren Erzählgeflecht her so auszurichten, dass sie im Horizont der nahenden Gottesherrschaft selbst die Nähe zu ihr herstellen. Er richtet mit ihnen in der Wirklichkeit der menschlichen Lebenswelt die Wirklichkeit der Gottesherrschaft auf. Dies verdeutlichen die Kontrastgleichnisse, die einzigen Gleichnisse112, bei denen die Sachhälfte „Gottesreich“ in den verschiedenen Evangelien übereinstimmend überliefert wird (vgl. Mk 4,3–8.26–29.30–32; Q 13, 18f.20f)113. Beim Gleichnis vom Sämann (Mk 4,3–8) steht die Wirkung der Botschaft Jesu im Mittelpunkt; sie wird nicht von allen gehört und geteilt, wo sie aber aufgenommen wird, verfehlt sie ihre Wirkung nicht114. Das Gleichnis von der selbst wachsenden Saat (Mk 4,26–29) verweist auf das sichere und vom Handeln des Menschen unabhängige Kommen des Reiches Gottes. So wie die Saat von selbst aufgeht, Frucht bringt und die Ernte kommt, so dass der Mensch nichts dazu tun kann und muss, ihm unerwartete Zeit geschenkt wird, so kommt auch das Reich Gottes von selbst (Mk 4,28: αὐτομάτη)115. Diese in der Gegenwart von Gott geschenkte Zeit gilt es zu nutzen! Im Gleichnis vom Senfkorn beschreibt Jesus Gegenwart und Zukunft des Reiches Gottes. Dem unscheinbaren Anfang, seiner noch verhüllten Wirklichkeit in Gleichnissen und Wundern wird eine großartige Zukunft der Basileia in der Herrlichkeit Gottes entsprechen. Der Sauerteig veranschaulicht das unaufhaltsame Voranschreiten des Reiches Gottes aus kleinsten Anfängen heraus.

In den Kontrastgleichnissen ist der Schluss der herausgehobene Punkt, an dem erreicht ist, was eigentlich beabsichtigt war: der große Baum, in dem die Vögel nisten; die Durchsäuerung des Teigs, die Scheidung von Unkraut und Weizen und die überreiche Ernte. Vom Schluss wird der Anfang in bewusstem Kontrast abgehoben, der aber nun seinerseits in einem besonderen Licht erscheint: Das eigentlich Überraschende für die Hörer ist der Anfang und nicht das Ende. Eine so ungeheure Sache wie das Gottesreich wird mit einer Winzigkeit wie dem Senfkornsamen116, dem Durcheinander im Weizenfeld und ein wenig Sauerteig verglichen. Hier liegt eine bewusste Verfremdung vor, denn einen solchen Vergleich für das Gottesreich hätte niemand erwartet. Speziell das Bild von Sauerteig ist besonders befremdlich, denn es ist in der Tradition nicht vorgegeben117. Diese Verfremdung ist Verweigerung und Erschließung zugleich. Jesus spricht nicht „von“ oder „über“ etwas, sondern wählt ein Bild. Das Bild gibt keine Auskunft darüber, wie das Gottesreich jetzt ist und wie lange es bis zu seinem endgültigen Erscheinen dauert. Das Bild verweist vielmehr auf eine Überraschung, auf etwas völlig Unerwartetes, und gerade dadurch erschließt es wiederum das Neue des Gottesreiches. Die Kontrastgleichnisse verweigern ein begriffliches Verstehen von Jesu Wirken. Sie lassen es nicht zu, Jesus in einen apokalyptischen Zeitplan einzuzeichnen, und sie machen eine direkte, ungebrochene, sichtbare, berechenbare und einleuchtende Kontinuität zwischen seinem Wirken und dem Eschaton unmöglich. Dennoch erschließen die Gleichnisse Jesu Sendung, denn sie lassen teilhaben an der grenzenlosen Hoffnung und an der unendlichen Gewissheit, die Jesus auszeichnete. Sie lassen die hoffnungslose Gegenwart unter der Perspektive einer total anderen Zukunft verstehen und vermitteln so Hoffnung auf das Reich Gottes, ohne ihm sein Geheimnis zu nehmen.

Der unendliche Wert der Gottesherrschaft kommt in den Parabeln vom Schatz im Acker (Mt 13,44) und der Perle (Mt 13,45f) zur Sprache, wo das Verhalten des Finders im Mittelpunkt steht. Er hätte jeweils sehr verschiedene Möglichkeiten gehabt, wählt aber die sachgemäße aus: Er setzt zielstrebig alles dafür ein, um das Himmelreich zu erwerben118. „Wer die Gottesherrschaft findet, findet sich selbst als einen, der mit dem ganzen Dasein auf jenen Fund reagiert.“119 Mit seinen Gleichnissen und Parabeln ermöglicht Jesus das Finden der Gottesherrschaft. Der Einsatz für sie wird aber nicht gefordert, sondern ergibt sich aus ihrer Anziehungskraft, ihrem Wert und ihrer Verheißung. Wer sich dennoch der neuen Wirklichkeit des Reiches Gottes verweigert, wird von Jesus im Gleichnis vom Fischnetz gewarnt (Mt 13,47–50): Im Gericht findet eine Scheidung zwischen Bösen und Gerechten statt, d.h. die Hörer des Gleichnisses haben es jetzt in der Hand, zu welcher Gruppe sie gehören werden.

In den Gleichnissen bringt Jesus Gott nicht nur zur Sprache, sondern er bringt Gott den Menschen so nahe, dass sie sich von seiner Güte ergreifen und verwandeln lassen. Die Wahrheit des Geforderten und Erzählten verbürgt dabei der Erzähler selbst. Von dem Neuen und Überraschenden des Reiches Gottes reden auch viele andere Gleichnisse und Parabeln Jesu, in denen zumeist der Begriff ‚Reich Gottes‘ explizit fehlt, die aber dennoch Unerhörtes über das Reich Gottes aussagen.

3.4.4Das Reich Gottes und die Verlorenen

Anders als beim Täufer kommt bei Jesus von Nazareth das Heils handeln Gottes in umfassender und neuer Weise zur Sprache. Programmatisch kommt Jesu Selbstverständnis in Mk 2,17c zum Ausdruck: „Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“120 Das Begriffspaar δίϰαιοι – ἁμαρτωλοί ist auch sonst der Verkündigung Jesu nicht fremd (vgl. Lk 15,7; 18,9–13) und dürfte das Ziel seiner Sendung präzis beschreiben: Seine Botschaft der nahenden Gottesherrschaft galt ganz Israel und somit auch den keineswegs nur ironisch so genannten Gerechten. Vor allem den Sündern musste Gottes Barmherzigkeit und Liebe nahe gebracht werden, denn der Mensch kann durch Gottes Güte und Vergebung in eine neue Beziehung zu Gott treten; Gott nimmt den zur Umkehr bereiten Sünder an. Vom Suchen Gottes nach den Verlorenen und ihrer Rückkehr zu Gott erzählt Jesus in eindrucksvollen Parabeln.

In der Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) interpretiert Jesus gleichermaßen den Menschen und Gott121. Im Zentrum steht der Vater, der in gerechter Liebe für seine Söhne sorgt. Beiden gewährt er durch das Erbe das zum Leben Notwendige. Das verschwenderische Leben des jüngeren Sohnes beantwortet er nicht mit dem Entzug seiner Liebe, sondern mit der Tat der voraussetzungslosen Annahme, bevor der Sohn das Eingeständnis seiner Schuld machen kann. Auch dem älteren Sohn gegenüber bekundet er trotz der Vorwürfe seine andauernde Liebe und Gemeinschaft (V. 31). In dem antithetisch entfalteten Verhalten der Brüder offenbaren sich zwei mögliche menschliche Reaktionen auf die Erfahrung und Zusage des Angenommenseins. Erst durch die Krise hindurch gelangt der jüngere Sohn zu der Einsicht, dass ein Leben fern vom Vater nicht möglich ist. Mit der Erkenntnis des eigenen Fehlverhaltens (V. 18.21: ἥμαρτον = „ich habe gesündigt“) verbindet sich die Erwartung der gerechten Bestrafung. Neu und überraschend ist dann für den jüngeren Sohn die Größe und Weite des liebenden Angenommenseins durch den Vater. Der ältere Bruder hingegen versteht sich nicht als grundlos Angenommener, sondern sieht sein Verhältnis zum Vater in einer Arbeit-Lohn-Relation. Nur wer arbeitet und Gesetze erfüllt, darf feiern. Dadurch verfängt sich der ältere Sohn in einem Geflecht von Leistung und Gegenleistung, das den Blick auf das Angewiesensein des Menschen versperrt. Radikale Vergebung als Ausdruck andauernder Liebe kann es in seinen Augen für ihn nicht geben. An der Gestalt des älteren Bruders wird deutlich: Selbst wenn sich der Mensch der Liebe Gottes verweigert, so lebt er dennoch von ihr.

Im Gleichnis vom verlorenen Schaf dominiert der Gedanke der Freude über das Finden des Verlorenen122. Sowohl die Gegenüberstellung von 1 und 99 als auch das ungewöhnliche Verhalten des Hirten, die 99 Schafe allein zurückzulassen, dienen dazu, den Schmerz über den Verlust und die Freude über das Wiederfinden zum Ausdruck zu bringen. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf ist auf Zustimmung aus; so wie der Hirte würde sich jeder verhalten123. Im Gleichnis von der verlorenen Drachme überrascht das intensive Suchen der Frau. Unwillkürlich vollzieht der Hörer die sich im Gleichnis ereignende Dynamik mit und kann in die Freude über das Wiederfinden einstimmen.

Auch in der Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20, 1–16)124 bringt Jesus die Existenz des Menschen coram Deo zur Sprache. Bewegung kommt in die Erzählung durch die ungewöhnliche Anordnung des Gutsherrn, mit der Auszahlung bei den zuletzt Eingestellten zu beginnen (V. 8b). Die Ersten bewältigen die durch das atypische Verhalten des Gutsherren hervorgehobene Krise zunächst durch die Hoffnung auf einen entsprechenden Zuschlag. Als sich diese Erwartung nicht erfüllt, werfen sie dem Gutsherrn eine ungerechte Behandlung vor (V. 11f). Der Gutsherr reagiert auf ihre – durchaus verständliche (V. 12!) – moralische Empörung mit dem Hinweis, dass er den Arbeitsvertrag eingehalten habe und in seinem Verhalten gegenüber den Letzten frei sei. In der Antithetik von Gutsherrn und Ersten offenbaren sich zwei Seinsweisen: die Ordnung des Lohnes und die Ordnung der Güte. Das Denken der Ersten ist bestimmt von dem gerechten Verhältnis von Arbeit und Lohn. Wer mehr als andere arbeitet, darf auch mehr Lohn beanspruchen. Nach diesem Grundsatz fechten die Ersten die Lohnauszahlung an. Der Gutsherr freilich kann auf die eingehaltene Abmachung verweisen, so dass nun plötzlich die Kläger zu Beklagten werden. Ihr Denken in der Kausalität von Arbeit und Lohn gibt ihnen nicht das Recht, die Letzten und den Gutsherrn zu kritisieren. Der Gutsherr ist frei in seiner unerwarteten, alle Dimensionen sprengenden Güte, die niemandem Unrecht tut, zugleich aber viele unerwartet beschenkt. Diese Güte unterliegt keiner zeitlichen Beschränkung, wie das monoton wiederholte Arbeitsangebot über den gesamten Tag hinweg zeigt. Jede Zeit erscheint als die rechte Zeit, das Angebot zu ergreifen. Dies können die Ersten nicht begreifen, denn sie verstehen ihre Einstellung nicht als gütige Annahme, sondern als eine selbstverständliche und leistungsbezogene Abmachung. Der Gutsherr dagegen gewährt allen und zu jeder Zeit eine Existenzgrundlage. Seine Freiheit ist nicht begrenzt, seine Güte nicht berechnend. Damit bringt Jesus durch die Parabel Gott als den zur Sprache, der den Menschen annimmt und ihm das Notwendige zum Leben gibt. Der Mensch wiederum lernt sich als ein Angenommener zu verstehen, dessen Existenz sich nicht aus der eigenen Leistung, sondern aus der Güte Gottes definiert.

Gottes voraussetzungslose Vergebung illustriert Jesus in der Parabel vom Schalksknecht (Mt 18,23–30.31.32–34.35) in geradezu anstößiger Weise125. Ausgangspunkt der Erzählung ist ein Schuldnerverhältnis, das deutlich hyperbolische Züge aufweist. Die geschuldete Geldsumme (100 Millionen Denare)126 ist unvorstellbar hoch, wodurch die Stellung und das Verhalten des Herrn und des Knechtes in einem besonderen Licht erscheinen. Eigentümliches wird vom Herrn berichtet, der über das Angebot seines Knechtes weit hinausgeht, Erbarmen hat und ihm alle Schulden erlässt. Als unvorstellbar muss auf diesem Hintergrund das in V. 28–30 geschilderte Verhalten des Knechtes erscheinen. Obwohl ihm selbst gerade grenzenlose Barmherzigkeit widerfuhr, handelt er wegen eines lächerlich kleinen Betrages an einem Mitknecht unbarmherzig. Der Mensch erscheint in der Parabel vor Gott als ein Schuldner, dessen Schuld so unvorstellbar groß ist, dass er sie sogar mit dem Verkauf seiner eigenen Existenz nicht begleichen kann. In seiner Not wendet sich der Mensch zu Gott hin und bittet ihn um Geduld. Gott gesteht dem Menschen nicht nur einen Aufschub zu, sondern vergibt ihm ohne jede Vorbedingung seine unermessliche Schuld. In diesem unerwarteten, ja unbegreiflichen Akt der Annahme des Menschen erweist Gott seine Liebe und Barmherzigkeit. Er gewährt dem Menschen nicht einfach nur Zeit, um sich aus seiner prekären Situation zu befreien, denn dies wäre ein völlig aussichtsloser Versuch. Vielmehr schenkt Gott durch die Vergebung dem Menschen das Leben neu. Gott kommt dem Menschen zuvor, indem er ihn unverdient begnadigt.

Jesu Gleichnisse/Parabeln weisen über sich hinaus, sie wollen den Hörer zu der Einsicht drängen, dass es in den Gleichnissen um nichts anderes als um sein eigenes Leben geht. Dem Hörer werden Identifikationsmöglichkeiten geboten, er wird zu Grundentscheidungen geführt, um sein Leben zu ergreifen und zu verändern. Die Gleichnisreden wollen die unmittelbare heilsame Nähe der Gottesherrschaft herstellen, damit aus Verlorenen Gerettete werden.

Wort und Tat

Jesu Botschaft von der voraussetzungslosen Annahme des Menschen durch Gott wird durch seine Praxis der Hinwendung zu Sündern und Zöllnern verdeutlicht. Dieses Verhalten brachte ihm offensichtlich bald den Ruf ein, ein Freund der Zöllner und Sünder, ein Fresser und Säufer zu sein (vgl. Q 7,33f). Für Jesus sind Sünder und Zöllner nicht für immer Verlorene, sondern in Jesu Verkündigung und Verhalten findet ein Wiederfinden statt, das Anlass zur Freude ist. Die Sünden der Vergangenheit haben ihre trennende und belastende Funktion verloren, ohne dass vom Menschen eine Vorleistung erbracht wird. Vielmehr lebt der Sünder von der Vergebung Gottes, seiner grundlosen Annahme127. Deshalb bedeutet die Ankunft des Gottesreiches die Gegenwart der Liebe Gottes. Der verborgene Anfang des Gottesreiches geschieht in Gestalt überwältigender, schrankenloser Liebe Gottes zu den Menschen, die sie nötig haben, und will in Gestalt ebensolcher Liebe unter den Menschen wirksam werden. Dies sind nicht nur die Zöllner und Sünder, sondern auch die Armen, die Frauen, die Kranken, die Samaritaner und die Kinder.

Wenn Jesus Gottes radikalen Heilsentschluss für den Menschen nicht nur verkündigte, sondern auch praktizierte, stellt sich die Frage, ob er auch Menschen die Vergebung Gottes direkt zusprach. Sowohl die Begegnung mit der Sünderin (Lk 7,36–50) als auch die Heilung des Gelähmten (Mk 2,1–12) weisen auf eine direkte, personale Sündenvergebung Jesu hin. Beide Texte gehen zwar in ihrer jetzigen literarischen Gestalt nicht auf Jesus zurück, aber sie enthalten alte Traditionen (Lk 7,37.38.47; Mk 2,5b.10?), die einen Zuspruch der Sündenvergebung Gottes bzw. eine unmittelbare Sündenvergebung durch Jesus möglich erscheinen lassen. Eine derartige Praxis Jesu würde seiner Botschaft von der voraussetzungslosen Parteinahme Gottes für den Menschen entsprechen. Jesus nimmt für sich in Anspruch, was eigentlich Gott vorbehalten schien128.

Offensichtlich gibt es bei Jesus eine Parteilichkeit im Namen Gottes zugunsten der Armen129, eine gleichermaßen religiöse wie sozial-politische Setzung. In der ersten Seligpreisung wird denen, die nichts haben und nur deswegen neben den Hungrigen und den Weinenden stehen können, bedingungslos das Gottesreich zugesprochen (Q 6,20). Reichtum kann von Gott trennen; dies verdeutlichen das Drohwort Mk 10,25 und die Geschichte vom Reichen und vom armen Lazarus (Lk 16,19–31), bei der bezeichnenderweise nur der Arme einen Namen hat. Es wird nicht gesagt, dass der Reiche unbarmherzig war oder zu wenig Almosen gespendet hat, sondern Reichtum auf der Welt bringt himmlische Qual als Ausgleich mit sich. Zum Bruch mit der Welt, den Nachfolge als Dienst an der Verkündigung des Gottesreichs fordert, gehört auch der Besitzverzicht, wie die Erzählung vom reichen Jüngling zeigt (Mk 10,17–23). Den Frauen wusste sich Jesus besonders verbunden, denn sie wurden vor allem durch das Ritualgesetz benachteiligt: Frauen waren durch Menstruation und Geburt häufig unrein, nicht kultfähig, von der Rezitation des Bekenntnisses befreit, nicht zum Torastudium zugelassen und nicht rechtsfähig130. Auch gegenüber den Samaritanern, die nicht den Status von Volljuden besaßen und religiös diskriminiert wurden, hatte Jesus keinerlei Berührungsängste; ebenso wenig mit Kindern, er stellt beide sogar als Vorbild hin (vgl. Mk 10,14f; Lk 10,25–37). Jesus kannte im Umgang mit Menschen keinerlei ritualgesetzliche Hemmungen. Mindestens tendenziell zielt die schrankenlose Liebe Gottes auch auf die religiös und sozial Deklassierten. Religionsgesetzliche Ordnungen, die im Namen Gottes diese Ausgrenzungen begründeten, wurden von Jesus übergangen. Seine Mahlgemeinschaften mit Zöllnern, Sündern und Frauen demonstrieren eindrücklich die neue Wirklichkeit des Reiches Gottes.

3.4.5Reich Gottes und Mahlgemeinschaften

Weil Mahlzeiten im antiken Judentum immer auch einen sakralen Charakter hatten und Gott im Lobpreis gedanklich als eigentlicher Gastgeber anwesend war, dienten die Mahlgemeinschaften sowohl der Wahrung jüdischer Identität als auch der öffentlichen Abgrenzung gegenüber Heiden oder religiös Indifferenten (vgl. z.B.Jub 22,16: „Du aber, mein Sohn Jakob, gedenke meiner Worte und halte die Gebote deines Vaters Abraham! Trenne dich von den Völkern! Iss nicht mit ihnen! Handle nicht nach ihrem Tun und sei nicht ihr Genosse! Denn ihr Werk ist Unreinheit, und all ihre Wege sind Befleckung, Greuel und Unreinheit“; vgl. auch 3Makk 3,4; 4Makk 1,35; 5,16ff; 1QS 6,20f; Jos, Bell 2,137–139.143f). Speisevorschriften bildeten im 1.Jh. n.Chr. das Zentrum jüdischen Gesetzesverständnisses131; sowohl bei den Pharisäern als auch den Therapeuten und Essenern stand die Idee der kultischen Reinheit im Mittelpunkt des Denkens132.

Auf diesem Hintergrund stellten die von Jesus praktizierten Mahlgemeinschaften einen Angriff auf die atl. Fundamentalunterscheidung ‚rein – unrein‘ dar (vgl. Lev 10,10: „Ihr sollt unterscheiden zwischen dem, was heilig ist, und dem, was nicht heilig ist, zwischen dem, was unrein, und dem, was rein ist“)133. Jesu Teilnahme an Gastmählern hat in der Überlieferung vielfältige Spuren hinterlassen (vgl. Q 7,33f; Q 10,7; Q 13,29.28; Lk 14,15–24/Mt 22,1–10; Mk 1,31; 2,15ff; 2,18ff; 3,20; 7,lff; 14,3ff; Lk 8,1–3; 10,8.38ff; 13,26; 14,1.7–14; 15,1f.11–32; 19,1–10). Sie zeugen davon, dass es zum Besonderen Jesu gehört haben muss, Gastmähler zu feiern, sie mit spezifischem Sinn zu versehen und dabei kulturelle Regeln zu durchbrechen. Die Parabel vom großen Gastmahl (Lk 14,15–24/Mt 22,1–10)134 zeigt, wie Jesus zeitgenössische Vorstellungen aufnahm und verfremdete. Im antiken Judentum war die Vorstellung weit verbreitet, dass am Ende der Tage Gott für die Gerechten und Geretteten ein Heilsmahl in unermesslicher Fülle zubereiten wird (vgl. Jes 25,6; PsSal 5,8ff). Von Gottes endzeitlichem Freudenmahl spricht auch Jesus, doch er weiß Überraschendes zu berichten: Das Fest findet statt, aber die Gäste werden andere sein als man dachte. Die zuerst eingeladenen Gäste haben ihre Chance verpasst, denn sie erkannten den gegenwärtigen Kairos des Gottesreiches nicht135. Stattdessen nehmen Menschen „von der Straße“ (Lk 14,23) an dem Fest teil, d.h. Arme und andere Randsiedler der Gesellschaft. Damit stellt Jesus antike Ehrvorstellungen auf den Kopf, denn Gott gewährt gerade denen seine Ehre, die eigentlich davon ausgeschlossen sind136. Ähnlich provokativ ist der Ausblick auf das eschatologische Freudenmahl in Q 13,29.28; nicht die Erwählten, sondern die Heiden werden es mit Abraham, Isaak und Jakob halten. Eine Umkehrung der Verhältnisse ist eingetreten, wie sie die Seligpreisung der Armen in Q 6,20 und Q 13,30 verdeutlichen: „Es werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten“.

Die Mahlpraxis Jesu konnte deshalb nicht ohne Reaktion bleiben. So erhoben die Schriftgelehrten unter den Pharisäern nach Mk 2,16 die aus ihrer Sicht diskreditierende Frage, ob Jesus mit Zöllnern137 und Sündern esse (vgl. Q 7,34; Lk 15,1). Jesus antwortet mit seiner Sendung zu den Sündern (Mk 2,17c); vor allem den Sündern muss Gottes Barmherzigkeit und Liebe nahe gebracht werden, damit sie zu Gott zurückkehren. Jesus hat also betont und absichtsvoll diejenigen am Mahl teilnehmen lassen, die das offizielle Judentum seiner Tage lieber ausgrenzte. Gott der Schöpfer übernimmt selbst in den Gastmählern die endzeitliche Fürsorge für seine Geschöpfe und ist den Sündern gegenüber der Barmherzige. Der kreatürliche Aspekt ist bei den Gastmählern nicht zu übersehen, Gott spricht die Menschen in der bereits wirkenden Gottesherrschaft in ihrer Geschöpflichkeit an und gewährt ihnen auf die Bitte „Unser Brot für den Tag gib uns heute“ (Q 11,3) das zum Leben Notwendige (vgl. Q 12,22b–31).

Die Gastmähler veranschaulichen, wie sich die Dynamik des Gottesreiches von selbst durchsetzt und Menschen in sich aufnimmt. Die Mahlgemeinschaften sind wie die Gleichnisreden und die Wundertaten ganz und ungeteilt Ereignisse der ankommenden Gottesherrschaft. Im antiken Judentum gibt es für diese sich wiederholenden Gastmähler mit kultisch Unreinen als Ausdruck und Vollzug der ankommenden Gottesherrschaft keine Parallelen. Die offene Mahlpraxis Jesu mit ihrem Heilscharakter (Mk 2,19a) gehört in das Zentrum des Wirkens Jesu138, wie nicht zuletzt die Wirkungsgeschichte des Mahlmotives zeigt (vgl. 1Kor 11,17–34; Mk 6,30–44; 8,1–10; 14,22–25; Joh 2,1–11; 21,1–14; Apg 2,42–47).

Das Reich Gottes als Gottes neue Wirklichkeit

Gottes Kommen und Handeln in seinem Reich ist die Basis, die Mitte und der Horizont des Wirkens Jesu. Mit der Rede vom Reich/der Herrschaft Gottes nimmt Jesus nicht nur eine Zeitdiagnose, sondern eine umfassende Sinnbildung vor, deren Ausgangspunkt die Erfahrung und die Einsicht war, dass Gott in neuer Weise zum Heil der Menschen unterwegs ist und das Böse zurückgedrängt wird139. Auffällig ist zunächst, was bei Jesu Rede über Gottes Herrschaft/Reich fehlt: Nationale Bedürfnisse werden nicht angesprochen, und die rituelle Trennung von Heiden und Juden spielt keine Rolle mehr. Nicht das Opfer im Tempel, sondern Mahlgemeinschaften in galiläischen Dörfern sind Zeichen der anbrechenden neuen Wirklichkeit Gottes. Jesus setzt innerhalb Israels keine Grenzen: Er stellt die Randsiedler Israels, die Armen, die benachteiligten Frauen, Kinder, Zöllner, Huren in die Mitte, er integriert Kranke, Unreine, Aussätzige, Besessene und schließt offensichtlich auch Samaritaner ins Gottesvolk ein. Grundlegende religiöse, politische, soziale und kulturelle Identitätsmerkmale seiner Gesellschaft werden von Jesus einfach außer Acht gelassen. Der Anfang des Gottesreiches wird in der Liebe Gottes zu den Disqualifizierten sichtbar und bedeutet: überwältigende Vergebung von Schuld, Vaterliebe, Einladung an die Armen, Erhörung der Gebete, Lohn aus Güte und Freude. Davon erzählt Jesus in seinen Gleichnissen und Parabeln. Ihre eigentümliche Leistung besteht darin, dass sie den Hörer gleichsam in ihre erzählte Welt hineinholen, so dass er sich mit seiner Welt unversehens in der Geschichte selbst vorfindet und dabei sich und seine Zeit neu verstehen lernt. So schaffen sie Nähe zum Ungewöhnlichen der Botschaft Jesu und damit zu der unerwartet nahenden und bereits gegenwärtigen Gottesherrschaft mitten in der Alltagswelt.

Das Reich Gottes ist für Jesus keineswegs nur eine Idee, sondern eine sehr konkrete, weltumstürzende Wirklichkeit, als deren Anfang er sich selbst verstand140. Durchgängig wird vorausgesetzt, dass das Kommen des Reiches Gottes eine Realität ist, wobei Jesu Aussagen teilweise von ungewöhlicher Konkretheit sind. Den Boten wird eingeschärft, niemanden auf dem Weg zu grüßen (Q 10,4). Wer um die Bedeutung des Grußes im Orient weiß, kann ermessen, wie befremdlich dieser Befehl ist. Die Nachfolger dürfen von ihren Familien nicht mehr Abschied nehmen, ja, den eigenen Vater nicht mehr begraben (vgl. Q 9,59f). Solche Sätze wären nicht denkbar, wenn das Reich Gottes nicht als etwas ganz Konkretes, als ein wirklich von Gott gebrachtes Ende gedacht wäre, das bereits jetzt menschliche Bindungen aufhebt. In Galiläa war die Großfamilie der Ort sozialer Identität141, d.h. Jesus verlässt auch hier mit seinen Nachfolgern die gewohnte Denk- und Sozialstruktur.

Die Herrschaft Gottes entwickelt sogar eine eigene Dynamik; Jesus spricht von ihr als selbst handelndes Subjekt: „sie ist nahe herbeigekommen“ (Mk 1,15), „sie ist da“ (Lk 11,20), „sie kommt“ (Lk 11,2), „sie ist mitten unter euch“ (Lk 17,21). Offenbar ist für Jesus die Gottesherrschaft ein eigenes, den Menschen zwar erfassendes, aber nicht von ihm bestimmbares oder auszulösendes Geschehen und hat ihre eigene Kraft (vgl. Mk 4,26–29)142.

Die Interpretation des Reich-Gottes-Begriffes ist in der Forschung durch einen Antagonismus zwischen einem ethisch individualistisch-präsentischen und einem apokalyptisch kosmisch-futurischen Verständnis bestimmt gewesen. Klassische Vertreter einer ethischen Interpretation sind Albrecht Ritschl (1822–1889) und Adolf von Harnack (1851–1930). In seinem 1875 veröffentlichten „Unterricht in der christlichen Religion“ stellt Ritschl in § 5 fest: „Das Reich Gottes ist das von Gott gewährleistete höchste Gut der durch seine Offenbarung in Christus gestifteten Gemeinde; allein es ist als das höchste Gut nur gemeint, indem es zugleich als das sittliche Ideal gilt, zu dessen Verwirklichung die Glieder der Gemeinde durch eine bestimmte gegenseitige Handlungsweise sich unter einander verbinden.“143 A. v. Harnack stützte sich für sein Gottesreichverständnis vor allem auf die Gleichnisse Jesu; an ihnen wird sichtbar, was das Gottesreich ist: „Das Reich Gottes kommt, indem es zu den einzelnen kommt, Einzug in ihre Seele hält und sie es ergreifen. Das Reich Gottes ist Gottesherrschaft, gewiß – aber es ist die Herrschaft des heiligen Gottes in den einzelnen Herzen, es ist Gott selbst mit seiner Kraft. Alles Dramatische im äußeren, weltgeschichtlichen Sinn ist hier verschwunden, versunken ist auch die ganze äußerliche Zukunftshoffnung.“144 Demgegenüber steht die Interpretation von Johannes Weiss (1863–1914), der 1892 sein Buch „Die Predigt Jesu vom Reich Gottes“ veröffentlichte. Reich Gottes bedeutet demnach bei Jesus weder sittliches Ideal noch innere religiöse Gewissheit, sondern Gott führt das Ende der Welt und eine neue Welt ohne menschliches Zutun herbei. Der Anbruch des Reiches Gottes steht als kosmische Katastrophe unmittelbar bevor. „Die Wirksamkeit Jesu ist beherrscht durch das starke und unbeirrte Gefühl, dass die messianische Zeit ganz nahe bevorsteht. Ja er hat sogar Momente prophetischen Tiefblicks, in welchen er das jenem entgegenstehende Reich des Satans bereits im Wesentlichen als besiegt und gebrochen erkennt und dann spricht er in kühnem Glauben von einem bereits wirklichen Angebrochensein des Reiches Gottes.“145 Albert Schweitzer verschärfte diese Position: Das Reich Gottes „liegt jenseits der ethischen Grenze zwischen Gut und Böse; es wird herbeigeführt durch eine kosmische Katastrophe, durch welche das Böse total überwunden wird. Damit werden die sittlichen Maßstäbe aufgehoben. Das Reich Gottes ist eine übersittliche Größe.“146

Beide Interpretationsmodelle sehen Richtiges: Zweifellos ist die Perspektive Jesu auf das kommende, unmittelbar bevorstehende Reich Gottes ausgerichtet, in dem Gott selbst seine neue Wirklichkeit schafft. Das Kommen des Reiches Gottes bedeutet das Kommen einer real neuen Welt. Zugleich entfaltet das Reich Gottes eine ungeahnte neue ethische Energie, die den Menschen zu einem neuen Handeln öffnet. Weil das Reich Gottes für Gottes Herrschaft in Gegenwart und Zukunft, Gottes Nähe, Gottes Liebe, Gottes Parteinahme, Gottes Gerechtigkeit, Gottes Wille, Gottes Sieg über das Böse und Gottes Güte steht, bestimmt es alle Bereiche der Verkündigung und des Handelns Jesu und seiner Nachfolger. Das Reich Gottes speist sich nicht aus einem spekulativen Wissen über die Zukunft, sondern es reicht in höchst aktiver Gestalt in die Gegenwart hinein und ruft die Menschen zu einer neuen Wahrnehmung der Wirklichkeit Gottes in der Welt und einer neuen Interpretation und Ausrichtung des eigenen Handelns angesichts der überraschenden Nähe Gottes auf. Davon handelt Jesu Ethik im Horizont des Reiches Gottes.

3.5Ethik im Horizont des Reiches Gottes

H.MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip. Untersuchung zur Ethik Jesu, fzb 34, Würzburg 31984; R.SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments I, HThK.S 1, Freiburg 1986, 31–155; S.SCHULZ, Neutestamentliche Ethik, Zürich 1986, 18–83; W.SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Göttingen 21989, 23–122; J.SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils. Eine Untersuchung zu den ethischen Radikalismen Jesu, Regensburg 1991; G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus (s.o. 3), 311–355; J. P. MEIER, A Marginal Jew IV (s.o. 3), 478–646.

Es ist in der Forschung umstritten, ob man von einer Ethik Jesu sprechen kann. Wird der Ethik-Begriff in eine reflexive, theoretische Diskursebene eingebettet und Ethik immer als ein Element eines Theorieunternehmens bestimmt, so wird man bei Jesus nicht von Ethik, sondern von moralischen Aussagen/Stellungnahmen, von ‚morality‘ sprechen müssen147. Andererseits gibt es zahlreiche Hinweise dafür, dass Jesus weitaus mehr als ein Vertreter eines kontextuellen Ethos ist148: 1) Viele seiner ethischen Aussagen haben einen prinzipiellen Charakter und lassen sich gerade nicht auf einmalige Stellungnahmen reduzieren. 2) Die ethischen Aussagen Jesu weisen deutlich eine Struktur und innere Gewichtung auf, bei der das Liebesgebot Mitte und Zentrum zugleich ist. 3) Schließlich können Jesu (teilweise radikale) Aussagen zu ethischen Fragestellungen in sein Gesamtwirken integriert werden. Deshalb ist es sinnvoll, auch weiterhin von einer Ethik Jesu zu sprechen. Man wird sogar angesichts der Vielfalt der Texte und Themen sagen können, dass Jesus als ethischer Lehrer auftrat. Er wollte offenbar zu einer inneren Befriedung der jüdischen Gesellschaft beitragen und sah in einem veränderten Gottesbild und dem Gebot der Gottes-, Nächsten- und Feindesliebe die Voraussetzungen dafür.

3.5.1Schöpfung, Eschatologie und Ethik

Jesu Ethik orientiert sich am Willen Gottes, der angesichts des kommenden Reiches Gottes und der damit verbundenen Entmachtung des Bösen wieder in seiner ursprünglichen, d.h. schöpfungsgemäßen Bedeutung zur Geltung gebracht wird. Protologie und Eschatologie bilden bei Jesus eine vom Gottesgedanken getragene Einheit. Im Horizont des Reiches Gottes geht es um die Proklamation und Durchsetzung des ursprünglichen Willens Gottes149. Weisheitliches Schöpfungsdenken und radikale Ethik angesichts des gegenwärtig kommenden Reiches schließen sich bei Jesus nicht aus, sondern ergänzen sich in seiner theozentrischen Perspektive.

Der Wille des Schöpfers

Überschwänglich kann Jesus die Schöpfergüte Gottes preisen, der die Sonne über Gute und Böse aufgehen lässt (Mt 5,45) und ohne dessen Willen kein Haar vom Haupt fällt (Mt 10,29–31). Gott sorgt für die Vögel und die Lilien, um wieviel mehr wird er für die Menschen da sein (Mt 6,25–33)150. Dieser weisheitliche Gedanke (vgl. Sir 30,23b–31,2) führt nun aber bei Jesus gerade nicht zur Befürwortung der Sorglosigkeit als einer Lebensmaxime, sondern erfährt in Mt 6,33 eine spezifische Begründung: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, so wird euch alles andere hinzugetan“151. In der Ausrichtung auf das Reich Gottes erfüllt sich das Leben der Jünger. In der eschatologischen Prägung weisheitlichen Denkens offenbart sich ein Charakteristikum der Verkündigung Jesu152. Der menschlichen Aktivität wird ein neues Ziel gegeben: Sie soll nicht der eigenen Existenz gelten, sondern dem Reich Gottes. In der Hinwendung auf Gottes Reich und damit auf Gott den Schöpfer erfährt das menschliche Leben seine schöpfungsgemäße Bestimmung.

Seiner Geschöpflichkeit entspricht der Mensch vor allem durch das Befolgen des ursprünglichen Schöpferwillens. Die Unauflöslichkeit der Ehe wird in Mk 10,2–9 von Jesus mit dem ursprünglichen Schöpfungswillen Gottes begründet. Es entspricht dem Willen Gottes und damit zugleich der Geschöpflichkeit des Menschen, dass Mann und Frau ein Leben lang einander anhangen (Mk 10,9: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden“). Die Möglichkeit der Scheidung wird von Jesus hingegen als eine Konzession des Mose an die σϰληροϰαρδία („Hartherzigkeit“) der Menschen gewertet, die sich letztlich gegen den Menschen richtet. Indem Jesus die Scheidung verwirft, wertet er nicht nur die Stellung der Frau in der jüdischen Gesellschaft auf, sondern er stellt sich über die Autorität des Mose und nimmt für sich in Anspruch, den auf das Wohl des Menschen gerichteten ursprünglichen Willen Gottes wieder zu Gehör zu bringen. Zugleich setzt er damit die Scheidungsmöglichkeit nach Dtn 24,1–4 außer Kraft!

Mk 10,2–9 geht in seiner vorliegenden literarischen Form zwar nicht auf Jesus zurück, dürfte aber sachlich seine Position wiedergeben153. Dies bestätigt 1Kor 7,10f (ohne die von Paulus eingefügte Parenthese V. 11a), wo Paulus die Unauflöslichkeit der Ehe auf das Wort des Kyrios zurückführt. Die Ausnahmeregelungen in Mt 5,32 (παρεϰτὸς λόγου πορνείας) und Mt 19,9 (μὴ ἐπὶ πορνείᾳ) sind matthäisch154.

Auf eine Wiederherstellung der Schöpfungsordnung zielen auch die Jesusworte in Mk 2,27 und 3,4: Der Sabbat soll als Schöpfungswerk dem Leben dienen und an dieser Maxime hat sich das Handeln des Menschen zu orientieren. Wie die Heilungen (s.u. 3.6.3) und die torakritischen Worte (s.u. 3.8.2) haben die ethischen Aussagen Jesu eine schöpfungstheologische Dimension. Weil Schöpfung gottgewolltes Leben bedeutet, Gott gleichermaßen Geber und Erhalter des Lebens ist, muss sich der Mensch seines Ursprungs bei Gott stets bewusst sein und zugleich dem lebenserhaltenden Willen Gottes folgen.

Die staatlichen Ordnungen sieht Jesus ebenfalls im göttlichen Willen begründet, wenn der Staat seinen Aufgaben nachkommt und sich zugleich auf sie beschränkt. Dieses Thema wird exemplarisch in Mk 12,13–17 behandelt155, wobei V. 17 Jesu Position markiert: „Was des Kaisers ist, gebt dem Kaiser, und was Gottes ist, Gott!“ Die Fragesteller wollten Jesus offenbar auf einem zentralen Feld der damaligen politischen Ethik zu einer Äußerung in die eine oder die andere Richtung provozieren. Die Frage war so gewählt, dass nach ihrer Meinung jede Antwort Jesus nur zum Nachteil gereichen konnte. Bejahte er ausdrücklich das Steuerzahlen an die Römer, so hätte man ihn als römerfreundlich und Feind seines eigenen Volkes hinstellen können. Verneinte Jesus hingegen die Steuern, so hätten ihn die Fragesteller als Aufrührer denunzieren können. Bedenkt man die durchgängige Verflechtung von religiösem und politischem Leben in der gesamten Antike, so ist eine kritische Komponente in V. 17a nicht zu überhören. Jesus bestreitet zwar nicht das Recht und die Macht des Staates, aber er reduziert die Bedeutung des Staates auf eine rein funktionale Ebene. Dem Kaiser sind Steuern zu zahlen, aber eben nicht mehr! Jede ideologische oder religiöse Überhöhung des Staates wird durch diese rein funktionale Bestimmung durch Jesus unmöglich gemacht. Schließlich bringt V. 17b eine weitere Relativierung des Kaisers. Hier liegt die Pointe der Antwort Jesu: Der Gehorsam gegenüber Gott ist allen anderen Dingen vor- und übergeordnet. Allein der Gehorsam gegenüber Gott bestimmt, was dem Kaiser zukommt und was nicht. Dem Kaiser gebührt die Steuer, die er zur Ausübung seiner staatlichen Macht braucht, ihm gebührt aber nicht religiöse Verehrung. Dem Kaiser gehört die Münze, aber der Mensch gehört Gott. Angesichts des Anspruches Gottes auf den Menschen kann der Kaiser und damit der Staat nur ein begrenztes Recht haben. Jesu Antwort stellt somit einen Mittelweg dar: Er ist kein antirömischer Revolutionär156, der das Recht und die Existenz dieses Staates grundsätzlich bestreitet. Er weist dem Staat auf rein funktionaler Ebene sein Recht zu, macht aber zugleich deutlich, dass das Recht des Staates in dem Recht Gottes auf den ganzen Menschen seine Begrenzung findet.

3.5.2Die ethischen Radikalismen Jesu

Der von Jesus verkündigte Gotteswille will menschliches Zusammenleben ermöglichen und Störungen durch ein neues, unerwartetes Verhalten überwinden. In den Antithesen der Bergpredigt artikuliert sich unüberhörbar Gottes unbedingter Wille.

Der Evangelist Matthäus fand in seinem Sondergut die 1., 2. und 4. Antithese vor und schuf auf dieser Basis eine Reihe von 6 Antithesen157. Durch πάλιν in Mt 5,33a setzt Matthäus die erste Dreierreihe von der zweiten ab. Handeln die ersten drei Antithesen vom Verhältnis zum Mitchristen (Zorn gegenüber dem Bruder, Ehebrechen, Ehescheidung), so die 4.–6. Antithese vom Verhältnis zum Nichtchristen (Schwören, Wiedervergeltung, Feindesliebe). Der traditionsgeschichtlich älteste Bestand der 1., 2. und 4. Antithese umfasst Mt 5,21–22a (ἠϰούσατε … ἔσται τ ϰρίσει), Mt 5,27–28a.b (ἠϰούσατε … ἐμοίχευσεν αὐτήν), Mt 5,33–34a (ἠϰούσατε … μὴ ὀμόσαι ὅλως) und dürfte der Verkündigung Jesu zuzuordnen sein. Im Verlauf der Tradierung wurde dieses älteste Spruchgut durch Beispiele und Erläuterungen angereichert. Auch die vom Evangelisten gebildeten Antithesen enthalten alte Traditionen, wobei allerdings nur die Forderung nach Verzicht auf Wiedervergeltung (Mt 5,39b–40/Lk 6,29), das absolute ἀγαπᾶτε τοῦς ἐχϑροῦς ὑμῶν in Mt 5,44a/Lk 6,27a und die schöpfungstheologische Begründung in Mt 5,45/Lk 6,35 auf Jesus zurückgehen dürften.

In der 1. Antithese stellt Jesus dem atl. Verbot des Tötens (Ex 20,15; Dtn 5,18) sein eigenes Recht gegenüber: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: Du sollst nicht töten! Wer aber tötet, soll dem Gericht verfallen. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen“ (Mt 5,21–22a). Schon der Zorn gegenüber dem Bruder lässt den Menschen dem Gericht verfallen. Jesus legt das atl. Gebot damit nicht aus, sondern er überbietet es. Gefordert ist die radikale Zuwendung des Menschen zum Menschen. Andernfalls folgt unabwendbar die Gerichtsverfallenheit. Inhaltlich ist die Verwerfung des Zorns im Judentum nicht neu (vgl. 1QS 6,25–27)158. Überraschenderweise überbietet aber die Verwerfung des Zorns bei Jesus die Tora und qualifiziert sie damit als unzureichend. Der Gotteswille wird von Jesus so ausgelegt, dass er dem Menschen ständig gilt und auch unwillkürliche Regungen umgreift. Allein schon die Frage, ob es auch berechtigten Zorn gibt, wäre der Versuch der Eingrenzung des Gotteswillens.

In der 2. Antithese setzt Jesus dem atl. Verbot des Ehebruches (Ex 20,14; Dtn 5,17) die These entgegen, dass schon der begehrliche Blick wie ein Ehebruch zu werten sei: „Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau ansieht, um sie zu begehren, hat schon die Ehe mit ihr gebrochen“ (Mt 5,27f). Das Verwerfliche ist nicht der Blick, sondern die dahinter stehende Absicht, das Begehren. Mit ἐπιϑυμία („Begehren“) bezeichnet Jesus das Verlangen des Menschen, sich fremde Güter anzueignen159. Der Mensch verspricht sich davon eine Steigerung seines Lebensgefühles, einen Gewinn an Lust und Sinn. Jesus unterbindet dieses Streben, weil es eine zerstörende Kraft entfaltet. Die Heiligkeit der Ehe wird gebrochen und Menschen ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung entrissen.

Auch das Schwurverbot Jesu in der 4. Antithese zielt auf die Ganzheit menschlicher Existenz (Mt 5,33–34a: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: Du sollst nicht falsch schwören, du sollst aber dem Herrn deine Eide halten. Ich aber sage euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt“). Durch den Schwur, der die Wahrheit beschworener Aussagen dokumentiert, sind die unbeschworenen Aussagen von der Wahrheit ausgenommen. Faktisch dient damit der Schwur der Duldung der Lüge. Ein Teilbereich des Lebens, in dem der Wille Gottes – Wahrhaftigkeit – gilt, ist von einem anderen abgetrennt, wo er nicht gilt. Diese Trennung soll durch das Gebot Jesu aufgehoben werden. Der Gotteswille gilt für den Menschen in allen Lebensbereichen.

Jesus fordert den Verzicht auf Wiedervergeltung (Mt 5,39b.40/Lk 6,29)160. Dabei geht es keineswegs um ein rein passives Verhalten, das ins Erleiden führt. Die provokative Aufforderung Jesu, auch die andere Wange hinzuhalten und mit dem Mantel auch das Untergewand zu geben, verlangt im Gegenteil vom Jünger höchste Aktivität, denn er soll die Grundhaltung der Liebe in scheinbar aussichtslosen Situationen praktizieren. Jesus lebt und fordert ein ungewöhnliches, nicht berechenbares und zweckfreies Verhalten, das gerade dadurch produktiv ist.

Das Gebot der Feindesliebe ist in seiner uneingeschränkten Form (Mt 5,44a/Lk 6,27a: ἀγαπᾶτε τοῦς ἐχϑροῦς ὑμῶν [„liebet eure Feinde“]) ohne Analogie. Zwar gibt es sowohl im jüdischen als auch im hellenistischen Bereich enge Parallelen, die aber jeweils unterschiedliche Motivationen erkennen lassen und nicht wirklich mit der jesuanischen Anordnung übereinstimmen161. Dennoch ist zu betonen, dass Jesus hier hellenistischem Denken deutlich näher steht als jüdischen Vorstellungen162. Er macht die Liebe grenzenlos; eine Eingrenzung ist nicht mehr möglich, auch nicht auf den Nächsten. Am Extrembeispiel des Feindes zeigt Jesus, wie weit die Liebe geht. Sie kennt keine Grenzen, sie gilt allen Menschen. Gottes radikale, uneingeschränkte Liebe drängt in den Alltag des Menschen hinein, dem zugemutet wird, mit der Feindesliebe an der Liebe Gottes zu partizipieren. Eine Begründung für die Feindesliebe lässt sich nicht aus der vorfindlichen Wirklichkeit ableiten, sondern ein solch ungewöhnliches Verhalten kann nur aus dem Handeln Gottes heraus seine Bedeutung und Verbindlichkeit erhalten. Weil der Schöpfer selbst in seiner Güte gegenüber Guten und Bösen das Freund-Feind-Schema sprengt (Mt 5,45), kann der Mensch die Grenzen zwischen Freund und Feind überschreiten, werden Menschen entfeindet163.

Mit dieser Konzeption unmittelbar verbunden ist ein neues Herrschaftsideal, das Jesus gegenüber den Jüngern in Mk 10,42b–44 formuliert164: „Ihr wisst, die als Herrscher der Völker gelten, unterdrücken sie, und ihre Großen gebrauchen ihre Macht gegen sie. Unter euch aber ist es nicht so. Sondern wer ein Großer werden will unter euch, soll euer Diener sein und wer unter euch der Erste sein will, soll der Knecht aller sein.“ Die antike Herrscherpraxis wird hier einer radikalen Kritik unterzogen, denn nicht Unterdrückung und Ausbeutung, sondern Dienen und Fürsorge kennzeichnen den wahren Herrscher165.

Einen weiteren ethischen Radikalismus Jesu stellt das Verbot des Richtens in Mt 7,1 dar („Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“)166. Jesus verbietet alles Urteilen, weil in jedem menschlichen Urteilen der Keim für ein Verurteilen steckt. Mit dem Passivum divinum ϰριϑῆτε in Mt 7,1b verweist Jesus als Begründung auf das Endgericht. Weil das göttliche Gericht unmittelbar bevorsteht, soll sich der Mensch bereits jetzt danach richten und auf jegliches Urteilen verzichten, denn dies hat notwendigerweise die eigene Verurteilung im Gericht zur Folge.

Ein ethischer Radikalismus ist auch die Reichtumskritik Jesu, wie sie sich in der Seligpreisung der Armen (Q 6,20), dem Aufruf zum Nicht-Sorgen (Mt 6,25–33) oder in Mk 10,25 ausspricht167: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes kommt!“ Während die Reichen vom Reich Gottes ausgeschlossen sind, wird es den Armen zugesprochen; eine paradoxere und schärfere Kritik des Reichtums als Hindernis auf dem Weg in das Reich Gottes ist kaum vorstellbar168! Der scharfe Gegensatz zwischen dem Reich Gottes und der Welt wird auch in Q 9,59f sichtbar169: „Ein anderer aber sagte ihm: Herr, gestatte mir, zuvor fortzugehen und meinen Vater zu begraben. Er aber sagte ihm: Folge mir und lass die Toten ihre Toten begraben.“ Die Beerdigung der Eltern galt in der gesamten Antike als heilige Pflicht, so dass hier ein Frontalangriff Jesu auf Gesetz, Sitte und Frömmigkeit vorliegt170, der mit dem Ethos der neuen familia dei (vgl. Q 14,26; Mk 10,29) und der Heimatlosigkeit des Menschensohnes in Verbindung steht (Q 9,57f). Als ethische Radikalismen können auch das Ehescheidungsverbot (s.o. 3.5.1), das Fastenverbot in Mk 2,18–20 und die Tempelkritik in Mk 11,15–19 (s.u. 3.10.2) angesehen werden.

Die grenzüberschreitenden ethischen Radikalismen Jesu sind drastische Aufforderungen, die von Gott nicht gewollte Entzweiung zwischen Menschen zu überwinden und dem Willen des Schöpfers wieder Geltung zu verschaffen. Ihrem Wesen nach unbegrenzt und nur im Horizont des nahenden Gottesreiches verstehbar171, fordern die Radikalismen ein Verhalten, das sich ausschließlich von Gott bestimmt weiß172. Im Anbruch des Gottesreiches wird der Wille Gottes nochmals neu, radikal und endgültig proklamiert. Jesus formuliert ihn aus eigener Vollmacht, leitet ihn nicht aus dem Alten Testament ab, das damit im Lichte des Reiches Gottes überboten, zugleich aber auch vertieft und ausgeweitet wird. Erst im Willen Gottes erreicht somit der Mensch seine schöpfungsgemäße Bestimmung. An das endgültige Wort Gottes darf er sich halten, von diesem Wort her gilt es zu leben und zu handeln. Indem der Mensch sich ganz auf Gott ausrichtet und damit von sich selbst löst, kann er sich von der Liebe bestimmen lassen, um das Wohl des anderen zu suchen. Auch im Versagen gegenüber dem Willen Gottes und der drohenden Gerichtsverfallenheit ist der Mensch ausschließlich auf Gott angewiesen, denn allein in der Umkehr kann er seinem gerechten Urteil entgehen. Der Radikalität der Forderung Jesu entspricht somit die Totalität des Angewiesenseins des Menschen auf Gott173. Die Frage der Erfüllbarkeit der ethischen Radikalismen stellt sich bei Jesus nicht, denn sie würde zu einer von ihm nicht gewollten Negierung der Entscheidungsfreiheit und damit zu einer Gesetzlichkeit und Funktionalisierung führen. Die Radikalismen sind bewusste Verfremdungen und haben als exemplarische Worte Appellcharakter, sich angesichts des nahenden Gottesreiches ganz auf den Willen Gottes einzulassen und gerade dadurch Menschsein zu ermöglichen.

3.5.3Die Liebesforderung als Zentrum der Ethik Jesu

Als Geschöpf ist der Mensch dem Willen Gottes verpflichtet. Damit muss er sich nicht einem willkürlichen Despoten unterordnen, sondern Gottes Wille ist von seiner Liebe umgriffen, die in seinem Schöpferhandeln Gestalt gewinnt. Das Liebesgebot in seiner dreifachen Form als Gebot der Nächstenliebe (vgl. Mt 5,43), der Feindesliebe (Mt 5,44) und als Doppelgebot der Liebe (Mk 12,28–34) bildet die Mitte und das Zentrum der Ethik Jesu.

Das Doppelgebot der Liebe

In Mk 12,28–34 wird dem Schriftgelehrten auf seine Frage „Welches ist das erste von allen Geboten?“ von Jesus geantwortet: „Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der eine Gott, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von deinem ganzen Herzen und von deiner ganzen Seele und von deiner ganzen Vernunft und von deiner ganzen Kraft. Das zweite ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als dieses“ (V. 30.31). In seiner vorliegenden literarischen Gestalt geht das Doppelgebot der Liebe nicht auf Jesus zurück, denn die Häufung der Vernunftbegriffe, die ausgeprägte anthropologische Differenzierung, die ausdrückliche Überordnung des Liebesgebotes über die Opfer in V. 33, die starke Betonung des Monotheismus und die vom hebräischen Text und der LXX abweichende Hinzufügung von διάνοια lassen darauf schließen, dass literarisch eine Tradition des hellenistischen Judenchristentums vorliegt. Deshalb wurde vielfach das Doppelgebot der Liebe nicht als Proprium der Verkündigung Jesu angesehen174. Andererseits gibt es aber auch Hinweise, dass das Doppelgebot der Liebe sachlich doch auf Jesus von Nazareth zurückzuführen ist175: 1) Die Zusammenstellung von Dtn 6,5 und Lev 19,18 ist zwar in der jüdischen Tradition vorbereitet176, findet sich dort aber ebenso wenig wie die Nummerierung der beiden Gebote177. 2) Der Text enthält keinerlei christologische Aussagen, die starke Betonung des Monotheismus schließt sie sogar aus178. 3) Sowohl die Kontext- als auch die Wirkungsplausibilität sprechen für eine sachliche Zurückführung des Doppelgebotes auf Jesus. Es ist einerseits in die Traditionen des Judentums eingebunden und kann deshalb dem Juden Jesus von Nazareth zugeordnet werden, andererseits lässt es ein besonderes Profil erkennen; das Doppelgebot der Liebe könnte sehr gut eine Besonderheit der Verkündigung Jesu sein, die seinen Anspruch dokumentiert179. Zumal die Entschränkung des ‚Nächsten‘ über die nationale Perspektive von Lev 19,18 hinaus das Gebot der Feindesliebe illustriert. Die starke Wirkungsgeschichte (vgl. Mk 12,28–34par; Gal 5,14; Röm 13,8–10; Joh 13,34f) spricht ebenfalls dafür, dass beim Doppelgebot ein Impuls Jesu am Anfang stand. 4) Der Sachgehalt des Doppelgebotes findet sich nicht nur in der Wort-, sondern auch in der Erzählüberlieferung. Die Liebe gegenüber dem Fremden illustriert die Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30–37)180, mit der die Frage beantwortet wird, wer mein Nächster ist. Es geht um die Reichweite und Grenze der Liebesverpflichtung. Jesus erzählt die Geschichte aus der Perspektive des unter die Räuber Gefallenen. Am Beispiel des religiös und politisch diskriminierten Samaritaners illustriert er die Grenzenlosigkeit der Verpflichtung zur Liebe, die ihr Ende nicht am Zumutbaren und Üblichen findet. Bewusst werden die beiden lieblosen Juden und der barmherzige Samaritaner kontrastiert; ein Verfremdungseffekt, der verdeutlichen soll, dass sich Nächstenliebe nicht an Konventionen und Vorurteile hält, sondern es wagt, sich darüber hinwegzusetzen und in souveräner Freiheit jene Hindernisse zu übersteigen, die sonst die Wege zueinander versperren. Die Liebe gegenüber den Sündern veranschaulicht die Erzählung von der Sünderin in Lk 7,36–50181. Die von Jesus gewährte Gemeinschaft mit Gott orientiert sich nicht an religiösen Schranken, sondern an den Bedürfnissen der Menschen, die aufrichtig Vergebung suchen.

Ethik der Liebe

Inhaltlich ist die Liebesforderung die Mitte der Ethik Jesu. Das Liebesgebot ist radikal, es lässt keine Einschränkung mehr zu und entspricht darin der uneingeschränkten Schöpfergüte. Jesu Liebesforderung ist konkret, denn in den Texten dominieren konkrete Beispiele: Segnen, Gutes tun, sich versöhnen, vergeben, den Bruder nicht „Dummkopf“ nennen, den Armen das Geschuldete zurückerstatten und sein Vermögen verschenken; nicht richten, nicht nur den Splitter im Auge des Bruders sehen. Jesus geht es keineswegs um eine neue Gesinnung, denn sowohl die Konkretheit der Forderungen als auch ihr radikaler, zugespitzter Charakter sollten jeden Zweifel darüber zerstören, dass sie tatsächlich ernst gemeint waren. Gerade in ihrer Radikalität ist Jesu Liebesforderung exemplarisch. Seine Worte sind exemplarische Sätze, seine Erzählungen sind exemplarische Geschichten und seine Taten sind exemplarische Handlungen, die ihre Kraft in verschiedenen Situationen in unterschiedlicher Weise freisetzen. Sie können nicht eins zu eins umgesetzt werden, denn es gehört zum Wesen der Liebe, dass sie spontan ist und als ein den ganzen Menschen umfassendes Geschehen sich immer wieder in jeder Situation neu realisiert. In diesem Sinn sind Jesu Forderungen nicht Vorschriften, sondern viel mehr als das: Sie sind exemplarische Hinweise, sie greifen Musterbeispiele heraus, die man um ihrer Anschaulichkeit willen leicht behalten kann und die zeigen, wie das von Jesus gemeinte Verhalten aussehen könnte. Der Geltungsbereich von Jesu Forderungen geht weit über das hinaus, was in den Texten angesprochen wird. Zugleich schließt aber der Gehorsam gegenüber seinen Forderungen immer das Moment der eigenen Freiheit mit ein, um herauszufinden, was Liebe in neuer Situation konkret bedeutet. Die von Jesus postulierten Entgrenzungen führen keineswegs in Grenzenlosigkeit, sondern orientieren sich aktiv an der Liebe, deren Gestalt nie beliebig sein kann.

3.6Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes

R.PESCH, Jesu ureigene Taten?, Freiburg 1970; W.SCHMITHALS, Wunder und Glaube, BSt 59, Neukirchen 1970; O.BÖCHER, Christus Exorcista, BWANT 96, Stuttgart 1972; G.THEISSEN, Urchristliche Wundergeschichten, Gütersloh 1974; G.PETZKE, Die historische Frage nach den Wundern Jesu, NTS 22 (1976) 180–204; K.KERTELGE, Die Wunder Jesu in der neueren Exegese, Theologische Berichte 5 (1976), 71–105; O.BETZ/W.GRIMM, Wesen und Wirklichkeit der Wunder Jesu (ANTI 2), Frankfurt, 1977; R.KRATZ, Rettungswunder, Frankfurt 1979; A.SUHL (Hg.), Der Wunderbegriff im Neuen Testament (WdF 295), Darmstadt 1980; M.SMITH, Jesus der Magier, München 1981; H.WEDER, Wunder Jesu und Wundergeschichten, VuF 29 (1984) 25–49; L.E HOGAN, Healing in the Second Temple Period, NTOA 21, Fribourg/Göttingen 1992; M.WOLTER, Inschriftliche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen, in: K.Berger/F.Vouga/M.Wolter/D.Zeller (Hg.), Studien und Texte zur Formgeschichte, TANZ 7, Tübingen/Basel 1992, 135–175; J.P. MEIER, A Marginal Jew II (s.o. 3), 509–1038; G.H. TWELFTREE, Jesus the Exorcist, WUNT 2.54, Tübingen 1993; D.TRUNK, Der messianische Heiler, HBS 3, Freiburg 1994; W.KAHL, New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting, FRLANT 163, Göttingen 1994; G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus (s.o. 3), 256–283; B.KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter, FRLANT 170, Göttingen 1996; DERS., Neutestamentliche Wundergeschichten, Stuttgart 2002; M.BECKER, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum, WUNT 2.144, Tübingen 2002; K.-W.NIEBUHR, Jesu Heilungen und Exorzismen, in: Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie, hg. v. W.Kraus/K.-W.Niebuhr, WUNT 162, Tübingen 2003, 99–112; L.SCHENKE, Jesus als Wundertäter, in: ders. (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004, 148–163; M.LABAHN/B.J. PEERBOLTE (Hg.), Wonders never Cease. The Purpose of Narrating Miracle Stories in the New Testament and its Religious Environment, LNTS 288, London 2006; M. HENGEL/A. M. SCHWEMER, Jesus und das Judentum (s.o. 3), 461–497; C. S. KEENER, Miracles. The credibility of the New Testament accounts I.II, Grand Rapids 2011; R. ZIMMERMANN (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen I: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013.

Jesus von Nazareth wurde zuallererst als Heiler wahrgenommen und sein Heilungs-Charisma begründete den Erfolg seines Wirkens182. Sowohl die Synoptiker als auch das Johannesevangelium stellen das erfolgreiche exorzistische und therapeutische Handeln Jesu in den Mittelpunkt ihrer Darstellungen183. Alle Kriterien der Frage nach Jesus (s.o. 3.1.2) lassen nur den Schluss zu, dass Jesus vor allem in den Dörfern rund um den See Genezareth als einflussreicher Heiler auftrat, von der überwiegend armen Bevölkerung verehrt wurde und Nachfolger um sich scharte.

3.6.1Das kulturgeschichtliche Umfeld

Wunderheiler sind (nicht nur) in der Antike ein allgemeines kulturgeschichtliches Phänomen. Das Auftreten Jesu vollzieht sich im Kontext von jüdischen und hellenistischen Wundermännern184. In den Qumrantexten finden sich im Zusammenhang einer ausgeprägten Geisterlehre deutliche Hinweise auf magisch-pharmakologische Praktiken und auf Beschwörungsriten zur Dämonenabwehr185. „Da sich die auf Dämonenaustreibungen hindeutenden Befunde aus Qumran der Herkunft nach als überwiegend nicht-essenisch erwiesen, sind die dort implizierten Heilpraktiken über die Qumrangemeinde hinaus für weitere Teile des zeitgenössischen Judentums repräsentativ.“186 In der frührabbinischen Überlieferung sind Choni der Kreiszieher und Rabbi Chanina ben Dosa von besonderer Bedeutung. Choni (1.Jh. v.Chr.) bewirkte durch das Ziehen eines magischen Kreises Regenwunder und wird sowohl in der rabbinischen Überlieferung als auch bei Josephus (Ant 14,22–24) erwähnt187. Chanina ben Dosa trat wie Jesus im 1.Jh. der Zeitenwende in Galiläa auf und wirkte offenbar vor allem als Wunderheiler (speziell als Gesundbeter), aber auch zahlreiche andere Wundertaten werden ihm zugeschrieben (Fernheilungen, Macht über Dämonen)188. Zudem überliefert das Mischnatraktat Aboth drei Aussprüche Chanina ben Dosas, die ihn „as a warm-hearted lover of men, a true Chasid“189 darstellen. Es ist wohl mehr als ein Zufall, dass die beiden bedeutendsten jüdischen Wundertäter des 1.Jh. in Galiläa auftraten. Die klimatischen und kulturellen Besonderheiten dieses Landes begünstigten offenbar die außerordentlichen Ereignisse, die in seinen Grenzen geschahen. Als eine eigenständige Erscheinung sind die jüdischen Zeichenpropheten des 1.Jh. n.Chr. zu werten190. In den Jahrzehnten vor dem Ausbruch des jüdischen Krieges traten nach Josephus in Palästina immer wieder Zeichenpropheten auf, die durch Endzeitwunder ihre (politischen) Ansprüche legitimieren wollten. Ein Prophet aus Samaria verhieß um 35 n.Chr. seinen Anhängern, dass er die verschollenen Tempelgeräte auf dem Garizim finden werde (Jos, Ant 18,85–87). Daraufhin ergriffen die Samaritaner die Waffen, um auf den heiligen Berg zu ziehen. Kurz nach 44 n.Chr. kündigte Theudas die Spaltung des Jordans an (Ant 20,97–99), was eine Wiederholung des von Josua und Elia überlieferten Jordanwunders gewesen wäre (vgl. Jos 3; 2Kön 2,8). Der Prokurator Fadus ließ Theudas enthaupten und tötete zahlreiche seiner Anhänger. Unter dem Prokurator Felix (52–60 n.Chr.) trat ein anonymer Prophet auf, der Wunder und Zeichen in der Wüste und damit einen neuen Exodus ankündigte (Ant 20,167–168; Bell 2,259). Ein aus Ägypten stammender Prophet führte seine Anhänger zum Ölberg und verhieß, dass die Mauern Jerusalems auf seinen Befehl hin zusammenbrechen würden (Ant 20,168–172; Bell 2,261–263; vgl. Apg 21,38). Wiederum griffen die Römer ein und töteten zahlreiche seiner Anhänger. Kennzeichnend für die Zeichenpropheten ist eine Kombination aus eschatologischen und politisch-sozialen Motiven: Die Wunder des Anfangs wiederholen sich in der Endzeit und sind als Beglaubigungszeichen die Initialzündung für weitere Ereignisse in der einsetzenden Heilszeit, zu denen auch die Befreiung des Hauses Israel von den Römern zählte. Jesus wurde von Gegnern nach Apg 5,36 als ein solcher Zeichenprophet verstanden und der Prozess der Römer gegen Jesus zeigt, dass sie Jesus von Nazareth dieser Kategorie zuordneten (s.u. 3.10.2).

Aus dem weiten Feld hellenistischer Wunderheiler/Wundertäter ist der neupythagoreische Wanderphilosoph Apollonius von Tyana von besonderer Bedeutung (gest. um 96/97 n.Chr.), dessen Biographie Anfang des 3.Jh. von Philostrat niedergeschrieben wurde191. Hinter zahlreichen legendären Ausschmückungen wird eine Gestalt sichtbar, die in abgeklärter philosophischer Souveränität über zahlreiche Fertigkeiten in allen damaligen Wissenschaftsgebieten verfügt, Demonstrations-, aber auch Heilungswunder vollbringt, Menschen vor vielfältigen Gefahren rettet und mit den Herrschenden der Zeit immer wieder in Konflikt gerät. Auffallend ist, dass sich nicht nur zu fast allen Heilungen und Wundern Jesu bei Apollonius Vergleichbares findet192, sondern auch ihr Anfang (wunderbare Geburt) und ihr Ende (Auferstehung und Erscheinungen) Parallelen bieten, so dass Jesus von Nazareth und Apollonius von Tyana durchaus als Parallelgestalten angesehen werden können193.

3.6.2Die Vielfalt des heilenden Wirkens Jesu

Die Exorzismen bilden das Zentrum des heilenden Wirkens Jesu194. Sie finden sich in allen Überlieferungsschichten, in der Logien- und der Erzähltradition, lassen zumeist kein nachösterliches Interesse erkennen und können in das Gesamtwirken Jesu eingeordnet werden195. Zudem zeigt die Beelzebul-Kontroverse196, dass wahrscheinlich schon zu Jesu Lebzeiten eine Kontroverse über die Herkunft seiner heilenden Fähigkeiten ausbrach: „Er hat den Beelzebul, und: Durch den Fürsten der Dämonen treibt er die Dämonen aus“ (Mk 3,22b). Jesus antwortet auf diesen Vorwurf mit einem Weisheitswort, wonach das Reich des Satans keinen Bestand haben kann, wenn es in sich gespalten ist. Sein eigenes erfolgreiches exorzistisches Wirken weist jedoch auf etwas ganz anderes hin: „Niemand kann aber in das Haus des Starken eindringen und seine Habe rauben, wenn er nicht zuvor den Starken gefesselt hat; dann erst wird er sein Haus ausrauben“ (Mk 3,27; vgl. Mt 9,34). Die grundsätzliche Entmachtung des Satans und die dadurch ermöglichte Wiederherstellung schöpfungsgemäßen Lebens war offensichtlich das Zentrum der Wirklichkeitserfahrung Jesu, die durch die Exorzismen zugleich hergerufen und bestätigt wurde. Darauf weisen neben Mk 3,27 vor allem die Vision Jesu in Lk 10,18 („Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“)197, die Verbindung zwischen den Exorzismen und dem hereinbrechenden Reich Gottes in Q 11,20 und die Bitte im Vaterunser um die Befreiung vom Bösen (Mt 6,13b) hin. Der Kampf gegen das Böse bzw. den Bösen war der zentrale Inhalt der Lehre und des Handelns Jesu198. Er teilt damit Überzeugungen im antiken Judentum, wonach die Entmachtung des Teufels und seiner Dämonen ein Kennzeichen der hereinbrechenden Endzeit ist (vgl. AssMos 10,1: „Und dann wird seine [sc. Gottes] Herrschaft über seine ganze Schöpfung erscheinen, und dann wird der Teufel nicht mehr sein, und die Traurigkeit wird mit ihm hinweg genommen sein“; ferner TDan 5,10–13;TLev 18,12; Jes 24,21f; Jub 10,1.5; 1QS 3,24f; 4,20–22; 1QM 1,10 u.ö.). Die eigentliche Opposition zum Kommen des Reiches Gottes ist bei Jesus die Herrschaft des Satans. Angesichts des hereinbrechenden und in der Wundertätigkeit Jesu offenbar werdenden Gottesreiches199 werden Menschen nun von den sie unterjochenden Mächten des Satans befreit und wieder ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung zugeführt (vgl. Q 7,22f). Speziell die Exorzismen zielen auf die Wiederherstellung eines schöpfungsgemäßen Zustandes, sie sind Zeichen und Protest gegen die Unterjochung des Menschen durch das Böse (vgl. Lk 13,16: „Diese Tochter Abrahams aber, die der Satan seit 18 Jahren in seinen Banden hält, sollte am Sabbat nicht von ihrer Fessel befreit werden dürfen?“)200. Die Erzählung von der Rückkehr eines unreinen Geistes (Q 11,24–26) zeigt, wie sehr Jesus innerhalb geläufiger exorzistischer Anschauungen lebte. Im Exorzismus ereignet sich ein Kampfgeschehen. Jesus überwindet mit gebräuchlichen Techniken (Bedrohung des Dämons, Namenserfragung, Ausfahrwort, Rückkehrverbot) vor allem Krankheitsgeister und befreit u.a. von Epilepsie (Mk 1,23–28; 9,14–29) und Manie (Mk 5,1–20)201.

Auf die enge Verbindung zwischen Exorzismen und Heilungen/Therapien verweist Lk 13,32b: „Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen“. In den Therapien findet kein Kampf statt, sondern im Mittelpunkt steht die Übertragung heilender Kraft auf den Kranken202. Krankheit erscheint hier als ein Mangel an Lebenskraft, als Schwäche bis hin zur Todesnähe, der mit einer positiven Gegenkraft begegnet wird. Die Übertragung dieser Gegenkraft kann in verschiedener Weise stattfinden: In Mk 5,25–34 (Heilung einer blutflüssigen Frau) wird die heilende Kraft ohne Wissen Jesu aktiviert. In Mk 1,29–31 (Heilung der Schwiegermutter des Petrus) hat eine Berührung heilende Wirkung und beim Aussätzigen (Mk 1,40–45) vollbringen eine Berührung und ein wunderwirkendes Wort die Heilung. Heilpraktiken (z.B.Speichel, wunderwirkendes Wort) werden in Mk 7,31–37 (Heilung eines Taubstummen) und Mk 8,22–26 (Blindenheilung) geschildert. Bei der Heilung des blinden Barthimäus (Mk 10,46–52) steht das Glaubensmotiv im Mittelpunkt. Fernheilungen werden in Mk 7,24–30 (Syrophönizierin) und in Mt 8,5–10.13 (Hauptmann v. Kapernaum) geschildert; beide Überlieferungen dürften als ältesten Kern die Erinnerung an die Heilung eines heidnischen Kindes durch Jesus bewahrt haben. Nicht nur die Erzähl-, sondern auch die Wortüberlieferung bezeugt Jesu Wirken als Heiler. Der Lobpreis der Augenzeugen in Q 7,22f setzt es voraus: „Blinde sehen wieder, und Gelähmte gehen umher, Aussätzige werden rein, und Taube hören. Tote werden auferweckt, und Armen wird die Frohbotschaft verkündigt. Und selig ist, wer an mir nicht Anstoß nimmt.“ Eine beachtliche Parallele besitzt dieser Text in 4Q 521, wo ebenfalls die göttlichen Taten des Gesalbten zur Errichtung des Endheils aufgezählt werden203: Die Befreiung der Gefangenen, die Aufhebung von Blindheit und die Aufrichtung der Niedergedrückten (vgl. Jes 42,7); weiter heißt es: „Gott wird die Kranken heilen, die Toten auferwecken und den Elenden frohe Botschaft verkündigen.“ Auch Q 10,23f („Selig die Augen, die sehen, was ihr seht … Denn ich sage euch: Viele Propheten und Könige wünschten zu sehen, was ihr seht, und sahen es nicht, und hören, was ihr hört, und hörten es nicht“) zeigt, dass die Gegenwart von Jesus als die Zeit der Heilswende angesehen wurde.

Normenwunder begegnen in der Jesusüberlieferung im Zusammenhang der Sünden- und Sabbatproblematik und haben die Funktion204, eine neue Praxis zu begründen. In Mk 2,23–28; 3,1–6 nimmt Jesus den jüdischen Grundsatz auf, dass Notlagen die Suspendierung der Sabbatgebote erlauben, weitet ihn aber zugleich aus; in Mk 2,1–12 beansprucht er die nur Gott zustehende Vollmacht, Sünden zu vergeben. Alle drei Texte sind in ihrer vorliegenden Gestalt nachösterlich redigiert, die Kernlogien gehen aber auf Jesus zurück (Mk 2, 10f.27; 3,4f) und auch die Situierung in Konflikten mit den Pharisäern und Schriftgelehrten dürfte historisch zutreffend sein.

Während die Exorzismen, Heilungen und Normenwunder sehr wahrscheinlich im Wirken Jesu verankert sind, stellen sich bei den sog. Naturwundern (Geschenkwunder: Mk 6,30–44par; 8,1–10par; Rettungswunder: Mk 4,35–41; Epiphanien: Mk 6,45–52par) zahlreiche überlieferungsgeschichtliche Fragen205. Bei den Speisungserzählungen sprechen der Bezug auf 2Kön 2,42–44, die eucharistischen Anklänge, die Doppeltraditionen und die Steigerung des Wunderhaften deutlich für nachösterlichen Ursprung. Die zahlreichen religionsgeschichtlichen Parallelen, die atl. Anklänge und die starken christologischen Motive lassen auch den Seewandel und die Sturmstillung als nachösterliche Bildungen erscheinen. Totenauferweckungen durch Jesus (vgl. Mk 5,22–24.35–43; Lk 7,11–17) werden einerseits von der frühen Tradition vorausgesetzt (vgl. Q 7,22f), andererseits dürften sie dennoch nachösterliche Bildungen sein, denn sie variieren Jesu Auferstehung.

3.6.3Jesus von Nazareth als Heiler

Eine Wundertätigkeit Jesu im Sinn von wunderbaren Heilungen und Exorzismen ist historisch nicht bestreitbar, denn sie ist in fünf voneinander unabhängigen Überlieferungsströmungen bezeugt (Mk, Q, mt und lk Sondergut; Joh)206. Ihre theologische Interpretation muss drei Besonderheiten beachten: 1) Die Verbindung von Wunder und Eschatologie bei Jesus (vgl. Q 11,20) ist religionsgeschichtlich einzigartig, d.h. die Exorzismen und Heilungen sind eingebettet in eine eschatologisch-theozentrische Gesamtsicht. Mit der grundsätzlichen Entmachtung des Satans (vgl. Mk 3,27; Lk 10,18) gewinnt das Reich Gottes Raum. Die Heilungen sind die Eröffnung der neuen Wirklichkeit Gottes. 2) Auch die Betonung des Glaubensmotivs in der ntl. Wunderüberlieferung ist singulär, es erscheint in der Wort- (Mk 11,22f) und Erzählüberlieferung (Mk 9,23f; 10,52a). Das unbedingte Vertrauen des Kranken zu Jesus und zu sich selbst gehören zusammen und entwickeln ungeahnte Kräfte. 3) Nicht nur die eschatologische Perspektive, sondern auch die schöpfungstheologische Dimension der Exorzismen und Heilungen verdeutlichen, dass die Wundertaten in den Gesamtzusammenhang des Wirkens Jesu gehören. Die Vergegenwärtigung der Gottesherrschaft vollzieht sich in Gleichnissen, der Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern, in der Ethik und Gesetzesauslegung Jesu und in seinen Exorzismen und Heilungen. Gerade sie haben eine schöpfungstheologische Dimension; sie zielen auf die Wiederherstellung eines schöpfungsgemäßen Zustandes, sie sind Zeichen und Protest gegen die Unterjochung des Menschen durch das Böse. In Jesu Heiltätigkeit zeigt sich ein ganzheitliches Menschenbild, denn der Mensch wird gleichermaßen als geistiges, seelisches, körperliches und soziales Wesen gesehen. Krankheiten hatten in der Antike in der Regel eine soziale Ausgrenzung zur Folge207, so dass Jesu Heilungen auch eine Reintegration in die Gemeinschaft gewähren. All dies unterscheidet Jesus von Nazareth von Magiern, denn seine Heilungen setzen eine personale Verbindung voraus, kommen mit minimalen Praktiken aus und zielen auf soziale Stabilität und Vertrauen/Glauben208. Für seine Heilungen nahm Jesus im Gegensatz zu anderen kein Geld (vgl. Mk 5,26) und unterschied nicht zwischen Arm und Reich (vgl. Q 7,3.8). Zudem lehnte er Demonstrationswunder ab (vgl. Mk 8,11fpar) und vollbrachte keine Strafwunder209.

Die Einsicht in den konstruktiven Charakter und damit auch die Relativität und den ständigen Wandel neuzeitlicher Weltbilder öffnen den Blick neu für Gottes schöpferisches Handeln in all seinen Dimensionen. Die Fixierung und Reduzierung auf die Frage nach der Faktizität von ‚Wundern‘ versperrte lange Zeit den Blick für die Mehrdimensionalität des heilenden Wirkens Jesu. Es ist vollständig eingebunden in sein gesamtes Wirken in Wort und Tat und macht Gottes heilendes Kommen in seinem Reich augenfällig und an Leib und Seele erfahrbar.

3.7Das nahe Gericht: Nichts ist folgenlos

E.BRANDENBURGER, Art. Gericht III, TRE 12 (1984), 469f; M.REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, NTA 23, Münster 1990; J.BECKER, Jesus von Nazaret (s.o. 3), 58–99; H.-J.KLAUCK (Hg.), Weltgericht und Weltvollendung, QD 150, Freiburg 1994; W.ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu, BZNW 82, Berlin 1996; N.T. WRIGHT, Jesus (s.o. 3), 320–368; CHR.RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu, EHS 23.653, Frankfurt 1999; M.WOLTER, „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer, in: J.Schröter/R.Brucker (Hg.), Der historische Jesus, BZNW 114, Berlin 2002, 355–392.

Gottes endzeitliches Handeln vollzieht sich nach dem Zeugnis des Alten Testaments als richtendes Handeln zum Heil oder Unheil210. Die Gerichtsvorstellung gehörte zu den weltanschaulichen Grundbeständen des Alten Testaments/der Schriften des antiken Judentums211 und Johannes d. T. stellte den Unheilsaspekt in das Zentrum seiner uns überlieferten Botschaft (s.o. 3.2.1). So verwundert es nicht, dass sich unter den Jesus-Traditionen auch die Vorstellung findet, Gott wirke zum Unheil.

Theologisch ist die Gerichtsvorstellung mit einer starken Betonung des Unheils ambivalent. Sie entspringt häufig den Allmachtsphantasien jener Gruppen, die sie als Ausgleich ihrer gegenwärtigen Erfolglosigkeit, Unfähigkeit oder Unterdrückung bildeten: Gott soll durch sein Unheilsgericht in der Zukunft die Gerechtigkeit wiederherstellen. Ein solcher Wunsch mag verständlich sein, eine Begründung für die erbetene Vernichtung von Leben durch Gott ist er nicht. Allerdings geht die Gerichtsvorstellung in einer solchen eher negativen Bestimmung nicht auf (s.u. 6.8.3). Positiv bringt sie zum Ausdruck, dass sich Gott nicht gleichgültig zum Leben eines Menschen und zur Geschichte insgesamt verhält. Würde das endzeitliche Handeln Gottes als Retten/Verurteilen durch Richten entfallen, dann blieben die Taten eines Menschen unbeurteilt und mehrdeutig. Das Unrecht würde über das Recht triumphieren, das Böse bzw. Negative würde das letzte Wort behalten. Gerade als Schöpfer zeigt sich Gott in seinem richtenden Handeln für seine Schöpfung verantwortlich.

3.7.1Jesus als Repräsentant des Gerichts Gottes

Wie der Täufer nimmt auch Jesus von Nazareth die geläufige Opposition ‚Israel – Heiden‘ nicht auf, sondern sieht ganz Israel vom Unheil bedroht.

Das Unheil über Israel

Jesu Heilsbotschaft richtet sich an ein Israel, das seine göttlichen Bundeszusagen verbraucht hat und dessen Erwählung zur Anklage wird. Das bezeugt das Doppelwort von den getöteten Galiläern und erschlagenen Jerusalemern (Lk 13,1–5): „… Meint ihr (etwa), sie seien vor allen Galiläern Sünder gewesen? Nein, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt, dann werdet ihr alle in gleicher Weise umkommen! Oder jene achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und sie tötete, meint ihr (etwa), sie seien vor allen Bewohnern Jerusalems Sünder gewesen? Nein, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt, dann werdet ihr alle in gleicher Weise umkommen!“ Jesus entschränkt bewusst zwei Einzelereignisse aus einem isolierten Tun-Ergehen-Zusammenhang und stellt die Ereignisse in einen theologischen Horizont. Die Geschehnisse werden so zu einem Menetekel für ganz Israel, über das ebenso unerwartet und schrecklich das Unheil kommen wird, wenn es nicht umkehrt. Umkehr bedeutet für Jesus Zuwendung zu seiner Botschaft, Umkehr ist Hinwendung zu ihm.

Dieser besondere Anspruch wird auch in Q 11,31f sichtbar212: „Die Königin des Südens wird beim Gericht zusammen mit dieser Generation auferweckt werden, und sie wird sie verurteilen … Die Männer von Ninive werden beim Gericht zusammen mit dieser Generation auferstehen, und sie werden sie verurteilen …“ Jesus weist ‚diesem Geschlecht‘, d.h. ganz Israel als einheitlichem Gegenüber einen Schuldspruch im Gericht zu, es sei denn, sie kehren um und nehmen seine Botschaft an. Die Weherufe über die galiläischen Städte213 in Q 10,13–15 zeigen eine deutliche Verwandtschaft mit dem Königin des Südens/Ninive-Wort und sind nicht minder provokativ: „Wehe dir, Chorazim! Wehe dir, Betsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Machttaten geschehen wären, die bei euch geschehen sind, längst wären sie in Sack und Asche umgekehrt. Doch Tyrus und Sidon wird es erträglicher gehen im Gericht als euch. Und du, Kapernaum, wirst du etwa zum Himmel erhöht werden? Zum Totenreich wirst du hinabstürzen.“ Den heidnischen Städten Sidon und Tyrus galten zahlreiche atl. Gerichtsworte (vgl. Jes 23,1–4.12; Jer 25,22; 47,4; Ez 27,8; 28,21f; Joel 4,4); Jesus knüpft daran an und verfremdet geläufige Vorstellungen: Das Unheil wendet sich nicht gegen die Heiden, sondern gegen Israel. Kriterium ist das Verhalten gegenüber Jesu Wundertaten, die das Hereinbrechen des Reiches Gottes und damit auch Jesu Anspruch bezeugen. Über Kapernaum als Hauptort des Wirkens Jesu ist unter diesen Aspekten das Urteil bereits gefällt. Ähnlich drohenden Charakter haben das Völkerwallfahrtslogion Q 13,29.28 und die Parabel vom großen Gastmahl Lk 14,15–24/Mt 22,1–10 (s.o. 3.4.5), in denen ebenfalls die geläufige Vorrangsstellung Israels verworfen wird. Schließlich macht die endzeitliche Richterfunktion der Zwölf in Q 22,28.30 deutlich, dass die Stellung zu Jesus über das Ergehen im Gericht entscheidet.

Das Unheil über den Einzelnen

Der zweite große Bereich der Unheilsaussagen Jesu betrifft den einzelnen Menschen. Er steht im Hintergrund von Mt 7,1f („Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet …“), denn das kommende Gericht durch Gott ist die Motivation für das geforderte Verhalten. Eine große Schärfe gewinnt das Gerichtsmotiv in Q 17,34f: „Ich sage euch, zwei Männer werden auf dem Acker sein; einer wird mitgenommen und einer wird zurückgelassen. Zwei Frauen werden an einer Mühle mahlen, eine wird mitgenommen und eine wird zurückgelassen.“ Jesu Aussagen sind apodiktisch und provozierend, das Unheilsgericht ist unberechenbar, jeden kann es treffen und es gibt keine Begründung für den doppelten Gerichtsausgang: Die einen werden gerettet, die anderen verworfen. Die überraschende Gefährlichkeit des Unheils ist auch Thema der Parabel vom reichen Kornbauern (Lk 12,16–20)214. Der Bauer handelt aus seiner Perspektive vernünftig („Ich werde meine Scheunen abreißen und größere bauen und dort all mein Getreide und meine Früchte sammeln. Dann will ich zu meiner Seele sagen: Seele, du hast viele Güter lagern auf viele Jahre. Ruhe dich aus, iss, trink, sei fröhlich!“), jedoch vergisst er bei seinen Selbstreflexionen Gott! Gott fordert im Schlusswort („Du Narr, diese Nacht wird man dein Leben von dir fordern! Was du jedoch bereitet hast, wem wird es gehören?“) genau diese Relation ein – zum Gericht des Mannes; Gottvergessenheit führt zum Lebensverlust.

In völlig anderer Weise wird das Unheilsgericht in der Parabel vom klugen Verwalter in Lk 16,1–8a zum Thema215. Die Erzählung weist Elemente eines Kriminalfalles und einer Komödie auf, der Erzähler verleitet die Hörer dazu, dem Schicksal des Verwalters und seinem energisch sich selbst rettenden Handeln zu folgen. In einer lebensbedrohlichen Situation unternimmt der Verwalter alles, um sich die Zukunft zu erhalten. Sein rechtlich unmoralisches Verhalten wird nicht bewertet. Vielmehr kommt für den Menschen alles auf die Erkenntnis an, dass angesichts der Botschaft Jesu und ihrer Folgen ein entschlossenes, schnelles und kluges Handeln gefordert ist, um ebenso wie der Verwalter sein Leben vor dem Abgrund zu retten.

Wie sehr es auf das Handeln des Menschen angesichts des nahenden Unheils ankommt, illustriert die Doppelparabel vom Hausbau in Q 6,47–49216. Wie der Hausbauer durch vorhersehende Planung eine Katastrophe verhindert, so kann man dem drohenden Unheil durch Klugheit entgehen, nämlich durch das Tun der Worte Jesu. Die Zeichen der Zeit zu erkennen wird auch in Q 17,26–28 gefordert. Jesus erinnert seine Zeitgenossen daran, wie das Geschlecht z. Zt. des Noah und wie die Zeitgenossen des Lot in Sodom und Gomorrha ganz plötzlich mit dem göttlichen Unheilsgericht bestraft wurden. Die Unausweichlichkeit und die Unerbittlichkeit des Unheils stehen hier im Mittelpunkt, denn Noahs und Lots Rettung werden nicht beschrieben. Auffallend ist, dass vom unmoralischen Verhalten des Sintflutgeschlechts und der Bewohner von Sodom und Gomorrha nichts erwähnt wird. Israels Verlorenheit misst sich nicht an moralischen Werten, sondern an seinem Verhalten gegenüber Jesus. Dies steht auch im Gleichnis von den spielenden Kindern Q 7,31–34 im Mittelpunkt217: Die Ablehnung des Täufers und Jesu durch Israel wird unter Aufnahme volkstümlicher Motive218 in unaufdringlicher Schärfe herausgestellt. Die Pointe des Bildes (V. 32b: „Wir spielten euch mit der Flöte auf, und ihr habt nicht getanzt, wir stimmten Klagelieder an, und ihr habt nicht geweint“) besteht darin, dass die Angeredeten keinerlei Anstalten machten, auf die Aufforderungen und Angebote des Täufers und Jesu einzugehen. Sie greifen zu Vorwänden (V. 33f: „Denn Johannes kam, er aß und trank nicht, und ihr sagt: Er hat einen Dämon. Der Menschensohn kam, er aß und trank, und ihr sagt: Siehe, dieser Mensch, ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“), um sich nicht der neuen Situation stellen zu müssen. Die Ablehnung des Menschensohnes führt unausweichlich zum Unheilsgericht.

Jesus als Repräsentant des Gerichtes Gottes

Alle bisherigen Texte haben deutlich gezeigt, dass Jesus das Verhalten gegenüber seiner Person und seiner Botschaft zum Kriterium im kommenden Gerichtsgeschehen erhob: Wer seine Botschaft annimmt, empfängt im Gericht das Heil; wer sie ablehnt, verfällt dem Unheil219. Nachdrücklich artikuliert sich dieser Anspruch in Q 12,8f: „Jeder, der sich zu mir vor den Menschen bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn vor den Engeln bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, wird vor den Engeln verleugnet werden.“220 Innerhalb einer Gerichtsverhandlung ist es allein der Menschensohn, der als letzte Instanz belohnt oder bestraft, d.h. Jesus (s.u. 3.9.2) fungiert hier (wie in anderen Texten) keineswegs nur als Zeuge, sondern als Richter. In Jesu Unheilsbotschaft liegt eine unübersehbare personale Zuspitzung vor; das Unheil erfolgt dort, wo Jesus abgelehnt wird. Jesus nimmt für sich nicht nur in Anspruch, das Gericht Gottes anzukündigen oder durchzuführen, sondern er selbst ist das Gericht; an seiner Person entscheiden sich Heil und Unheil221. Jesus ignoriert die Sonderstellung Israels unter den Völkern, greift die Heils- und Erwählungsgewissheit scharf an und bindet die vorausgesetzte Schuld an die Haltung gegenüber seiner Person; Umkehr ist Hinwendung zu Jesus. Die Unheilsbotschaft erweist sich damit als ein grundlegender Bestandteil des gesamten Wirkens Jesu222. Sie lässt sich nicht weltanschaulich eliminieren223, denn die Funktion der Unheilsansagen besteht darin, die Zeichen der Zeit zu erkennen, wachzurütteln und zur Entscheidung zu drängen: Das von Jesus repräsentierte Kommen des einen Gottes in seinem Reich kann nicht folgenlos bleiben, deshalb ist das Unheil die notwendige Negativseite seiner Heilsverkündigung. Wer den Heilscharakter der Basileia-Botschaft betont, darf den Unheilscharakter ihrer Ablehnung nicht verschweigen.

3.8Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten

K.BERGER, Die Gesetzesauslegung Jesu, WMANT 40, Neukirchen 1972; H.HÜBNER, Das Gesetz in der synoptischen Tradition, Göttingen 21986; M.HENGEL, Jesus und die Tora, ThBeitr 9 (1978), 152–172; U.LUZ, Jesus und die Tora, EvErz 34 (1982), 111–124; P.FIEDLER, Die Tora bei Jesus und in der Jesusüberlieferung, in: K.Kertelge (Hg.), Das Gesetz im Neuen Testament, QD 108, Freiburg 1986, 71–87; I.BROER (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Stuttgart 1992; D.KOSCH, Die eschatologische Tora des Menschensohnes, NTOA 12, Fribourg/Göttingen 1989; J.BECKER, Jesus von Nazareth (s.o. 3), 337–387; I.BROER, Jesus und die Tora, in: L.SCHENKE (Hg.), Jesus von Nazareth – Spuren und Konturen (s.o. 3), 216–254; J. P. MEIER, A Marginal Jew IV (s.o. 3), 26–477.

Das Verhältnis Jesu zur Tora gehört nicht zufällig zu den umstrittensten Themen ntl. Theologie. Hier verbinden sich exegetische Einschätzungen mit politischen, kulturellen und religiösen Einstellungen (persönliches Verhältnis zum Judentum, Geschichte des Judentums im 20.Jh., christlich-jüdisches Gespräch) und führen zu hochemotionalen Positionen. Während in der älteren Exegese das Bedürfnis vorherrschte, Jesus dem Judentum gegenüberzustellen oder ihn zumindest innerhalb des Judentums herauszustellen224, dominiert in der neueren Exegese der Wunsch, Jesus möglichst nahtlos in die Vielgestaltigkeit des Judentums einzupassen225. Beide Strategien sind tendenziös, denn sie halten nicht die Spannung aus, Jesus innerhalb des Judentums zu interpretieren und zugleich aufzuzeigen, wie es zu den Konflikten Jesu mit jüdischen Gruppen/Autoritäten und zu seiner Wirkungsgeschichte innerhalb des sich formierenden frühen Christentums kam.

3.8.1Gesetzestheologien im antiken Judentum

Die überragende Stellung der Tora innerhalb des antiken Judentums steht außer Frage226. Allerdings gab es immer differente Auslegungen der Tora und damit auch verschiedene Gesetzestheologien227. Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang die Herausbildung der Pharisäer, Sadduzäer und Essener im weiteren Kontext der makkabäischen Erhebung (vgl. 1Makk 2,15–28)228. Josephus sieht im Traditionsverständnis die Eigenart der Pharisäer229 und zugleich den wichtigsten Unterscheidungspunkt zu den Sadduzäern: „Jetzt möchte ich nur deutlich machen, daß die Pharisäer dem Volk Bestimmungen (νόμιμα) aus der Nachfolge der Väter (ἐϰ πατέρων διαδοχῆς) weitergegeben haben, die nicht in den Gesetzen des Mose aufgeschrieben sind, und deswegen verwerfen sie die Gruppe der Sadduzäer, die sagt, dass man sich nur an jene Bestimmungen halten soll, die geschrieben sind, die aus der Überlieferung der Väter aber nicht beachten soll“ (Ant 13,297). Inhalt der Paradosis dürften in neutestamentlicher Zeit Reinheitsvorschriften (vgl. Mk 7,1–8.14–23; Röm 14,14), Regelungen des Zehnten (vgl. Mt 23,23) und besondere Formen von Gelübden (vgl. Mk 7,9–13) gewesen sein. Nach Jos, Vita 191, standen die Pharisäer hinsichtlich der väterlichen Gesetze in dem Ruf, „sich von den anderen durch genaue Kenntnis zu unterscheiden“ (τῶν ἄλλων ἀϰριβείᾳ διαφέρειν). Sie waren frommer als die anderen „und beachteten die Gesetze gewissenhafter“ (ϰαὶ τοῦς νόμους ἀϰριβέστεραν ἀφηγεῖσϑαι)230. Ziel der pharisäischen Bewegung war die Heiligung des Alltags durch eine umfassende Gesetzesbeobachtung, wobei der Einhaltung der rituellen Reinheitsvorschriften auch außerhalb des Tempels eine besondere Bedeutung zukam. Deshalb wurde die Tora teilweise fortgeschrieben, um den vielfältigen Alltagssituationen gerecht zu werden (vgl. z.B.Arist 139ff; Jos, Ant 4,198; Mk 2,23f; 7,4). Bedeutsam war die Abspaltung einer radikalen Richtung innerhalb der Pharisäer, die sich selbst im Anschluss an Pinhas (Num 25) und Elia (1Kön 19,9f) Zeloten (οἱ ζηλωταί = „die Eiferer“) nannten. Diese Gruppe bildete sich 6 n.Chr. unter Führung des Galiläers Judas von Gamala und des Pharisäers Zadduk (vgl. Jos, Ant 18,3ff). Die Zeloten zeichneten sich durch eine Verschärfung des ersten Dekaloggebotes, strenge Sabbatpraxis und eine rigorose Einhaltung der Reinheitsgebote aus231. Sie strebten eine radikale Theokratie an und lehnten die römische Herrschaft über das jüdische Volk aus religiösen Gründen ab. Über das Toraverständnis der Sadduzäer lassen sich nur vage Aussagen machen; sie lehnten die Sondertraditionen der Pharisäer ebenso ab wie die Auferstehung von den Toten und Engellehren (vgl. Mk 12,18–27; Apg 23,6–8). Die Konzentration auf die schriftliche Tora schloss bei ihnen eine strengere Haltung bei Rechtsfragen als bei den Pharisäern mit ein (vgl. Jos, Ant 18,294; 20,199)232. Die Essener vertraten vor allem nach dem Zeugnis der in Qumran gefundenen Schriften ebenfalls ein sehr strenges Toraverständnis233 und nahmen für sich ein besonderes Wissen um die wahre Auslegung und Bedeutung der Tora in Anspruch: „Aber mit denen, die an den Geboten Gottes festhielten, die von ihnen übrig waren, hat Gott seinen Bund für Israel aufgerichtet für immer, um ihnen verborgene Dinge zu offenbaren, worin ganz Israel in die Irre gegangen war: seine heiligen Sabbate und seine herrlichen Festzeiten, seine gerechten Zeugnisse und die Wege seiner Wahrheit und die Wünsche seines Willens – die der Mensch erfüllen muss, damit er durch sie lebe – hat er ihnen aufgetan“ (CD III 12–16; vgl. VI 3–11). Diese besonderen Einsichten betrafen vor allem Kalender- und Sabbatfragen, hinzu kamen zahlreiche Einzelvorschriften für das Leben in der Gemeinschaft. Zudem lassen gerade die in Qumran aufgefundenen Texte erkennen, dass die Tora und ihre Auslegung keine abgeschlossenen Größen waren234; so gibt z.B. die Tempelrolle Pentateuchtexte nicht nur in sprachlich stilisierter Form und neuer Anordnung wieder, sondern sie enthält auch neue Gebote ohne Anhalt am Pentateuch.

Während die Essener strikt alles Heil an das Dasein im Heiligen Land banden, stellte sich für das hellenistische Judentum in der Diaspora die Situation völlig anders dar. Im Kontext der allgegenwärtigen hellenistischen Kultur musste sich das Judentum öffnen, um seine Identität wahren zu können. Die Tora erfuhr innerhalb dieser Entwicklung gleichzeitig eine Universalisierung und Ethisierung, indem sie zur Schöpferweisheit und Lebensordnung wurde235. Der Mensch entspricht der Tora als dem universalen Sittengesetz, weil seine Befolgung zu einem Leben in Vernunft, Harmonie und Frieden mit Gott, den Menschen und sich selbst führt. So wird die Tora in ihrer Konzentration auf wenige Gebote zu einer Form der Tugendlehre, die in hellenistischer Begrifflichkeit zum Ausdruck gebracht werden kann. Bedeutsam ist das Gesetzesverständnis Philos, bei dem die Sinai-Tora, die Schöpfungstora und das Naturgesetz zu einer Einheit verschmelzen236. Auf den atl. Schöpfergott gehen nach Philo sowohl die φύσις als Weltprinzip als auch die Tora zurück, so dass beide zusammengedacht werden müssen. Weil Weltschöpfung und Gesetzgebung „im Anfang“ zusammenfallen, ist das Naturgesetz ebenso göttlichen Ursprungs wie die Tora: „Dieser Anfang ist höchst bewunderungswürdig, da er die Weltschöpfung schildert, um gleichsam anzudeuten, dass sowohl die Welt mit dem Gesetz als auch das Gesetz mit der Welt in Einklang steht und dass der gesetzestreue Mann ohne weiteres ein Weltbürger ist, da er seine Handlungsweise nach dem Willen der Natur regelt, nach dem auch die ganze Welt gelenkt wird“ (Op 3). Die schriftliche Sinaitora ist ihrem Wesen nach viel älter, denn sowohl Mose als das ‚lebende Gesetz‘237 als auch die Vorstellung von νόμος ἄγραφος („ungeschriebenes Gesetz“; vgl. Abr 3–6) erlauben es Philo, über den Gedanken einer protologischen Schöpfungstora die zeitliche und damit auch sachliche Kontinuität des Handelns Gottes zu betonen. Durchgängig interpretiert Philo die Einzelgesetze als Ausformungen der Zehn Gebote, die wiederum mit dem Naturgesetz verwoben sind. Über den Gedanken der Sittlichkeit vollzieht Philo durch die Ethisierung des Naturgesetzes und der Einzelgesetze der Tora einen großen Synthetisierungsversuch von jüdischem und griechisch-hellenistischem Denken.

Ein weiteres Beispiel für die Vielgestaltigkeit jüdischen Gesetzesverständnisses sind die bei Philo erwähnten Allegoristen (Migr 89–93). Sie gaben den Gesetzen einen symbolischen Sinn und vernachlässigen die wortwörtliche Befolgung. Im Rahmen der Kritik an dieser Position erwähnt Philo auch die Beschneidung, die von den Allegoristen offenbar nur noch als symbolischer Akt aufgefasst wurde: „Auch weil die Beschneidung darauf hinweist, dass wir alle Lust und Begierde aus uns ‚herausschneiden‘ sollen und gottlosen Wahn entfernen müssen, als ob der Nus aus sich heraus Eigenes zu zeugen verstände, dürfen wir nicht das über sie gegebene Gesetz aufheben“ (Migr 92)238.

In der jüdischen Apokalyptik fungiert die Tora vor allem als Gottes Gerichtsnorm; ein radikaler Gesetzesgehorsam verbindet sich mit der Hoffnung auf Gottes zukünftiges Heil, das den gegenwärtigen Verhängniszustand ablösen wird239.

Bedeutsam ist schließlich der geographisch/klimatische Raum des Wirkens Jesu, denn Konstruktion von Wirklichkeit vollzieht sich immer in geographischen und sozialen Räumen, die unausweichlich das Denken mitbestimmen240. Jesus trat fast ausschließlich um den See Genezareth241 herum auf, den ein mediterranes Klima auszeichnet und der eine Lebensart ermöglichte, die vor allem im Gegenüber zu den gebirgigen Regionen Israels als leicht und angenehm zu bezeichnen ist. Galiläa war z.Zt. Jesu keineswegs unjüdisch, hatte aber zweifellos ein eigenes kulturelles und religiöses Profil242. Es ist kaum vorstellbar, dass Jesus die (im Neuen Testament nicht erwähnten) hellenistisch geprägten Städte Sepphoris243 und Tiberias nicht kannte, zumal städtisches Milieu in Q 12,58f vorausgesetzt ist (vgl. auch Mt 6,2.5.16; Mk 7,6; Lk 13,15; Lk 19,11ff)244. Das Zusammentreffen und Zusammenleben mit Nichtjuden gehörte in Galiläa sicherlich zum Alltag, und anders als in Jerusalem dürften die Probleme der rituellen Reinheit großzügiger gehandhabt worden sein. Zudem fehlten mit der geringen Präsenz von Pharisäern die motivierenden Kontrollinstanzen. Wenn Jesus den Hauptmann von Kapernaum als Glaubensvorbild für Israel hinstellt (Mt 8,10b/Lk 7,9b), dann illustriert er dadurch seine über den bloßen Kontakt hinausgehende positive theologische Bewertung einzelner Heiden. Jesu Offenheit gegenüber Nichtjuden und seine Distanz gegenüber einer diskriminierenden Torapraxis dürfte auch mit seinem galiläischen Wirkraum zusammenhängen.

3.8.2Jesu Stellung zur Tora

Wie zeichnet sich Jesus von Nazareth in diese Vielgestaltigkeit jüdischer Gesetzestheologie ein? Ein zentraler Text zur Beantwortung dieser Fragen sind die Antithesen der Bergpredigt (s.o. 3.5.2). Die antithetischen Formulierungen sind innerhalb des antiken Judentums in dieser Form neu, es gibt dafür keine exakten Parallelen245. Das entscheidende theologische Problem ist, wer/was mit dieser Redeform in welchem Sinn interpretiert/kritisiert wird. Die Passivform ἐρρέϑη („es wurde gesagt“) dürfte sich auf das Sprechen Gottes in der Schrift beziehen, die „Antithesenformeln stellen also das Wort Jesu der Bibel selbst gegenüber.“246 Damit befindet sich Jesus selbst innerhalb der unabgeschlossenen Torainterpretation des Judentums, zumal die Antithesen mit Ausnahme des absoluten Gebotes der Feindesliebe nichts formulieren, was nicht auch (mehr oder weniger) Parallelen im Judentum hat247. Entscheidend ist aber der mit dem emphatischen „ich aber sage euch“ verbundene Anspruch: Jesus leitet seine Autorität nicht aus der Schrift ab, sondern sie liegt in dem, was er sagt. „Die Bibel wird durch die Antithesen nicht ausgelegt, sondern weitergeführt und überboten.“248 Verständlich wird dieser Anspruch nur auf dem Hintergrund von Jesu Gottesreichbotschaft: Mit dem Anbruch des Gottesreiches setzt sich eine neue Realität durch. Im Anbruch des Gottesreiches wird der Wille Gottes nochmals neu, endgültig, radikal proklamiert249. Jesus formuliert ihn aus eigener Vollmacht; er leitet ihn nicht aus dem Alten Testament ab, sondern der von Jesus im Anbruch des Gottesreiches proklamierte Gotteswille ist die letzte Autorität. Jesus hebt damit nicht die Tora auf, er denkt und argumentiert aber auch nicht von der Tora her, was einer faktischen Relativierung der Tora entspricht.

Rein und unrein

Ähnliches lässt sich für Jesus in seiner Haltung zu rituellen Fragen feststellen. Schon das Jesuswort „ich bin nicht gekommen, die Gerechten zu berufen, sondern die Sünder“ (Mk 2,17) zeigt, dass Jesus die Gerechtigkeit, und damit den Anspruch des Gesetzes, zwar nicht bestreitet, aber dem Gesetz nicht die Macht zuschreibt, gegenwärtig den Zugang zu Gott zu bestimmen. Gerechtigkeit bleibt Gerechtigkeit, aber Gott liebt nicht nur die Gerechten. Gottes Liebe, die Jesus in der Ankunft des Gottesreiches verkündigt, überbietet die früher Israel geschenkte Liebe in Gestalt der Tora. Eine Berührung mit einem Aussätzigen, die in Mk 1,41 beiläufig berichtet wird, verunreinigt in höchstem Maße. Ähnliches gilt für die Heilung der Blutflüssigen (Mk 5,25–34) oder der Begegnung mit der Syrophönizierin (Mk 7,24–30). Jesus hatte im Umgang mit Menschen keinerlei ritualgesetzliche Hemmungen. Mindestens tendenziell zielt die schrankenlose Liebe Gottes zu allen Menschen, insbesondere auch den religiös Deklassierten, darauf hin, dass religionsgesetzliche Ordnungen, die in Israel im Namen Gottes galten, obsolet wurden.

Auch Mk 7,15 ist in diesem Kontext zu verstehen; hier verbinden sich die für Jesus charakteristische schöpfungstheologische Argumentation mit seiner eschatologischen Grundperspektive. Von Beginn der Schöpfung an bestand die Fundamentalunterscheidung ‚rein – unrein‘ nicht, sondern erst in Gen 7,2 erfolgt unvermittelt die Trennung von reinen und unreinen Tieren. Die Reinheitsvorschriften als Legitimation religiöser Ab- und Ausgrenzung haben für Jesus ihre Bedeutung verloren, weil für ihn die Unreinheit aus einer anderen Quelle kommt: „Nichts, was von außerhalb des Menschen in ihn hineinkommt, kann ihn verunreinigen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das verunreinigt den Menschen“ (Mk 7,15). Für die Authentizität250 von Mk 7,15 sprechen die Form des antithetischen Parallelismus, die Möglichkeit der Rückübersetzung, die isolierte Stellung im unmittelbaren Kontext, die Varianten in Mk 7,18b.20, die Aufnahme von Mk 7,15 in Röm 14,14 als Herrenwort und schließlich die unableitbare Neuheit251. Ist schon die konkrete Stoßrichtung dieses Wortes nicht mehr sicher auszumachen, so sind sein Sinn und seine Bedeutung heftig umstritten. Der ursprüngliche Sinn von Mk 7,15 dürfte im Gegensatz zum markinischen Verständnis kaum auf den rituellen Bereich einzuschränken sein, denn τὰ ἐϰ τοῦ ἀνϑρώπου ἐϰπορευόμενα („was aus dem Menschen herauskommt“) in V. 15b lässt eine derartige Engführung schwerlich zu. Damit können nicht nur rituell verunreinigende Speisen gemeint sein, sondern Jesus umschreibt mit diesen Worten, dass alles aus dem Menschen Kommende, Gedanken wie Taten, ihn vor Gott unrein machen kann252. Jesus lässt den Gedanken der Unreinheit vor Gott formal zwar nicht fallen, aber er verneint, dass eine solche Unreinheit in irgendeiner Form von außen auf den Menschen zukommen kann. Dies bedeutet eine faktische Relativierung der Reinheitsgesetze Lev 11–15. Jesus stellt sich damit auch in einen Gegensatz zu den Pharisäern, Sadduzäern und Qumran-Essenern, für die kultisch-rituelle Normen trotz einer z. T. unterschiedlichen Praxis von essentieller Bedeutung waren, denn sie fungierten nicht nur als sichtbares Unterscheidungsmerkmal zu den Heiden und den religiös Gleichgültigen des eigenen Volkes, sondern waren Ausdruck ihres Toragehorsams und der immerwährenden Gültigkeit des durch Mose überlieferten Gotteswortes253. Mk 7,15 ist also in einem exklusiven Sinn zu verstehen254 und hat eine die Tora faktisch relativierende Bedeutung, keinesfalls handelt es sich nur um eine Vorordnung des Liebesgebotes gegenüber den Reinheitsvorschriften255. Bereits Paulus verstand dieses Jesuswort in einem torakritischen Sinn (Röm 14,14)256, und auch bei Jesus selbst finden sich Parallelen. Neben seinem Umgang mit kultisch Unreinen, seiner Pharisäerkritik (vgl. Lk 11,39–41; Mt 23,25) und den Sabbatheilungen ist hier vor allem Q 10,7 zu nennen, wo Jesus seinen Jüngern in der Aussendungsrede aufträgt, alles zu essen und zu trinken, was man ihnen vorsetzt. So wie angesichts des kommenden Reiches Gottes die Gegenwart keine Zeit des Fastens ist (vgl. Mk 2,18b.19a; Mt 11,18f/Lk 7,33f), so haben auch die Speisegesetze ihre Bedeutung für das Verhältnis des Menschen zu Gott und der Menschen untereinander verloren. Die vom Schöpfer gewollte Reinheit des Menschen lässt sich nicht instrumentalisieren, vielmehr betrifft sie die ganze Existenz des Menschen. Die Geschöpflichkeit des Menschen kommt nicht in der religiösen bzw. sozialen Separation zum Ziel, sondern in der wahrhaftigen Annahme des vom Schöpfer geschenkten Lebens.

Der Sabbat

In dieselbe Richtung weisen die Sabbatheilungen, die ebenfalls auf eine Wiederherstellung der Schöpfungsordnung zielen; so das Jesuswort Mk 2,27, wonach der Sabbat um des Menschen willen, nicht aber der Mensch um des Sabbats willen geschaffen wurde257. In Mk 2,27 verweist insbesondere ἐγένετο („es ist geschaffen“) auf den Schöpferwillen Gottes zurück. Die Sabbatheiligung dient dem Menschen, indem sie ihn von der Geschäftigkeit des Alltags und damit auch von sich selbst wegreißt, um Zeit für die alles entscheidende Gottesbeziehung zu schaffen. Bereits in der priesterlichen Schöpfungsgeschichte erscheint der 7. Tag als von Gott qualifizierte Zeit, die dem Menschen hilft, sich in Zeit und Geschichte zu orientieren (Gen 2,2f). Diese dienende Funktion des Sabbats ging in der Geschichte des nachexilischen Judentums teilweise verloren258. Zwar wurde der Sabbat zum Zentrum des Toraverständnisses, zugleich aber verschob sich die Qualifizierung der Zeit zu einem statischen Gegenüber von Sabbat und Mensch. In einigen Bereichen der Sabbathalacha musste sich der Mensch dem Sabbat und seinen Anforderungen unterordnen. So heißt es in CD 11,16f innerhalb einer Sabbathalacha: „Einen lebendigen Menschen, der in ein Wasserloch fällt oder sonst in einen Ort, soll niemand heraufholen mit einer Leiter oder einem Strick oder einem (anderen) Gegenstand“ (vgl. ferner Jub 2,25–33; 50,6ff; CD 10,14–12,22; Philo, VitMos II 22). Jesus durchbricht diese Umkehrungen und demonstriert durch seine Sabbatheilungen die ursprüngliche Bedeutung dieses Tages: Er verhilft zum Leben (vgl. Lk 13,10–17) und ermöglicht dem Menschen, seiner eigentlichen Bestimmung nachzukommen: dem Schöpfer zu begegnen. Auch in Mk 3,4 geht es Jesus um den ursprünglichen Gotteswillen in Bezug auf den Sabbat („Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, ein Leben zu retten oder zu töten?“)259. Der Sabbat soll dem Guten dienen, und dies besteht in der Erhaltung und Rettung des Lebens. Gott will dem Menschen in einem umfassenden Sinn Heil schaffen, und dieser radikalen Hinwendung zu den Menschen ist auch der Sabbat unterzuordnen260. Das Gute zu unterlassen, stellt aus der Sicht Jesu keine neutrale Haltung dar, sondern es bedeutet, das Böse zu tun, zu töten. Gottes Ja zum Menschen, seine Sorge um und für ihn, steht über den Geboten. Eine Auslegung der Gebote Gottes, die das nicht berücksichtigt, verfehlt den Sinn der göttlichen Willenskundgebung. Deshalb kann der Sabbat durch das Tun des Guten nicht entweiht werden.

Das Zurücktreten des Verzehntungsgebotes (vgl. Lev 27,30) in Mt 23,23a-c weist in dieselbe Richtung: Der Zehnte war speziell für die galiläische Unter- und Mittelschicht eine schwer zu tragende wirtschaftliche Belastung, so dass Jesus hier eine deutlich andere Position einnimmt als die Pharisäer (vgl. Lk 18,12)261.

Dezentrierung der Tora

Für die Beurteilung der Stellung Jesu zur Tora sind drei Beobachtungen ausschlaggebend: 1) Die Tora und ihre strittigen Auslegungen sind nicht das Zentrum des Wirkens und der Verkündigung Jesu262. Die neue Wirklichkeit des Kommens Gottes in seinem Reich bestimmt auch sein Verhältnis zur Tora (vgl. Q 16,16); im Auftreten Jesu bricht das wahrhaft Neue an (Mk 2,21f: „Niemand flickt einen neuen Lappen auf ein altes Kleid, sonst reißt das Flickstück heraus, das neue vom alten, und der Riss wird schlimmer. Und niemand füllt einen neuen Wein in alte Schläuche; sonst wird der Wein die Schläuche zerreißen, und der Wein kommt um samt den Schläuchen“). 2) Innerhalb der Stellungnahmen Jesu zur Tora und ihrer Auslegung dürfte die Unterscheidung zwischen einer Toraverschärfung im ethischen Bereich und einer Toraentschärfung bei rituellen Fragen zutreffend sein263. 3) Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Jesus die Tora aufheben oder einer grundsätzlichen Kritik unterziehen wollte. Zugleich muss aber noch einmal unterstrichen werden, dass er nicht von der Tora, sondern vom Reich Gottes her denkt. Weil sich Gottes end- und urzeitlicher Wille entsprechen264, verbinden sich bei Jesus Eschatologie und Protologie und führen zu einer Dezentrierung der Tora. Diese Dezentrierung ist nicht einfach mit einer Ablehnung oder Abschaffung gleichzusetzen, aber für Jesus war die Liebe Gottes in seinem Reich und nicht mehr das Geschenk der Tora die offene Tür, durch die jeder zu Gott kommen konnte. Eine solche Interpretation des Gesetzes bei Jesus verbleibt innerhalb des Judentums, erklärt die Konflikte mit anderen jüdischen Gruppen (vgl. Mk 2,1–3,6; 12,13–17; Lk 7,36–50; 8,9–14; Mt 23,23) und lässt verstehen, warum wahrscheinlich schon sehr früh innerhalb des sich formierenden frühen Christentums Gesetzeskritik mit Berufung auf Jesus formuliert wurde.

3.8.3Jesus, Israel und die Heiden

Ein mehrschichtiger Befund zeigt sich auch im Verhältnis Jesu zu Israel und den Heiden. Jesus wusste sich grundsätzlich zu Israel gesandt (vgl. Mk 7,27), er sah sich vom Gott Israels beauftragt, seinem Volk das Gottesreich zu verkünden.

Der Zwölferkreis

Sichtbarer Ausdruck dafür ist die Einsetzung des Zwölferkreises. Für die Historizität des Zwölferkreises spricht vor allem, dass die nachösterliche Gemeinde kaum zu der Aussage gekommen wäre, Judas als ein Mitglied des engsten Jüngerkreises habe Jesus verraten (vgl. Mk 14,10.43par), wenn dies nicht geschichtliche Tatsache wäre265. Der Zwölferkreis wird in der vorpaulinischen Tradition 1Kor 15,5 genannt, wonach Christus „dem Kephas erschien, dann den Zwölfen.“ Die ‚Zwölf‘ sind hier eine feste Institution, obwohl Judas nicht mehr dazugehört und Petrus eigens erwähnt wird. Außerdem hat der Zwölferkreis nachösterlich keine erkennbare geschichtliche Rolle mehr gespielt; viel wichtiger werden die durch eine Erscheinung des Auferstandenen berufenen Apostel; erst in späterer Zeit, bei Markus, Matthäus und Lukas und in der Johannesoffenbarung findet sich die Identifizierung der Zwölf mit den Aposteln. Der Zwölferkreis dürfte in die vorösterliche Zeit zurückreichen und seine Bedeutung erschließt sich vor allem aus Q 22,28.30: „Ihr, die ihr mir gefolgt seid, werdet auf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten.“ Der Zwölferkreis hatte offenbar die Funktion, das Zwölfstämmevolk Israel zu repräsentieren. Wiederum verbinden sich bei Jesus Proto- und Eschatologie, denn das Volk Israel zur Zeit Jesu war nicht das Zwölfstämmevolk, d.h. der Zwölferkreis repräsentierte das ganze Volk Israel in seiner ursprünglichen und zugleich eschatologischen Gestalt. Der Zwölferkreis ist als Vorwegnahme der eschatologischen Ganzheit Israels zu verstehen, gleichsam in Analogie zum Gottesreich, das in Jesus jetzt schon verborgen anfängt. Der Zwölferkreis entspricht somit dem Gegenwartsaspekt des Gottesreichs, er signalisiert bereits den Anfang der von Gott zu schaffenden Ganzheit Israels. In diesem Sinn kann man sagen: Jesu Perspektive war das eschatologische Israel und er verstand seine Sendung als Auftakt zu seiner Neuschöpfung durch Gott.

Israel und die Heiden

Inhaltlich steckt in Jesu Auslegung des Anfangs des Gottesreiches als schrankenloser Liebe Gottes gerade zu den Benachteiligten und Deklassierten auch die Tendenz, die Grenzen Israels auszuweiten. Menschen, die aus jüdischer Perspektive gesehen Randfiguren Israels sind, werden integriert. So wird der Zöllner Zachäus auch als ein Sohn Abrahams bezeichnet (Lk 19,9) und die Samaritaner werden von Jesus mit den Juden gleichgestellt (vgl. Lk 10,30ff)266. Ein Zeichen für Jesu Offenheit sind auch die gelegentlichen positiven Kontakte mit Heiden: Die Überlieferungen vom Hauptmann von Kapernaum und von der syrophönizischen Frau (Mt 8,5–10.13; Mk 7,24–30) haben einen authentischen Kern267 und bezeugen eine punktuelle Offenheit Jesu gegenüber Heiden. Sie zeigt sich auch in der Parabel vom Gastmahl (Lk 14,16–24) und in dem prophetischen Drohwort Q 13,29.28. Die Parabel vom Gastmahl illustriert, dass Gott seinen Heilswillen in unerwarteter Weise vollziehen kann, denn die ursprünglich Geladenen werden nicht am großen Fest teilnehmen. In ähnlicher Weise greift Jesus das Motiv der Völkerwallfahrt268 auf, es dient gerade nicht zur Bestätigung der Verheißungen an Israel, sondern die Reihenfolge kehrt sich um. Das Motiv des endzeitlichen Gottesvolkes wurde im antiken Judentum im Wesentlichen in zweifacher Weise thematisiert: Die Erweiterung des Gottesvolkes konnte für die Endzeit erwartet werden, wenn die Völker nach Jerusalem/zum Zion strömen, um den wahren Gott anzubeten (vgl. äthHen 90; TestXII). Auf der anderen Seite gab es starke Strömungen, die eine strikte Abgrenzung bis hin zur Bekämpfung der Heiden forderten (Qumran, PsSal)269. Auffallend ist nun, dass Jesus das erste Motiv umkehrt und das zweite gar nicht erwähnt. In der jüdischen Überlieferung ist die Opposition Israels gegen die Heiden fest mit dem Gedanken der Gottesherrschaft verbunden, so dass Jesus diese Vorstellung bekannt gewesen sein muss. Anders als z.B. die Zeloten thematisiert er sie aber nicht, denn er sah in der politischen und ökonomischen Notlage seines Volkes, die er nach dem Zeugnis der Seligpreisungen keineswegs übersehen hat, nur die Außenseite eines viel tiefer gehenden Problems. Wie Johannes der Täufer dürfte Jesus von der Prämisse ausgegangen sein, dass Israel, so wie es sich vorfindet, vom Gericht Gottes bedroht ist und von sich aus kein Anrecht mehr besitzt, frühere Heilszusagen Gottes für sich in Anspruch zu nehmen (vgl. Mt 3,7–10; Lk 13,3.5). Jesus nahm diesen Gedanken offensichtlich so ernst, dass er es vermied, mit Hilfe der traditionellen Opposition von Israel und Heiden ein Heilsrecht Israels vorzuschreiben und das eschatologische Heil einfach als Befreiung aus der Knechtschaft der Heiden zu beschreiben. Er legt die Gegenwart des Heils als Besiegung des Satans aus, der als Ankläger Israels und der Heiden erscheint. Die Einzigkeit Gottes erweist sich als Besiegung Satans, in dessen Knechtschaft sich Israel und die Heiden gleichermaßen befinden (vgl. Mk 3,27; Lk 11,20). Unter dieser Prämisse war es für ihn sinnlos, in herkömmlicher Weise von den Heiden als den Opponenten der Gottesherrschaft zu sprechen. Wenn Jesus am Gedanken der Wiederherstellung der politischen Selbständigkeit des Volkes Israel völlig uninteressiert war, dann zeigt sich darin nicht ein Desinteresse an politischen Fragen überhaupt, wohl aber ein bestimmtes Israelverständnis: Die Wiederherstellung der politischen Souveränität des Volkes und des davidischen Königtums als politische und vor allem religiöse Frage entsprach nicht seiner Sicht des endzeitlichen Handelns Gottes. Dem entspricht wiederum, dass Jesus sich für die Rechtsordnung seines Volkes nur wenig interessierte.

In diesem Kontext ist es wiederum bemerkenswert, welche weiteren Themen jüdischen Selbstverständnisses Jesus nicht aufgreift. Er spricht nicht von der Erwählung Israels, beruft sich nie auf das Verdienst der Patriarchen und thematisiert auch nicht die Exodus- und Landtradition. Zumindest gegenüber dem aktuellen Tempelkult in Jerusalem, wenn nicht sogar gegenüber dem Tempelkult überhaupt, war Jesus sehr kritisch eingestellt (s.u. 3.10.2). Man kann sagen: Obwohl Jesus sich zum Volk Israel gesandt wusste, ist für ihn die theologische Beschäftigung mit dem geschichtlichen Grund der Erwählung Israels und ihrer Verwirklichung in Politik und Recht der Gegenwart kein Thema. Die punktuelle Offenheit gegenüber Heiden, die Umkehrung eschatologischer Erwartungen und die Distanz zu Grundüberzeugungen des antiken Judentums ändern nichts daran, dass Jesus sich grundsätzlich an Israel gesandt wusste. Er war aber zweifellos ein besonderer Jude mit einem außergewöhnlichen Anspruch, einer überraschenden Offenheit und einer neuen Sicht des gegenwärtigen und zukünftigen Handelns Gottes an den Menschen270. Jesus strebte nicht eine Erneuerung, sondern eine Neuausrichtung der jüdischen Religion an. Zwar kann sich die spätere Heidenmission des frühen Christentums nicht direkt auf Jesus berufen, aber sie entspricht dem jesuanischen Gedanken der schrankenlosen Liebe Gottes, verlängert und vertieft ihn auf eine Weise, die starke Impulse Jesu aufnimmt und zugleich über ihn weit hinausgeht.

3.9Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet

Die Bindung der Gottesherrschaft an seine Person, die Praxis der Sündenvergebung, die Wunder, der in den Antithesen erhobene Anspruch und die Unheilsbotschaft verdeutlichen jenseits exegetischer Einzelurteile den einzigartigen Anspruch Jesu. Wenn hier „mehr ist als Salomo/mehr als Jona“ (vgl. Q 11,31f) und die Augenzeugen selig gepriesen werden (vgl. Q 10,23f), dann stellt sich die Frage nach dem Selbstverständnis Jesu. Sie kann nur beantwortet werden, wenn die Jesusüberlieferung mit den drei Haupttypen messianischer Erwartung des antiken Judentums konfrontiert wird271: der Erwartung eines endzeitlichen Propheten, der Erwartung eines himmlischen Menschensohnes und der Erwartung eines religiös-politischen Messias272.

3.9.1Jesus als endzeitlicher Prophet

F.HAHN, Christologische Hoheitstitel (s.u. 4), 351–404; F.SCHNIDER, Jesus der Prophet, OBO 2, Fribourg/Göttingen 1973; U.B.MÜLLER, Vision und Botschaft. Erwägungen zur prophetischen Struktur der Verkündigung Jesu, in: ders., Christologie und Apokalyptik, ABG 12, Leipzig 2003 (= 1977), 11–41; M.TRAUTMANN, Zeichenhafte Handlungen Jesu, Würzburg 1980; M.E. BORING, The Continuing Voice of Jesus, Louisville 1991; G.VERMES, Jesus der Jude (s.o. 3), 73–88; N.T. WRIGHT, Jesus (s.o. 3), 145–319; M. ÖHLER, Jesus as Prophet: Remarks on Terminology, in: M.Labahn/A.Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, Sheffield 2001, 125–142; J.D.G. DUNN, Jesus Remembered (s.o. 3), 655–666.

Ebenso wie Johannes d. T. (vgl. Mk 11,32; Mt 14,4; Lk 1,76) wurde Jesus von Nazareth als Prophet wahrgenommen (vgl. Lk 7,16: „Und Furcht ergriff alle und sie priesen Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns auferstanden und Gott hat sein Volk besucht“). Der Einfluss der Elia-Tradition (vgl. Mal 3,23) ist besonders in Mk 6,15f („Einige sprachen: Er ist Elia, andere: Er ist Prophet, einer von den Propheten“) und Mk 8,27f („Für wen halten mich die Leute? … Für Johannes den Täufer, andere für Elia, wieder andere für einen der Propheten“) greifbar. Eine gemeinantike Volksweisheit273 wird Jesus in Mk 6,4 in den Mund gelegt: Ein Prophet gilt nichts in seinem Vaterland. In Lk 7,39 heißt es: „Wenn dieser ein Prophet ist, würde er erkennen, wer und was für eine Frau sie ist, die ihn berührt, denn sie ist eine Sünderin.“ Prophetische Beglaubigungszeichen (vgl. Mk 8,11; Mt 12,38f; Lk 11,16.30) werden von Jesus verlangt und in Mk 14,65 wird er verspottet, indem man ihm den Kopf verhüllt, ihn schlägt und ihn auffordert: Prophezeie, wer dich geschlagen hat.

Ob Jesus sich im Anschluss an Jes 61,1 als eschatologischer Prophet verstand (vgl. Q 7,22), lässt sich nicht mehr entscheiden. Auf jeden Fall bediente er sich prophetischer Redeformen (vgl. die Drohworte Q 10,13–15; 11,31f), er hatte Visionen (Lk 10,18) und nahm wie die atl. Propheten Symbolhandlungen vor (Jüngerberufungen, Mahlzeiten mit rituell Unreinen, Austreibung der Händler und Wechsler aus dem Tempel, das letzte Mahl mit den Jüngern und in einem weiteren Sinn auch Jesu Wunder). Wie bei vielen atl. Propheten lässt sich bei Jesus eine tiefe Identität von Leben und Botschaft entdecken: Das Leben des Propheten steht ganz im Dienste seiner Botschaft und wird zu ihrem Ausdruck. Auch religionsgeschichtliche Parallelen wie die jüdischen Zeichenpropheten (s.o. 3.6.1) und die Erwartung eines eschatologischen Propheten wie Mose (Dtn 18,15.18) in Qumran (vgl. 1QS IX 9–11; 4Q175)274 lassen es möglich erscheinen, dass Jesus sich als endzeitlicher Prophet verstand.

Andererseits lehnt Jesus die Kategorie des Prophetischen in zwei Logien als unzureichend ab (Q 11,32: „mehr als Jona ist hier“; Lk 16,16: „das Gesetz und die Propheten reichen bis Johannes“, danach kommt etwas Neues) und es gibt kein (relativ unumstrittenes) authentisches Wort, in dem Jesus sich ausdrücklich als Prophet bezeichnet, zumal die atl. Botenkategorie seinem Anspruch in keiner Weise gerecht wird. Auch die Anklänge in Mk 9,7 auf Dtn 18,15 können nicht für Jesus in Anspruch genommen werden, sondern verdanken sich markinischer Christologie (s.u. 8.2.2). Fazit: Jesu Selbstverständnis, Verkündigung und Verhalten sprengen die Dimension des Prophetischen275.

3.9.2Jesus als Menschensohn

PH.VIELHAUER, Gottesreich und Menschensohn in der Verkündigung Jesu, in: ders., Aufsätze zum Neuen Testament, TB 31, München 1965, 55–91; H.E. TÖDT, Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung, Gütersloh 51984; F.HAHN, Christologische Hoheitstitel (s.o. 4), 13–53; J.JEREMIAS, Die älteste Schicht der Menschensohnlogien, ZNW 58 (1967) 159–172; C.COLPE, Art. ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου, ThWNT 8, Stuttgart 1969, 403–481; L.GOPPELT, Theologie I, 116–253; A.J.B. HIGGINS, The Son of Man in the Teaching of Jesus, MSSNTS 39, Cambridge 1980; H.MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s.o. 3.4), 152–164; M.MÜLLER, Der Ausdruck Menschensohn in den Evangelien, AThD 17, Leiden 1984; V.HAMPEL, Menschensohn und historischer Jesus, Neukirchen 1990; J.J. COLLINS, The Son of Man in First-Century Judaism, NTS 38 (1992) 448–466; P.STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 107–125; G.VERMES, Jesus der Jude (s.o. 3), 144–174; A.VÖGTLE, Die ‚Gretchenfrage‘ des Menschensohnproblems, Freiburg 1994; G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus (s.o. 3), 470–480; J.BECKER, Jesus von Nazaret (s.o. 3), 249–275; M. KARRER, Jesus Christus im Neuen Testament (s.u. 4), 287–306; M.KREPLIN, Das Selbstverständnis Jesu, WUNT 2.141, Tübingen 2001, 88–133; C.M. TUCKETT, The Son of Man and Daniel 7: Q and Jesus, in: A.Lindemann, (Hg.), The sayings source Q and the historical Jesus (s.u. 8.1), 371–394; U.WILCKENS, Theologie II, 28–53.

Die häufigste Selbstbezeichnung Jesu ist ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου („der Sohn des Menschen“)276, sie findet sich in doppelt determinierter Form 82mal im Neuen Testament (Mk: 14mal; Mt: 30mal; Lk 25mal; Joh 13mal)277 und mit Ausnahme von Joh 12,34 in den Evangelien immer im Mund Jesu278. Diese Wendung ist eine für griechische Ohren sehr ungewöhnliche Übersetzung des aramäischen bzw. des hebräischen , die einen vornehmlich generischen Sinn aufweisen279: der Mensch als Angehöriger/ein Mensch als Repräsentant des Menschengeschlechtes. Die Bedeutung dieser Wendung erklärt sich aus einer komplexen jüdischen Vorgeschichte.

Ausgangspunkt ist als Grundtext Dan 7,13f, wo es innerhalb einer Vision heißt: „und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer, der einem Menschensohn glich (ὡς υἱὸς ἀνϑρώπου = einer, wie ein Menschensohn; ein menschenähnlicher), und gelangte bis zu den Hochbetagten, und er wurde vor ihn geführt. Ihm wurde Macht verliehen und Ehre und Reich, dass die Völker aller Nationen und Zungen ihm dienten. Seine Macht ist eine ewige Macht, die niemals vergeht, und nimmer wird sein Reich zerstört.“ Der Menschensohn ist hier wahrscheinlich eine hervorgehobene Engelgestalt, die Gottes endzeitliches Gericht verkündet280. Zu einem zentralen Titel innerhalb der jüdischen Messianologie wurde der Ausdruck „Menschensohn“ nicht, es finden sich lediglich zwei wirkungsgeschichtliche Aktualisierungen in äthHen 37–71 (sog. ‚Bilderreden‘) und 4Esr 13. Diese beiden Textkomplexe sind in sich nicht einheitlich, so dass man nur von einer inhomogenen Menschensohn-Tradition sprechen kann281. Die Bilderreden des äthiopischen Henochbuches wurden in der Mitte des 1. Jh. v.Chr. redigiert und enthalten vielschichtige Menschensohn-Aussagen. Der Menschensohn ist in engelgleicher Gestalt vor allem universaler Richter (äthHen 46,4ff), der die Gerechten zur Endzeitgemeinde sammelt (45,3f; 47,4; 48,1–7 u.ö.). Wie er selbst sind die Gerechten die Erwählten, er ist „der Stab, damit sie sich auf ihn stützen und nicht fallen“ (48,4). 4Esr 13 stammt aus dem Ende des 1.Jh. n.Chr. und schildert innerhalb einer Sturmvision das Auftreten (13,3: „Ich sah, und siehe, der Sturm führte aus dem Herzen des Meeres etwas wie die Gestalt eines Menschen hervor“) und die endzeitlichen Funktionen dieser Gestalt: Er wird auf dem Berg Zion die herbeiströmenden Völker richten und das Volk Israel sammeln. Er nimmt damit die Funktionen wahr, die nach PsSal 17,26–28 dem davidischen Messias zugeschrieben werden. Die Unterschiede zwischen Dan 7 und äthHen/4Esr weisen darauf hin, dass es z.Zt. Jesu wahrscheinlich verschiedene Ausprägungen der Menschensohn-Vorstellung gab, die eher eine Funktion als eine feste Person bezeichnete282. Deutlich ist in jedem Fall, dass es sich um eine himmlische, menschenähnliche Gestalt mit Richter-, Herrscher- und Retterfunktion handelt.

Eine Bildung der zentralen ntl. Menschensohn-Aussagen in späterer nachösterlicher Zeit ist sehr unwahrscheinlich, denn sie eigneten sich nicht für die Mission, und Paulus nahm sie wahrscheinlich bewusst in seine Verkündigung nicht auf. Warum sollten die späteren Gemeinden einen im Griechischen eher unverständlichen und am Wort ἄνϑρωπος („Mensch“) orientierten Begriff zur christologischen Leitkategorie erhoben haben?283 Wahrscheinlich erfolgte die Übersetzung des aramäischen in das griechische ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου schon früh und dürfte einen Sprachgebrauch Jesu aufnehmen. Neben der Wirkungsplausibilität und der Mehrfachbezeugung in allen Traditionssträngen spricht auch das Fehlen des Menschensohn-Begriffes in Bekenntnisaussagen über Jesus dafür, dass er den Ausdruck ‚Menschensohn‘ benutzte. Die Worte Jesu über den Menschensohn lassen sich in drei Gruppen aufteilen, die sich teilweise überschneiden und ergänzen.

Der gegenwärtig wirkende Menschensohn

Die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn enthalten sehr verschiedene Konnotationen. Es gibt Worte, in denen der Menschensohntitel im Zusammenhang mit Jesu Vollmacht erscheint (Mk 2,10par: „Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben, spricht er zu dem Gelähmten“; Mk 2,28par: „So ist der Menschensohn auch Herr über den Sabbat“), in anderen Worten ist von der Sendung Jesu im Ganzen die Rede (Mk 10,45: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“; Lk 19,10: „Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist“). Retrospektiv, aber sachlich sicher zutreffend wird Jesu Umgang mit Diskriminierten in Q 7,34 formuliert: „Der Menschensohn kam, aß und trank, und ihr sagt: Siehe, dieser Mensch, ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“. Schließlich scheint mit dem Menschensohntitel der Gedanke der Niedrigkeit, Verborgenheit und Ungeborgenheit Jesu verbunden zu sein (Q 9,58: „Und Jesus sagte ihm: Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels haben Nester, der Menschensohn aber hat nichts, wohin er seinen Kopf legen kann“). Auf einen Gerichtskontext verweisen Q 11,30 („Denn wie Jona für die Niniviten zum Zeichen wurde, so wird es auch der Menschensohn für diese Generation sein“) und Q 12,8f („Jeder, der sich zu mir vor den Menschen bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn vor den Engeln bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, wird vor den Engeln verleugnet werden“; vgl. Mk 8,38). Der letzte Text wirft besondere Fragen auf284: Meint Jesus hier mit dem Menschensohn eine andere Gestalt als sich selbst? Allein die Möglichkeit einer solchen Interpretation verweist nicht automatisch auf die nachösterliche Gemeinde. Ebenso könnte Jesus selbst dieses Wort im Kontext der Passion gesprochen haben. Isoliert man das Wort, dann kann mit dem künftigen Menschen-Richter ein anderer als Jesus gemeint sein285. Kommt jedoch der Anspruch Jesu in seiner Gesamtheit in den Blick, dann ist es mehr als unwahrscheinlich, dass er sich als Vorläufer oder Bote einer anderen eschatologischen Gestalt verstanden haben soll286. Während Q 12,10 (Das Reden wider den heiligen Geist) sicher und Mk 2,10; 10,45a; Lk 19,10 (als Variante von Mk 2,17; Lk 5,32) möglicherweise nachösterlich sind, bezeugen die anderen authentischen Worte, dass Jesus sein Wirken mit der Menschensohn-Gestalt im alltagssprachlichen Sinn (‚meine Person‘) gedeutet hat.

Der leidende Menschensohn

Die Worte vom leidenden Menschensohn liegen in den drei Leidensweissagungen (Mk 8,31par; 9,31par; 10,33f) und in Worten über die Auslieferung/Dahingabe des Menschensohnes vor (Mk 14,21par: „Denn der Menschensohn geht wohl dahin, wie über ihn geschrieben steht, doch wehe dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird“; Mk 14,41: „Der Menschensohn wird in die Hände der Sünder ausgeliefert“; vgl. ferner Lk 17,25; 24,7). Mit großer Wahrscheinlichkeit sind die Worte vom leidenden und auferstehenden Menschensohn nachösterliche Bildungen, denn sie fehlen in der Logienquelle und lassen deutlich nachösterliche christologische Reflexionen erkennen287.

Der kommende Menschensohn

Während die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn der alltagssprachlichen Tradition verbunden sind, stehen die Worte vom kommenden Menschensohn in Verbindung mit visionssprachlichen Traditionen. So kündigt Jesus in Mk 14,62 sein zukünftiges Richten an: „Da sprach Jesus: Ich bin es, und ihr werdet den Menschensohn sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des Himmels.“ In einen Gerichts- und Parusiekontext gehören auch Q 12,40 („Seid auch ihr bereit, denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr nicht damit rechnet“), Q 17,24 („Denn wie der Blitz vom Osten ausgeht und bis zum Westen leuchtet, so wird der Menschensohn an seinem Tag sein“), 17,26.30 („Wie es geschah in den Tagen Noahs, so wird es auch am Tag des Menschensohnes sein … so wird es auch an dem Tag sein, an dem der Menschensohn offenbar wird“), Mt 10,23b („Amen, ich sage euch: Ihr werdet nicht vollständig durch die Städte Israels hindurchkommen, bis der Menschensohn kommt“), Mt 19,28 („…wenn der Menschensohn auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzt, [werdet auch ihr] auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten“) und die bereits besprochene Tradition vom Bekennen und Verleugnen in Q 12,8f/Mk 8,38.

Die Worte vom kommenden Menschensohn sind schwer zu beurteilen, denn einerseits scheint Jesus sein gegenwärtiges und zukünftiges Richterhandeln mit dem Begriff des Menschensohnes verbunden zu haben (Q 12,8f), andererseits nimmt der wiederkommende und richtende Menschensohn eine zentrale Stellung innerhalb der christologischen Konzeption der Logienquelle ein (s.u. 8.1.2), so dass mit einer starken nachösterlichen Gestaltung gerechnet werden muss. Während Lk 18,8b und Mt 24,30 nachösterliche Bildungen sind und auch die angeführten Q-Logien literarisch nach Ostern ihre vorliegende Gestalt fanden, wird man für Jesus annehmen dürfen, dass er sein gegenwärtiges und zukünftiges Geschick grundlegend mit der Menschensohngestalt verband288.

Jesus nahm den Ausdruck „Menschensohn“ auf, weil er kein zentraler Begriff in der jüdischen Apokalyptik war und sich als offener und nicht fest definierter Ausdruck besonders eignete, um sein Wirken zu charakterisieren. Züge des vorösterlichen Wirkens Jesu zeigen vor allem die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn, wobei Q 7,33f und Q 9,58 hervorzuheben sind. Man wird den Ausdruck „Menschensohn“ hier nicht generisch, sondern wahrscheinlich sogar titular verstehen müssen. Auffällig ist an diesen beiden Worten, dass die Macht des Menschensohnes gerade nicht offenbar, sondern eher verhüllt ist. Dieses Nebeneinander von verhüllender und offenbarender Redeweise hat eine Strukturparallele in Jesu Rede vom Reich Gottes: So wie das Reich Gottes eine sich offenbarende und reale, aber zugleich verborgene Größe ist, so zeigt sich das gegenwärtige Wirken des Menschensohnes nicht in seiner Macht, sondern in seinem verborgenen Wirken.

3.9.3Jesus als Messias

F.HAHN, Christologische Hoheitstitel (s.u. 4), 133–225.466–472; G.VERMES, Jesus der Jude (s.o. 3), 115–143; F. HAHN, Art. Χριστός, EWNT 3 (1983) 1148–1153; M.KARRER, Der Gesalbte. Die Grundlagen des Christustitels, FRLANT 151, Göttingen 1990; D.ZELLER, Art. Messias/Christus, NBL III (1995), 782–786; M.HENGEL, Jesus der Messias Israels, in: ders./A.M. Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie, WUNT 138, Tübingen 2001, 1–80; J.FREY, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien, in: J.Schröter/R.Brucker (Hg.), Der historische Jesus, BZNW 114, Berlin 2002, 273–336.

Von den 531 Belegen für Χριστός („Christus“) bzw. Ἰησοῦς Χριστός („Jesus Christus“) finden sich allein 270 bei Paulus. Bedeutsam ist, dass Χριστός an den ältesten Bekenntnistraditionen (vgl. 1Kor 15,3b–5; 2Kor 5,15) haftet, und sich damit Aussagen über Tod und Auferstehung Jesu verbinden, die das gesamte Heilsgeschehen umfassen. Bei Paulus ist Ἰησοῦς Χριστός ein Titelname. Der Apostel weiß, dass Χριστός ursprünglich ein Appellativ und Ἰησοῦς das eigentliche nomen proprium ist, denn er spricht nie von einem ϰύριος Χριστός. Χριστός ist somit in der Verbindung mit Ἰησοῦς als Cognomen aufzufassen, bei dem die titulare Bedeutung durchaus mitschwingen kann. Zugleich verschmilzt der Titel so mit der Person Jesu und ihrem spezifischen Geschick, dass er bald zum Beinamen zu Jesus wird und die Christen danach benannt werden (Apg 11,26).

Ausgangspunkt und Voraussetzung der Entwicklung messianischer Vorstellungen sind im Alten Testament Königssalbung und Dynastiezusage (vgl. 1Sam 2,4a; 5,3; 1Kön 1,32–40; 11; 2Sam 7; Ps 89; 132)289. Daraus bildeten sich vielschichtige Traditionen im antiken Judentum, speziell um die Zeitenwende herum besaßen die messianischen Hoffnungen eine vielfältige Gestalt290. Die Vorstellung von einem politisch-königlichen Messias (vgl. PsSal 17; 18; syrBar 72,2), der die Heiden aus dem Land treiben und Gerechtigkeit wiederherstellen soll, findet sich ebenso wie prophetisch (vgl. CD 2,12; 11Q Melch) und priesterlich-königlich geprägte Anschauungen (vgl. 1QS 9,9–11; 1QSa 2,11ff; CD 12,23; 14,19; 19,10f; 20,1). Von der großen Variationsmöglichkeit und Vernetzungskraft jüdischer Eschatologie zeugen auch die Verbindung von Menschensohn- und Messiasvorstellungen (vgl. äthHen 48,10; 52,4; 4Esr 12,32; 13) und messianische Gestalten, die ohne den Messias-Begriff auftraten (messianische Propheten)291.

Χριστός ist Bestandteil der ältesten ntl. Überlieferungen, ob Jesus selbst den Χριστός-Titel für sich in Anspruch nahm oder zumindest bewusst messianische Erwartungen auslöste, muss eine Analyse der synoptischen Tradition klären. Der Befund ist überraschend schmal und vieldeutig. Bei Markus finden sich 7 Belege, Matthäus ist bei seinen 18 Belegen im Wesentlichen von Markus abhängig und im lukanischen Doppelwerk verbindet sich vor allem durch die Aufnahme von Jes 61,1f eine ausgeprägte Geistchristologie mit Χριστός (s.u. 8.4.2/8.4.3). Schlüsselstellen sind Mk 8,29 („Petrus antwortet ihm: Du bist der Christus!“) und Mk 14,61f („Da fragte ihn der Hohepriester noch einmal, und er sagte zu ihm: Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? Da sprach Jesus: Ich bin es …“). Beide Texte sind vollständig in die markinische Christologie eingebunden und geben kaum exakt historisches Geschehen wieder.

Dennoch spricht viel dafür, dass Jesus durch seine Verkündigung und sein Verhalten messianische Erwartungen ausgelöst hat. Mk 8,27–30 könnten belegen, dass an Jesus politisch-messianische Erwartungen herangetragen wurden. Die messianischen Ovationen beim Einzug in Jerusalem (vgl. Mk 11,8–10), die Tempelreinigung und vor allem die Kreuzesinschrift (s.u. 3.10.2) legen darüber hinaus die Annahme nahe, dass Jesus bewusst messianische Erwartungen schürte. Die Kreuzesinschrift ὁ βασιλεῦς τῶν Ἰουδαίων („Der König der Juden“) dürfte weder von Juden noch Christen stammen und belegen, dass die Römer Jesus von Nazareth als Messiasprätendent hinrichteten292. Dann muss die Frage nach Jesu Königtum/Messianität im Prozess eine entscheidende Rolle gespielt haben293, ohne dass entscheidbar ist, ob Jesus aktiv den Messiastitel für sich beanspruchte. Auch die schnelle und umfassende Ausbreitung von Χριστός in den ältesten nachösterlichen Traditionen lässt sich am besten verstehen, wenn eine Verbindung mit dem Wirken und Geschick Jesu besteht.

Wie auch immer einzelne Texte beurteilt werden, der Gesamtbefund lässt nur einen historischen Schluss zu: Das Leben Jesu war nicht unmessianisch!294 Jesu Selbstanspruch, Repräsentant des gegenwärtigen und kommenden Gottesreiches zu sein, seine Freiheit gegenüber der Tora, seine souveränen Jüngerberufungen, seine Gewissheit, die entscheidende Gestalt in Gottes Gerichtshandeln und der gegenwärtige sowie kommende, von Gott inthronisierte Menschensohn zu sein, lassen nur den Schluss zu, dass Jesus einen ungeheuren Anspruch für seine Person erhoben hat, der von keinem Juden vor und nach ihm so gestellt wurde.

Zugleich aber fällt auf, dass sich dieser Anspruch auch in einer merkwürdig verhüllten Weise zeigt: Er äußert sich nicht in vorgegebenen, dogmatisch klaren Kategorien, sondern in zuweilen fast paradoxen Erzählungen und Worten. Jesus vermittelt Erfahrungen des Gottesreiches, aber er verweigert sich jeder Zeichenforderung und jedem direkten Autoritätsbeweis. Er verlangt für seine Botschaft höchste Verbindlichkeit und bindet Heil und Unheil an seine Person, zugleich verfremdet und überbietet er sämtliche bekannten Spielarten messianischer Autorität. Entscheidend ist nicht ein Wissen über Jesus, sondern die Konfrontation mit ihm und seiner Botschaft, sich ganz auf die neue Wirklichkeit Gottes einzulassen.

3.10Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang

J.BLINZLER, Der Prozeß Jesu, Regensburg 41969; P.WINTER, On the Trial of Jesus, SJ 1, Berlin 1961; A.N. SHERWIN-WHITE, Roman Society and Roman Law in the New Testament, Oxford 1963; D.DORMEYER, Die Passion Jesu als Verhaltensmodell, NTA 11, Münster 1974; A.STROBEL, Die Stunde der Wahrheit, WUNT 21, Tübingen 1980; M.LIMBECK (Hg.), Redaktion und Theologie des Passionsberichtes nach den Synoptikern, Darmstadt 1981; O.BETZ, Probleme des Prozesses Jesu, ANRW.II 25.1, Berlin 1982, 565–647; K.KERTELGE (Hg.), Der Prozeß gegen Jesus. Historische Rückfrage und theologische Deutung, QD 112, Freiburg 1988; R.E. BROWN, The Death of the Messiah I.II, New York 1993/94; W.REINBOLD, Der älteste Bericht über den Tod Jesu, BZNW 69, Berlin 1994; N.T. WRIGHT, Jesus (s.o. 3), 540–611; P.EGGER, Crucifixus sub Pontio Pilato, NTA 32, Münster 1997; W.BÖSEN, Der letzte Tag des Jesus von Nazareth, Freiburg 1999; U. LUZ, Warum zog Jesus nach Jerusalem?, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus, BZNW 114, Berlin 2002, 409–427; J.D.G. DUNN, Jesus Remembered (s.o. 3), 765–824; G.VERMES, Die Passion, Darmstadt 2005; W.REINBOLD, Der Prozess Jesu, Göttingen 2006.

Am Ende seiner öffentlichen Wirksamkeit zog Jesus mit seinen Jüngern und weiteren Begleitern im Jahr 30 zum Passafest nach Jerusalem295. Er tat dies in Kontinuität zu seiner bisherigen Reich-Gottes-Verkündigung und zweifellos nicht ohne Absicht296, denn sowohl seine bisherige spektakuläre Wirksamkeit in Galiläa als auch der Einzug in Jerusalem (Mk 11,1–11par) lassen eine Zuspitzung der Ereignisse erwarten.

3.10.1Die Konflikte bis zur Passion

Zwar kann man am Ende des Wirkens Jesu von einer Zuspitzung seines Konfliktes mit jüdischen Autoritäten sprechen, was zugleich aber auch den Höhepunkt und das Ende bereits lang andauernder Auseinandersetzungen darstellte. Die Evangelien lassen keinen Zweifel daran, dass Jesu öffentliches Auftreten von Anfang an mit Kontroversen verbunden war297. Als charismatische religiöse Gestalt wirkte Jesus von Nazareth vor allem als Heiler, Exorzist (s.o. 3.6) und Lehrer. Nach Mk 1,22 lehrte er mit ‚Vollmacht‘ und nicht wie die Schriftgelehrten. Als Lehrer trat Jesus in zweifacher, sich ergänzender und durchdringender Weise auf298: 1) als eschatologischer Weisheitslehrer (s.o. 3.4/3.5) und 2) als vollmächtiger Ausleger der Tora (s.o. 3.8)299. Speziell mit den Pharisäern und Schriftgelehrten kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen über Heilungen am Sabbat (Mk 3,1–6; Lk 13,10–17), bzw. Fragen der Sabbatheiligung (Mk 2,23–28). Hinzu kamen Themen/Probleme der Toraauslegung (z.B. Zorn: Mt 5,21–22a; Ehebruch: Mt 5,27–28a.b; Schwur: Mt 5,33–34a; Vergeltung/Feindesliebe: Mt 5,44; Ehescheidung: Mk 10,1–12; größtes Gebot: Mk 12,28–34). Auch der große Komplex der Speisegesetze (Mk 7,1–15), das Thema ‚rein – unrein‘, speziell der Umgang mit kultisch unreinen Menschen (Mk 2,14–17; Lk 7,34; 15,1; 18,9–14) wurde unterschiedlich beurteilt. Schließlich waren rituelle Praktiken bzw. Einzelfragen (Mk 2,18–22; 7,9–13; Mt 23,23) und religiös-politische Streitpunkte (Mk 12,13–17) von Bedeutung. Dem Exorzisten Jesus warfen die Schriftgelehrten vor, mit dem Satan im Bunde zu stehen (Mk 3,22–30); sie beobachteten ihn kritisch (Mk 9,14–29), klagten ihn an, sich Gott gleich zu machen (Mk 2,1–12) und sprachen ihm Vollmacht und Legitimation ab (Mk 11,27–33). Das ebenfalls sehr angespannte Verhältnis zwischen Jesus und den Pharisäern bzw. den Anhängern des Herodes Antipas spiegelt sich in Mk 3,6; 8,15; 12,13 wider. Insgesamt scheint die Kombination von Heilungen, Exorzismen und Lehre die große Autorität und den anhaltenden Erfolg Jesu begründet zu haben. Dies wiederum rief seine Gegner auf den Plan, die ihre Tora- und Lehrkompetenz infrage gestellt sahen. Dabei spielten nicht nur theologische Differenzen, sondern auch soziale Motive eine Rolle. Die Zurückweisung Jesu in Nazareth weist darauf hin, dass er wegen seiner Herkunft und damit fehlenden Autorisierung abgelehnt wurde (vgl. Mk 6,1–6par). Seine Lehre und Exorzismen auch in Synagogen (vgl. Mk 1,21–28) galten Pharisäern und Schriftgelehrten als illegitim. Jesus gehörte nicht zu den etablierten Tora-Auslegern (vgl. Mk 6,3: „Ist das nicht der Zimmermann“300; Joh 7,15), die durch Herkunft (z.B. aus Priesterfamilien) und Ausbildung autorisiert waren und eine bestimmte soziale Position einnahmen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass insbesondere die Schriftgelehrten301 auch in der Passionsgeschichte eine führende Rolle spielten (vgl. Mk 8,31; 11,18; 14,1.43.53; 15,1.31).

3.10.2Verhaftung, Prozess und Kreuzigung

Jesus entzog sich den Ovationen beim Einzug in Jerusalem nicht, d.h. er akzeptierte die damit verbundenen messianischen Erwartungen (Mk 11,9fpar). Da der Einzug auch Elemente eines Herrscherzeremoniells enthielt, konnte er politisch interpretiert werden. In zeitlicher Nähe und sachlicher Kontinuität zum Einzug steht die Tempelreinigung (Mk 11,15–18par)302.

Die Tempelreinigung

Jesus findet im Tempelbezirk Verkäufer von Opfertieren und Geldwechsler vor, die ursprünglich zur Aufrechterhaltung eines geordneten Kultbetriebes dienten. Nicht jedes herbeigebrachte Tier konnte von Priestern einzeln geprüft werden, und auch die Geldwechsler übten eine Dienstleistung aus, denn nach Ex 30,11–16 musste jeder männliche Jude ab 20 Jahren eine Doppeldrachme als Tempelsteuer entrichten. Das Ausmaß der Tempelreinigung lässt sich in ihren Einzelheiten nicht mehr genau rekonstruieren, aber Jesus scheint mit Gewalt gegen (einige) Tierverkäufer und Geldwechsler vorgegangen zu sein. Damit verbindet sich ein Drohwort gegen den Tempel, das den Kern von Mk 13,2 bildet: „Hier wird nicht ein Stein auf dem anderen bleiben, der nicht herausgebrochen wird.“303 Tempelreinigung und Tempelwort zielten nicht auf eine Wiederherstellung eines gottgefälligen Tempelkultes, wie sie in der Geschichte des Judentums immer wieder gefordert wurde304. Vielmehr war Jesus der Meinung, dass mit der Gegenwart und dem Kommen des Reiches Gottes der Jerusalemer Tempel seine Funktion als Ort der Sühne für die Sünden verloren hat. Weil die Herrschaft des Bösen zu Ende geht, bedarf es keiner Opfer mehr305.

Verhaftung und Verhör

Welche Rolle spielten jüdische Instanzen in dem Verfahren gegen Jesus? Wahrscheinlich wurde Jesu Aktion gegen den Tempel als Infragestellung der wirtschaftlichen und politischen Ordnung interpretiert und damit insbesondere von den Sadduzäern zum Anklagegrund instrumentalisiert306. Nicht ‚die Juden‘, sondern die Sadduzäer und Schriftgelehrten scheinen die treibende Kraft bei der Verhaftung Jesu gewesen zu sein (vgl. Mk 14,1.43.53.60; 15,1.11.31; Jos, Ant 18,64: „… und obwohl ihn auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes Pilatus zum Kreuzestod verurteilte …“)307. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Überlieferung bei Josephus, die zeigt, dass Prophetie gegen den Tempel und die Stadt Jerusalem offenbar eine Beteiligung der jüdischen Kapitalgerichtsbarkeit an der grundsätzlich Römern zustehenden Rechtsfindung verlangten308. Der Text bestätigt die Existenz eines etablierten Instanzenweges. Von führenden Männern der jüdischen Selbstverwaltung wird ein offizielles Verfahren gegen den Propheten Jesus Ben Ananias angestrengt. Er wird zunächst von Mitgliedern des Synhedriums verhört und dann dem Prokurator übergeben. Die Geißelung ging in der Regel der Vollstreckung eines Todesurteils voraus, d.h. die jüdischen Instanzen dürften einen Kapitalprozess angestrengt haben, die letztgültige Entscheidung lautete allerdings in diesem Fall auf Freispruch. Ein ähnlicher Ablauf ist für den Prozess gegen Jesus von Nazareth zu vermuten. Die Tempelreinigung brachte Jesus offensichtlich den Vorwurf ein, die öffentliche Ordnung in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht anzugreifen309. Er stellte mit seiner Aktion gegen den Tempel aus der Sicht der Sadduzäer den Kultbetrieb in Frage. Vergehen gegen den Tempel gehörten zu den „durchaus seltenen Fällen, welche die römische Rechtsfindung in der Provinz Judäa bewogen, auf dem Wege einer Ausnahmeregelung die jüdische Kapitalgerichtsbarkeit an der eigenen ‚cognitio‘ zu beteiligen.“310 Vornehmlich die Sadduzäer und Schriftgelehrten dürften Jesu Verhaftung angestrengt und das Verhör vor dem Hohen Rat betrieben haben. Jesus wurde dann dem römischen Statthalter übergeben, der eine eigene Untersuchung durchführte und verantwortlich für das Todesurteil ist.

Der Prozess und die Kreuzigung

Die Kapitalgerichtsbarkeit stand in Judäa allein dem römischen Prokurator zu311. Bei dem ersten Prokurator Coponius (6–9 n.Chr.) vermerkt Josephus ausdrücklich, er habe mit uneingeschränkter Vollmacht regiert und vom Kaiser auch das Recht erhalten, die Todesstrafe zu verhängen312. Nach dem Verhör vor dem Hohen Rat wurde Jesus zum Prätorium gebracht, dem Amtshaus des Pilatus313. Warum wurde Jesus nach einem kurzen Prozess verurteilt? Die Römer ließen sich mit Sicherheit von jüdischen Instanzen dazu nicht ohne Grund drängen, und der Hinweis auf innerjüdische Lehrstreitigkeiten reicht ebenfalls nicht aus, um das Eingreifen der Römer zu erklären. Der triumphale Einzug in Jerusalem, die Tempelaktion, Mk 15,2fpar („Bist du der König der Juden? Er aber antworte ihm: Du sagst es!“) und die Kreuzesinschrift (Mk 15,26par: „Der König der Juden“ = ὁ βασιλεῦς τῶν Ἰουδαίων) lassen vermuten, dass die Römer offenbar Jesus für einen (religiös-politischen) Aufrührer hielten, der die gespannte Situation an einem Passafest für sich ausnutzen könnte.

Die Brisanz dieses Vorwurfes illustrierte Josephus. In den Wirren nach dem Tod Herodes d. Gr. strebten sowohl ein gewisser Judas314 als auch ein gewisser Simon315, Knecht Herodes d. Gr., die Königswürde an. Sie plünderten und brandschatzten mit ihren Truppen, wurden dann aber von den Römern vernichtend geschlagen. Danach griff ein gewisser Athronges316 nach der Krone. Er führte den Königstitel und kämpfte sowohl gegen die Römer als auch gegen die Familie Herodes d. Gr. Auch er wurde von den Römern und ihren Verbündeten besiegt317. Josephus charakterisiert diese unruhige Zeit in einem Summarium: „Und so war Judäa voll von Räuberbanden; und wo immer sich eine Gruppe von Anführern zusammentat, wählten sie einen König, der den Untergang der staatlichen Ordnung herbeiführen sollte. Sie fügten zwar wenigen Römern einen unerheblichen Schaden zu, bereiteten aber ihrem eigenen Volk ein großes Blutbad.“318 Josephus berichtet dann, der römische Statthalter Varus habe weitere Aufstände brutal niedergeschlagen und einmal 2000 Juden kreuzigen lassen319. Hinter den von Josephus als ‚Räuberbande‘ bezeichneten Gruppen standen messianische und soziale Hoffnungen, die sich auf eine Befreiung von der Römerherrschaft und eine gerechtere Ordnung richteten. Nach PsSal 17,21ff wird der von Gott dem auserwählten Volk gesandte König und Gesalbte nicht nur die Heiden vertreiben, sondern auch über sein Volk in Gerechtigkeit herrschen.

Pilatus ließ Jesus geißeln und zur Kreuzigung abführen. Die Kreuzigung war die bevorzugte römische Todesstrafe für Sklaven und Aufständische, eine besonders grausame und entehrende Strafe320. Jesus von Nazareth wurde wahrscheinlich am Freitag, den 14. Nisan (= 7. April) des Jahres 30 in Jerusalem als Aufrührer von den Römern gekreuzigt321.

3.10.3Jesu Verständnis seines Todes

Auffällig ist, dass Jesus sich trotz der absehbaren Gefahr nicht aus Jerusalem abgesetzt hat. Nach den synoptischen Passionsdarstellungen hätte er dazu noch reichlich Gelegenheit gehabt. Die Möglichkeit einer Verhaftung konnte Jesus nicht völlig unvorbereitet getroffen haben, denn er kannte die angespannte politische Situation in Jerusalem, hatte den Tod von Johannes d. Täufer vor Augen und wurde von seinem eigenen Landesherrn Herodes Antipas gewarnt (Lk 13,31)322. Wenn er trotzdem in Jerusalem blieb und sich bewusst provozierend verhielt, dann spricht alles dafür, dass Jesus seinen Tod als Möglichkeit kommen sah und jedenfalls nichts tat, um diesem Schicksal zu entgehen. Fragt man nach dem Sinn eines solchen Verhaltens, dann ist neben einigen Logien der synoptischen Tradition vor allem die Abendmahlsüberlieferung zu bedenken323.

Verschiedene Logien könnten ein Wissen Jesu um seinen Tod voraussetzen; so z.B.Lk 12,49.50 („Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen, und wie sehr wünschte ich, es wäre schon entfacht! Aber ich muss mich mit einer Taufe taufen lassen, und wie ist mir bange, bis sie vollzogen ist“), Lk 13,31f (Jesus antwortet auf Warnungen vor Herodes Antipas: „Geht und sagt diesem Fuchs: Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen, heute und morgen, und am dritten Tag werde ich vollendet“), Mk 14,7 (Jesus in der Salbungsgeschichte von Bethanien: „Die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer bei euch“; vgl. Mk 2,19). All diese Texte sind nicht eindeutig, denn ihre vor- oder nachösterliche Entstehung ist ebenso unsicher wie der Bezug auf Jesu Tod. Aussagekräftiger ist hingegen die Abendmahlsüberlieferung mit damit verbundenen Einzellogien.

Das Abendmahl

Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern muss im Kontext seiner vorhergehenden Mahlpraxis und damit auch seiner Gottesreichverkündigung gesehen werden (s.o. 3.4.5). Die Nähe des Reiches Gottes gewinnt in den Mahlzeiten mit gesellschaftlichen und rituellen Außenseitern konkrete Gestalt, „denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (Lk 19,10). Jesu letztes Mahl, obwohl nur mit den Jüngern gehalten, weist wie Jesu Mahlzeiten mit Zöllnern und Sündern zuvor auf die Gemeinschaftsmahlzeit im Gottesreich voraus, deren gewisses Unterpfand es zugleich ist. Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der eschatologische Ausblick in Mk 14,25: „Amen ich sage euch: ich werde sicherlich von dem Gewächs des Weinstocks nicht mehr trinken bis zu jenem Tage, wo ich es von neuem trinken werde im Gottesreich.“324 Der eschatologische Ausblick weist voraus auf die Mahlzeit im Gottesreich. Eine Mahlzeit ist in jüdischen Texten verbreitetes Bild für die eschatologische Gemeinschaft in Gottes neuer Welt (vgl. Jes 25,6–12). Durch den eschatologischen Ausblick wird das Abendmahl zum Vorzeichen dieser Herrlichkeitsmahlzeit. Inhaltlich verdeutlicht Mk 14,25 zweierlei: 1) Jesus rechnete wenigstens unmittelbar vor seiner Verhaftung mit seinem Tod und nahm von seinen Jüngern bewusst Abschied. 2) Der Gedanke an seinen Tod führte Jesus keineswegs zu einer Aufgabe seiner Hoffnung auf das Reich Gottes. Der Zeitpunkt seines Kommens bleibt zwar durch das unbestimmte „an jenem Tag“ in der Schwebe, aber die gewisse Hoffnung auf das Kommen der Gottesherrschaft hält sich ungebrochen durch. Mk 14,25 lässt sich darüber hinaus als Todesprophetie verstehen: Jesus trinkt zum letzten Mal, bevor er am Mahl im Reich Gottes teilnimmt. Möglicherweise hofft er aber auch, das Reich Gottes breche so bald herein, dass ihm der Weg durch den Tod erspart bleibt.

Historisch sehr wahrscheinlich ist ein letztes Mahl Jesu mit seinen Jüngern unmittelbar vor seiner Verhaftung (vgl. 1Kor 11,23c). Er tat dies wie bei den vorhergehenden Mahlgemeinschaften in der Gewissheit der Gegenwart Gottes und in der Erwartung des Reiches Gottes. Ob dieses Mahl ein Passamahl war, lässt sich nicht mehr ausmachen325. Dagegen spricht: a) Paulus (bzw. seine Tradition) als ältester literarischer Zeuge weiß davon nichts (vgl. das Passa-Motiv in 1Kor 5,7!); b) Mk 14,12 ist offensichtlich sekundär (ebenso Lk 22,15). c) Jesus wurde wahrscheinlich an einem 14. Nisan hingerichtet (vgl. Joh 18,28; 19,14; auch 1Kor 5,7), das Passafest beginnt aber mit dem 15. Nisan. Dafür spricht: Der Ablauf des letzten Mahles kann im Rahmen einer Passafeier verstanden werden (speziell Lukas!). Wahrscheinlich ist anzunehmen: Jesus feierte das letzte Mahl im Zusammenhang mit einem Passafest; zugleich gilt aber, dass der theologische Ertrag dieses historisch nicht zu lösenden Problems gering ist.

Das letzte Mahl erhielt seinen besonderen Charakter durch das Bewusstsein Jesu, dass er sterben wird. Jesus verband seinen bevorstehenden Tod offenbar mit der Erwartung, das Reich Gottes werde nun umfassend anbrechen (Mk 14,25). Dieses Sterben konnte von Jesus nicht losgelöst gedacht werden von seiner einzigartigen Gottesbeziehung und seiner ausgeprägten Gottesgewissheit, die sich vor allem in seiner Reich-Gottes-Verkündigung und seinen Wundern zeigten. Jesu Hoheitsbewusstsein forderte geradezu eine Deutung des bevorstehenden Geschehens! Diese Deutung konnte nicht in einfacher Kontinuität zu den Mahlfeiern des Irdischen stehen, denn mit dem bevorstehenden Tod stellte sich für Jesus umfassend die Frage nach dem Sinn seiner Sendung. Seiner Person kam dabei eine zentrale Bedeutung zu, da bereits die Gegenwart des Reiches Gottes und die Wunder ursächlich von ihr abhingen (vgl. Lk 11,20). Entsprechend forderte das bevorstehende Geschehen eine Deutung im Hinblick auf die Person Jesu, die nur er selbst geben konnte326. Wahrscheinlich verstand Jesus seinen Tod in Aufnahme von Jes 53 als Selbsthingabe für die ‚Vielen‘ (vgl. Mk 10,45b)327; der Tod steht damit in Kontinuität zum Leben des irdischen Jesus, der ‚für andere‘ eintrat und lebte. Diese Selbsthingabe formuliert Jesus im Verlauf des letzten Mahles gleichnishaft mit Deuteworten (vgl. Mk 14,22.24): τοῦτό ἐστιν τὸ σῶμά μου („dies ist mein Leib“) und τοῦτό ἐστιν τὸ αἷμά μου … ὑπὲρ πολλῶν („dies ist mein Blut … für die Vielen“)328.

Diese Deuteworte orientieren sich nicht an dem, was eigentlich im Passamahl im Vordergrund stand, und sie gewinnen durch die Gesten eine weitere Dimension: Das gemeinsame Trinken aus dem einen Becher könnte darauf hinweisen, dass Jesus angesichts seines Todes die von ihm gestiftete Gemeinschaft über seinen Tod hinaus fortgesetzt wissen wollte. Jesus feierte somit das letzte Mahl in dem Bewusstsein, mit seinem Tod werde Gottes Reich und damit auch das Gericht hereinbrechen. Er gibt sein Leben, damit die ‚Vielen‘ in diesem Endgeschehen Rettung erlangen werden. Die Erwartung des mit seinem Sterben sich umfassend enthüllenden Reiches Gottes erfüllte sich für Jesus nicht (vgl. Mk 15,34). Gott handelte an ihm durch die Auferweckung von den Toten in unerwarteter Weise, zugleich aber auch in Kontinuität: Jesu Tod ist und bleibt rettendes Geschehen für die ‚Vielen‘. Nachösterlich wurde das letzte Mahl zum Erfüllungs- und Erinnerungszeichen des Gekommenen, durch das sich dieser in der Kraft des Heiligen Geistes als lebendiges und gegenwartsmächtiges Subjekt seines Gedächtnisses, als Stifter eines neuen Bundes und als kommender Herr von Menschheit und Welt erweist. Diese Grundstruktur prägt trotz unterschiedlicher Ausformungen alle Abendmahlsüberlieferungen.

Wenn Jesus bewusst nach Jerusalem ging, den Folgen seiner bewussten Provokationen nicht auswich und beim letzten Mahl seinen bevorstehenden Tod deutete, dann ist eine Schlussfolgerung unausweichlich: Jesus hoffte und erwartete, dass mit seinem Auftreten in Jerusalem das Reich Gottes umfassend anbrechen werde. Somit steht sein Ende in einem unmittelbaren Zusammenhang mit seinem vorangegangenen Wirken. Jesu dienende Pro-Existenz329 für Gott, sein Reich und die Menschen umfasst und charakterisiert gleichermaßen sein Leben und Sterben.

1 Die ältere Forschung wird von A.SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, dargeboten; zu der mit R.Bultmann verbundenen Entwicklung vgl. H.ZAHRNT, Es begann mit Jesus von Nazareth, Stuttgart 31969; W.G. KÜMMEL, 40 Jahre Jesusforschung (1950–1990), Königstein/Bonn 1994; eine kritische Darstellung der neueren amerikanischen Forschung bietet N.T. WRIGHT, Jesus (s.o. 3), 28–82. Relevante Texte der Debatte finden sich in: M.BAUMOTTE (Hg.), Die Frage nach dem historischen Jesus.

2 Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten, herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing, Braunschweig 1778.

3 A.a.O., 7f.

4 D.F. STRAUSS, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, Erster Band, Tübingen 1835, V.

5 E.KÄSEMANN, Das Problem des historischen Jesus, 213.

6 Der Terminus ‚third quest‘ geht von einer forschungsgeschichtlichen Dreiteilung aus: 1) Die Leben-Jesu-Forschung des 19.Jh. mit ihren Reaktionen im frühen 20.Jh.; 2) die ‚neue‘ Frage nach Jesus ab der Mitte des 20. Jh.; 3) die ‚dritte‘ Fragerunde ab Beginn der 80er des 20.Jh. Sinnvollerweise sind fünf Epochen der Jesusforschung zu unterscheiden: 1) Aufklärung (Reimarus/Strauss); 2) Liberale Jesusforschung (H.-J.Holtzmann); 3) Destruktion des liberalen Jesusbildes (J.Weiss/W.Wrede/A.Schweitzer/R.Bultmann); 4) die ‚neue‘ Frage nach dem historischen Jeusus (E.Käsemann/E.Fuchs/G.Bornkamm/G.Ebeling/H. Braun); 5) die neuere (überwiegend) nordamerikanische Jesusforschung (‚third quest‘); vgl. auch G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus (s.o. 3), 22–29.

7 Zu nennen ist hier bes. das sogen. ‚Geheime Markusevangelium‘ (ein angeblicher Brief von Clemens von Alexandrien mit zwei Zitaten aus einem unbekannten ‚Markusevangelium‘), das 1958 der Religionshistoriker M.SMITH gefunden haben will. Vom Fund existieren lediglich Fotos, die keine überzeugende Beweiskraft haben. Von einer Fälschung geht aus: ST.C.CARLSON, The Gospel Hoax. Morton Smith’s Invention of Secret Mark, Waco Texas 2005. Für die Authentizität bei gleichzeitiger Abhängigkeit von den synoptischen Evangelien und einer Datierung ins 2.Jh. votieren zuletzt: H.-J.KLAUCK, Apokryphe Evangelien, Stuttgart 2002, 48–52; E.RAU, Das geheime Markusevangelium. Ein Schriftfund voller Rätsel, Neukirchen 2003.

8 Vgl. als Übersicht D.S. DU TOIT, Redefining Jesus: Current Trends in Jesus Research, in: M.Labahn/A.Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, 82–124.

9 Vgl. hier C.A. EVANS, The New Quest for Jesus and the New Research on the Dead See Scrolls, in: M.Labahn/A.Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, 163–183.

10 Vgl. T.HOLMÉN, The Jewishness of Jesus in the ‚Third Quest‘, in: M.Labahn/A.Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, 143–162.

11 Vgl. dazu J.SCHRÖTER/H.-G.BETHGE, Das Evangelium nach Thomas (NHC II,2), in: H.-M.Schenke/H.-G.Bethge/U.U. Kaiser (Hg.), Nag Hammadi Deutsch I, GCS N.F. 8, Berlin 2001, 151–181. Für den zentralen Bereich der Soteriologie plädiert mit überzeugenden Argumenten auch für eine Spätdatierung: E.E. POPKES, Die Umdeutung des Todes Jesu im koptischen Thomasevangelium, in: J.Frey/J.Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005, 513–543.

12 Vgl. hierzu als Programmschrift H.Köster/J.M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des Frühen Christentums, Tübingen 1971. Die Entwicklung skizziert J.Schröter, Jesus im frühen Christentum. Zur neueren Diskussion über kanonisch und apokryph gewordene Jesusüberlieferungen, VuF 51 (2006), 25–41.

13 Vgl. B.L. MACK, Wer schrieb das Neue Testament? Die Erfindung des christlichen Mythos, München 2000.

14 Vgl. dazu R.HEILIGENTHAL, Der verfälschte Jesus, Darmstadt 1997.

15 Vgl. U.SCHNELLE, Einleitung (s.o. 2.2), 574–576.

16 Vgl. dazu als Überblick die Beiträge deutscher und anglo-amerikanischer Exegeten/Exegetinnen in: W.STEGEMANN/B.J. MALINA/G.THEISSEN (Hg.), Jesus in neuen Kontexten (s.o. 3). Eine Kombination von sozialgeschichtlichen und archäologischen Fragestellungen bieten J.D. CROSSAN/J.L. REED, Jesus ausgraben. Zwischen den Steinen – hinter den Texten (s.o. 3).

17 Vgl. F.G. DOWNING, The Jewish Cynic Jesus, in: M.Labahn/A.Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, 184–214.

18 Vgl. aus der neueren Literatur: S. BYRSKOG, Story as History – History as Story, WUNT 123, 2000; R. BAUCKHAM, Jesus and the Eyewitnesses: The Gospels as Eyewitnesses Testimony, Grand Rapids 2006; R. RIESNER, Die Rückkehr der Augenzeugen, TheolBeitr 38 (2007), 337–352; A. D. BAUM, Der mündliche Faktor und seine Bedeutung für die synoptische Frage, TANZ 49, 2008.

19 Speziell die Arbeiten von Maurice Halbwachs und Jan Assmann spielen hier eine Rolle.

20 Vgl. CHR. KEITH, The Indebtedness of the Criteria Approach to Form Criticism and recent Attempts to rehabilitate the Search for an authentic Jesus, in: CHR. KEITH/A. LE DONNE (Hg.), Jesus, Criteria, and the Demise of Authenticity, 47: „First, historical Jesus research as it stands is in a methodological quagmire that is a direct result of the criteria approach’s stubborn continuance of a historical-critical methodology that is essentially form-critical in nature. If the field is to leave that quagmire, it must do so on the advances in media criticism and memory theory; that is, it must do so by better understanding what the gospel tradition is before deciding how it is to be used in historical reconstruction. Second, and related to the previous point, criteria of authenticity is a misnomer. Perhaps it would be an overstatement to say that this term should be abandoned altogether.“

21 Vgl. hier auch G. HÄFNER, Das Ende der Kriterien? Jesusforschung angesichts der geschichtstheoretischen Diskussion, in: K. Backhaus/G. Häfner, Historiographie und fiktionales Erzählen, BThSt 86, Neukirchen 2007, 97–136, der zu Recht fragt, welche wissenschaftlichen und d.h. methodisch kontrollierbaren Modelle eigentlich an die Stelle der Kriterien treten sollen.

22 Als ein Beispiel vgl. J.M. ROBINSON, Der wahre Jesus? Der historische Jesus im Spruchevangelium Q, ZNT 1 (1998), 17–26, der sich exklusiv auf die (von ihm) rekonstruierte Logienquelle beschränkt und beruft.

23 J.D.G. DUNN, Jesus Remembered (s.o. 3), 130, favorisiert die Kategorie der ‚Erinnerung‘: „The Synoptic Tradition provides evidence not so much for what Jesus did or said in itself, but for what Jesus was remembered as doing or saying by his first disciples, or as we might say, for the impact of what he did and said on his first disciples.“ Der bloße Begriff der ‚Erinnerung‘ ist jedoch nicht hinreichend, denn Erinnerungen sind immer mit Deutungen gefüllte Konstruktionen vergangenen Geschehens unter gegenwärtigen Bedingungen.

24 Dies betont J.SCHRÖTER, Die Frage nach dem historischen Jesus und der Charakter historischer Erkenntnis, in: The Sayings Source Q and the Historical Jesus, hg. v. A.Lindemann, BEThL CLVIII, Leuven 2001, 207–254.

25 So urteilt R.BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 81970, 49, über die Schul- und Streitgespräche: „Jedenfalls – das muß noch einmal betont werden – haben im allgemeinen die Worte eine Situation erzeugt, nicht umgekehrt.“

26 So definiert in der Tradition R.Bultmanns z.B. G.EBELING, Historischer Jesus und Christologie, in: ders., Wort und Glaube, Tübingen 31967, (300–318) 303: „‚Historisch‘ meint also die sachgemäße Methode zur Erkenntnis geschichtlicher Wirklichkeit. ‚Historischer Jesus‘ ist darum eigentlich eine Abkürzung für: Jesus, wie er bei strenger historischer Methode zur Erkenntnis kommt, entgegen den etwaigen Veränderungen und Übermalungen, die er im Jesus-Bild der Tradition erfahren hat. Der ‚historische Jesus‘ meint darum soviel wie: der wahre, der wirkliche Jesus.“

27 Gegen eine deutliche Tendenz innerhalb der amerikanischen Jesus-Forschung, die historische gegen die theologische Frage auszuspielen; vgl. E.P. SANDERS, Jesus and Judaism (s.o. 3), 333f; J.P. MEIER, Jesus I (s.o. 3), 21–31.

28 Vgl. J.FREY, Der historische Jesus und der Christus des Glaubens, in: J.Schröter/R.Brucker (Hg.), Der historische Jesus (s.o. 3.1), 297ff.

29 Vgl. zu den Plausibilitätskriterien G.THEISSEN/D.WINTER, Kriterienfrage, 175–214.

30 Vgl. D. C. ALLISON, Constructing Jesus (s.o. 3), 14: „The larger the generalization and the more data upon which it is based, the greater our confidence.“ Allison meint allerdings, von diesem Ansatz her auf die herkömmlichen Kriterien verzichten zu können; hier wird das Gegenteil vertreten: Gesamttendenz und Kriterien ergänzen sich!

31 Vgl. G.THEISSEN/D.WINTER, Kriterienfrage, 217: „Was wir von Jesus insgesamt wissen, muß ihn als Individualität innerhalb des zeitgenössischen jüdischen Kontextes erkennbar machen und mit der christlichen (kanonischen und nicht-kanonischen) Wirkungsgeschichte vereinbar sein.“

32 Methodisch bilden daher sozialgeschichtliche und politische Fragestellungen nicht den alleinigen Konstruktionshorizont (so in vielen amerikanischen oder amerikanisch beeinflussten Studien), sondern sie werden dort behandelt, wo die Texte es fordern; für Galiläa als spezifischem Lebensraum Jesu s.u. 3.4.5/3.8.1; für die politischen Dimensionen der Verkündigung Jesu s.u. 3.4.1.

33 Eine scharfsichtige Analyse der Kriterienfrage bietet nach wie vor E. SCHILLEBEECKX, Jesus, 70–87. Vgl. ferner J. P. MEIER, A Marginal Jew I (s.o. 3), 167–195, der nach eingehender Diskussion folgende Kriterien vorschlägt: 1) Embarrassment (Verlegenheitskriterium, d.h. Ereignisse, die im frühen Christentum als anstößig eingestuft werden mussten und deshalb kaum nachösterlich entstanden sind; bei E. SCHILLEBEECKX, Jesus, 78f, ‚störende‘ Überlieferungen; hier: Anstößigkeitskriterium). 2) Discontinuity (Worte, die weder aus dem Judentum noch aus dem frühen Christentum zu erklären sind; bei E. SCHILLEBEECKX, Jesus, 79f, doppelte Unreduzierbarkeit; hier: Differenz- bzw. Unähnlichkeitskriterium). 3) Multiple Attestation (Mehrfachbezeugung; bei E. SCHILLEBEECKX, Jesus, 82f, ‚cross-section‘; hier: Mehrfachbezeugung). 4) Criterion of Coherence (Zusammenhang; bei E. SCHILLEBEECKX, Jesus, 83f, ‚inhaltliche Konsistenz‘; hier: Kohärenzkriterium). 5) Criterion of Rejection and Execution (Ablehnung und Hinrichtung Jesu, d.h. Ereignisse, die zu seiner Verhaftung und Verurteilung führten; bei E. SCHILLEBEECKX, Jesus, 84f, Kriterium der Verwerfung der Botschaft und Praxis Jesu/‚Exekutions-Kriterium‘; hier: Ablehnung und Verwerfung). Als nicht tauglich bewertet MEIER folgende Kriterien: a) Traces of Aramaic; b) Palestinian Environment; c) Vividness of Narration; d) Tendencies of the developing Synoptic Tradition; e) Historical Presumption.

34 R.BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition (s.o. 3.1.1), 322. Zur Geschichte des Differenzkriteriums vgl. G.THEISSEN/D.WINTER, Kriterienfrage, 28–174.

35 A.SCRIBA, Echtheitskriterien, 107–114, postuliert in Verbindung mit der Plausibilität und Wirkungsgeschichte das Kriterium der ‚Datenauswertung‘: „Zu diesen Daten gehören vornehmlich die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer, Jesu Verzicht auf die Taufe während seines eigenen Wirkens, das Datum der Hinrichtung Jesu, die Modalitäten und Charakteristika der Ostervisionen und die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme der Taufe im frühen Christentum“ (a.a.O., 240).

36 F.HAHN, Methodologische Überlegungen zur Rückfrage nach Jesus, 40–51, spricht von ‚Komponenten‘, W.THÜSING, Neutestamentliche Theologie I, 57–71, von ‚Strukturkomponenten‘ des Wirkens Jesu, zu denen besonders die Konflikte Jesu, die Basileia-Verkündigung und der Nachfolgeruf gehören.

37 Zur Analyse des Textes vgl. K.BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes (s.o. 3.2), 266–274; ST.MASON, Flavius Josephus und das Neue Testament, Göttingen 2000, 230–245.

38 Nach Lk 1,36 war der Täufer nur sechs Monate älter als Jesus; historisch ist dies eher unwahrscheinlich, denn diese Tradition will Jesus bewusst nahe an den Täufer heranrücken; vgl. U.B. MÜLLER, Johannes der Täufer (s.o. 3.2), 17.

39 Vgl. H.STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus (s.o. 3.2), 304: „Diese herkunftmäßige, priesterliche Mittlerqualität des Johannes war sicherlich die entscheidende Komponente seiner aktiven Rolle beim Taufen, die ihn als rituellen Stellvertreter Gottes zum Täufer und die durch ihn vollzogene Taufe zum wirksamen Sakrament gemacht hat.“

40 Das Sigel Q benennt die für die Logienquelle vermutete Textgestalt nach der lukanischen Reihenfolge; Grundlage ist in der Regel: P.HOFFMANN/CHR.HEIL (Hg.), Die Spruchquelle Q (s.u. 8.1).

41 Vgl. dazu H.STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus (s.o. 3.2), 294ff. Nach Joh 1,28 taufte Johannes „in Bethanien jenseits des Jordans“ und nach Joh 3,23 „in Ainon nahe bei Salim“. Diese joh. Sondertraditionen lassen sich jedoch nicht überzeugend lokalisieren; vgl. hier J.ERNST, Wo Johannes taufte, in: Antikes Judentum und Frühes Christentum (FS H.Stegemann), hg. v. B.Kollmann/W.Reinbold/A.Steudel, BZNW 97, Berlin 1999, 350–363.

42 Vgl. H.STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus (s.o. 3.2), 296f: „Denn Johannes hatte als Ort seines öffentlichen Auftretens genau jene Stelle gegenüber Jericho gewählt, wo einst Josua das Volk Israel durch den Jordan hindurch in das Heilige Land hineingeführt hatte (Jos 4,13.19). Die Wahl des Ostufers des Jordans als Wirkungsstätte entsprach dabei der einstigen Situation Israels vor dem Durchschreiten des Flusses.“

43 Während die Anekdote in Mk 6,17–29 die Verwandtschaftsverhältnisse der Herodianer als Grund angibt, nennt Josephus politische Gründe: Johannes war so erfolgreich, dass ihm alles Volk zulief und Herodes Antipas diesen erfolgreichen Konkurrenten und Kritiker aus dem Weg schaffen ließ; zur Diskussion der Probleme vgl. U.B.MÜLLER, Johannes der Täufer (s.o. 3.2), 76–93.

44 Eine Darstellung aller relevanten Interpretationsmodelle bietet E.-M.BECKER, „Kamelhaare … und wilder Honig“, in: Die bleibende Gegenwart des Evangeliums (FS O.Merk), hg. v. R.Gebauer/M.Meiser, MThSt 76, Marburg 2003, 13–28; eigene Akzente setzt H.STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus (s.o. 3.2), 298, der den Kamelhaarmantel als vornehme Kleidung interpretiert und meint: „In Olivenöl gesottene Heuschrecken schmecken ähnlich wie Pommes frites. Ebenso wie Wildbienenhonig sind sie eine Leckerei.“

45 Zu den prophetischen Traditionen bei Johannes vgl. M.TILLY, Johannes der Täufer und die Biographie der Propheten, BWANT 17, Stuttgart 1994.

46 Vgl. Gen 19,24; Ex 9,24; Lev 10,2; Num 11,1; Joel 3,3; Mal 3,19; Jes 66,15f u.ö. Mit seiner Gerichtsandrohung variiert der Täufer die prophetische Tradition vom „Tag Jahwes“ (vgl. Am 5,20; Jes 13,3.6.9.13; Ez 7,3.7.8.19; 30,3; Hab 3,12; Joel 2,2; Zeph 1,15.18; Mal 3,2 u.ö.). Zu den Traditionen der Täuferverkündigung vgl. F.LANG, Erwägungen zur eschatologischen Verkündigung Johannes des Täufers, in: Jesus Christus in Historie und Theologie (FS H.Conzelmann), hg. v. G.Strecker, Tübingen 1975, 459–473.

47 Zur Typologie von Gerichtsvorstellungen vgl. E.BRANDENBURGER, Gerichtskonzeptionen im Urchristentum und ihre Voraussetzungen. Eine Problemstudie, in: ders., Studien zur Geschichte und Theologie des Urchristentums, SBAB.NT 15, Stuttgart 1993, 289–338; M.WOLTER, „Gericht“ und „Heil“ (s.u. 3.7), 364–369.

48 Dies betont zu Recht M.WOLTER, „Gericht“ und „Heil“ (s.u. 3.7), 367f: „Der Richter handelt als Retter und umgekehrt; das Richten und das Retten Gottes sind ‚Korrelate‘ ein und desselben Handelns Gottes.“

49 Vgl. hier H.MERKLEIN, Die Umkehrpredigt bei Johannes dem Täufer und Jesus von Nazareth, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, Tübingen 1987, 109–126.

50 Die Worte πνεύματι ἁγίῳ ϰαί sind mit großer Wahrscheinlichkeit eine christliche Interpretation; dafür spricht der Gegensatz von Wasser- und Geisttaufe, der auch sonst benutzt wird, um zwischen Johannestaufe und christlicher Taufe zu unterscheiden (vgl. Joh 1,33; Apg 19,1–7); vgl. U.B. MÜLLER, Johannes der Täufer (s.o. 3.2), 34.

51 Vgl. F.HAHN, Theologie I, 50.

52 Für den Menschensohn plädiert J.BECKER, Jesus von Nazareth (s.o. 3), 54–56.

53 So G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus (s.o. 3), 196: „Da das von Jesus angesagte Heil als dem Täufer überlegen dargestellt wird und zugleich sachlich und zeitlich an dessen Person gebunden wird (vgl. auch Mt 11,12/Lk 16,16; Mt 11,16–19par.), kann man vermuten, dass Jesus sich mit der vom Täufer angesagten Mittlergestalt identifiziert hat.“

54 So u.a. J.ERNST, Johannes der Täufer (s.o. 3.2), 305; H.STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus (s.o. 3.2), 299; U.B. MÜLLER, Johannes der Täufer (s.o. 3.2), 34.

55 Vgl. H.STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus (s.o. 3.2), 302: „Tatsächlich hatte bis zum Auftreten des Johannes weder im Judentum noch in dessen Umwelt irgend jemand andere Menschen getauft. Zwar gab es eine Fülle kultischer Reinigungsriten bis zum Untertauchen des ganzen Körpers; doch vollzog jeder solche Reinigungsriten ganz eigenständig, ohne die Mitwirkung eines Taufenden.“

56 Vgl. J.BECKER, Jesus von Nazareth (s.o. 3), 56f.

57 Zur Analyse vgl. K.BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes (s.o. 3.2), 68–83.

58 Dies betont nachdrücklich K.BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes (s.o. 3.2), 110–112.

59 Vgl. J.P. MEIER, A Marginal Jew II (s.o. 3), 129. Die Täuferanfrage in Q 7,18f halte ich mit vielen anderen für nachösterlich; zur Begründung vgl. z.B. K.BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes (s.o. 3.2), 116–126.

60 Die Überwindung des Satans galt als ein Zeichen der anbrechenden Heilszeit; vgl. AssMos 10,1. Zur Auslegung von Lk 10,18 s.u. 3.6.2; die Kompositionsabfolge ‚Auftreten des Täufers – Taufe Jesu – Versuchung‘ in Q, Mk, Mt und Lk bestätigt einen Zusammenhang zwischen der Verbindung zum Täufer, der Erkenntnis der Entmachtung des Satans und dem öffentlichen Auftreten Jesu.

61 Vgl. M.ALBANI, Der eine Gott und die himmlischen Heerscharen. Zur Begründung des Monotheismus bei Deuterojesaja im Horizont der Astralisierung des Gottesverständnisses im Alten Orient, ABG 1, Leipzig 2000.

62 Mk 10,18 und Mt 23,9 können in ihrer paränetischen Ausrichtung nicht für Jesus in Anspruch genommen werden; zur Begründung vgl. H.MERKLEIN, Einzigkeit Gottes (s.o. 3.3), 155.

63 Vgl. zur Analyse O.HOFIUS, Jesu Zuspruch der Sündenvergebung, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, 38–56.

64 Vgl. H.MERKLEIN, Einzigkeit Gottes (s.o. 3.3), 155–160.

65 Zeus wird sehr häufig als ‚Vater‘ angeredet; vgl. u.a. Hom, Il XXIV 308; Hes, Theog 47–49; Dio Chrys, Or 1,39f; 2,75; 12,74f (Zeus als Vater, König, Beschützer und Retter aller Menschen); 36,31.35.36.

66 Vgl. z.B.Dtn 32,6; Jes 63,16; 64,7; Jer 3,4; Sir 23,1.4; 51,10; Weish 14,3; 3Makk 5,7; 6,3.8; 7,6.

67 Zur sprachlichen Analyse von vgl. G.SCHELBERT, Abba, Vater!, FZPhTh 40 (1993), 259–281; 41 (1994), 526–531: ist Äquivalent für den normalen Begriff ‚Vater‘ und wurde in Angleichung an ‚Mutter‘ gebildet. Vgl. zu πατήρ in jüdischen Gebeten Weish 6,3.8; Weish 14,3; Sir 23,1a.4aLXX.

68 Gegen J.JEREMIAS, Theologie I, 73: „Die völlige Neuheit und Einmaligkeit der Gottesanrede ᾿Abba in Jesu Gebeten zeigt, daß sie das Herzstück des Gottesverhältnisses Jesu ausdrückt. Er hat mit Gott geredet wie ein Kind mit seinem Vater: vertrauensvoll und geborgen und zugleich ehrerbietig und bereit zum Gehorsam.“

69 H.SCHÜRMANN, Das „eigentümlich Jesuanische“ im Gebet Jesu. Jesu Beten als Schlüssel für das Verständnis seiner Verkündigung, in: ders., Jesus. Gestalt und Geheimnis, hg. v. K.Scholtissek, Paderborn 1994, (45–63) 47.

70 Vgl. J.BECKER, Das Gottesbild Jesu (s.o. 3.3), 109f.

71 Vgl. E.GRÄSSER, Jesus und das Heil Gottes, in: ders., Der Alte Bund im Neuen, WUNT 35, Tübingen 1985, (181–200) 194–198.

72 D.SÄNGER, Schriftauslegung im Horizont der Gottesherrschaft, in: Christlicher Glaube und religiöse Bildung (FS F.Kriechbaum), hg. v. H.Deuser/G.Schmalenberg, GSTR 11, Gießen 1995, (75–109) 107.

73 Für die griechische Tradition vgl. Plut, Mor 1075E, wo der Kritik der Stoiker an den Epikureern zugestimmt wird: „Denn die Gottheit müsse nicht nur als unsterblich und glückselig begriffen werden, sondern auch als menschenfreundlich, fürsorglich und helfend (οὐ γὰρ ἀϑάνατον ϰαὶ μαϰάριον μόνον ἀλλὰ ϰαὶ φιλάνϑρωπον ϰηδεμονιϰὸν ϰαὶ ὠφέλιμον). Dies trifft zu.“

74 Zur umfänglichen Symboldiskussion vgl. G.KURZ, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 41997; M.MEYER-BLANCK, Vom Symbol zum Zeichen, Hannover 1995. Symbole (gr. σύμβολον = Zeichen, Sinnbild/συμβάλλειν = zusammenwerfen, verbinden, vergleichen) haben stets Verweischarakter und eine Brückenfunktion, deshalb sind sie immer auch interpretationsbedürftig und offen für eine metaphorische Auslegung. Metaphorische Rede (gr. μεταφορά = Übertragung/μεταφορέω = übertragen) ist „eine Stilfigur, in der vermittels eines sprachlichen Bildes, d.h. in übertragenem Sinn, auf einen Sachverhalt Bezug genommen wird“ (PH.LÖSER, Art. Metapher, RGG4 5, Tübingen 2002, 1165), d.h. das bewusste Sprachspiel von Ähnlichem mit Unähnlichem. Auch die Metapher vollbringt eine Transferleistung, ihre Bildhaftigkeit zwingt dazu, die Bedeutung aus dem jeweiligen Kontext zu erarbeiten. Metaphorischer Rede eignet immer ein kreatives Element, es wird etwas neu geschaffen oder erschlossen, ein neuer Zusammenhang gebildet, eine neue Ordnung etabliert. Symbol und metaphorische Rede/Metapher sind in der unabgeschlossenen Polyvalenz der Bildersprache nur schwer zu trennen; die Metapher ist zuallererst eine Sprachform, beim Symbol wird etwas Vorhandenes/Konkretes mit einer neuen Bedeutung aufgeladen. „Bei Metaphern ist unsere Aufmerksamkeit mehr auf Wörter gerichtet, auf semantische Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten sprachlicher Elemente. Bei Symbolen ist unsere Aufmerksamkeit auf die dargestellte Empirie gerichtet“ (G.KURZ, Metapher, Allegorie, Symbol, 73). Metaphern müssen gesprochen/gelesen werden und beziehen sich auf die Gegenwart, Symbole hingegen verbinden Vergangenheit und Zukunft und haben Resultatcharakter.

75 Vgl. P.TILLICH, Systematische Theologie I, Stuttgart 51977, 280: „Von Gott als dem Lebendigen müssen wir in symbolischen Begriffen reden. Jedes wahre Symbol partizipiert jedoch an der Wirklichkeit, die es symbolisiert.“

76 Vgl. dazu W.H. SCHMIDT, Königtum Gottes in Ugarit und Israel, BZAW 80, Berlin 21966; J.JEREMIAS, Das Königtum Gottes in den Psalmen, FRLANT 141, Göttingen 1987; H.SPIECKERMANN, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen, FRLANT 148, Göttingen 1989; ST.SCHREIBER, Gesalbter und König, BZNW 105, Berlin 2000, 41–142 (Gott als König im AT und antiken Judentum).

77 Vgl. hier den Sammelband M.HENGEL/A.M. SCHWEMER (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, WUNT 55, Tübingen 1991.

78 Die Königsmetaphorik ist im gesamten Hellenismus in verschiedenen Motivkomplexen weit verbreitet; in seinen Überlegungen zum wahren Herrscher sagt Dio Chrys, Or 1,39f: „Denn Zeus hat als einziger unter den Göttern die Beinamen ‚Vater‘ und ‚König‘ (πατὴρ ϰαὶ βασιλεύς), ‚Polieus‘, ‚Philios‘, ‚Hetaireios‘ und ‚Homognios‘, ferner ‚Hikesios‘, ‚Pliyxios‘ und ‚Xenios‘ und zahllose andere Beinamen, die alle etwas Gutes bedeuten und Urheber von Gutem sind. ‚König‘ heißt er wegen seiner Herrschaft und Macht (βασιλεῦς μὲν ϰατὰ τὴν ἀρχὴν ϰαὶ τὴν δύναμιν ὠνομασμένος), ‚Vater‘ vermutlich wegen seiner Fürsorge und Milde“ (πατὴρ δὲ οἶμαι διά τε τὴν ϰηδεμονίαν ϰαὶ τὸ πρᾷον); vgl. ferner Dio Chrys, Or 2,73–78; Epict, Diss III 22,63. Grundlegend ist dabei die Vorstellung, dass die göttliche Herrschaft im Kosmos als Vorbild für das wahre Königtum auf Erden anzusehen ist.

79 Das Zion-Motiv betont J.BECKER, Jesus von Nazareth (s.o. 3), 105ff.

80 Vgl. dazu A.M. SCHWEMER, Gott als König und seine Königsherrschaft in den Sabbatliedern aus Qumran, in: M.Hengel/A.M. Schwemer (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, 45–118.

81 Vgl. 4Q401 14i: „Denn du wirst geehrt von den Häuptern der Herrschaftsbereiche in allen Himmeln der Königsherrschaft deiner Herrlichkeit, um zu loben deine Herrlichkeit wunderbar unter den Göttlichen der Erkenntnis und die Preiswürdigkeit deiner Königsherrschaft unter den Heiligen der Heiligen“ (Übers.: A.M. Schwemer, Gott als König und seine Königsherrschaft in den Sabbatliedern aus Qumran, 81).

82 Zitiert nach BILLERBECK IV/1, 212.

83 Zitiert nach M.PHILONENKO, Das Vaterunser, Tübingen 2002, 25.

84 Vgl. die Darstellung bei P.SCHÄFER, Geschichte der Juden in der Antike, Neukirchen 1983, 95–133.

85 Vgl. dazu J.L. REED, Archaeology and the Galilean Jesus, Harrisburg 2002; J.D. CROSSAN/J.L. REED, Jesus ausgraben (s.o. 3), 73–91.

86 Einen Überblick vermittelt: S.FORTNER, Tiberias – eine Stadt zu Ehren des Kaisers, in: G.Fassbeck u.a. (Hg.), Leben am See Gennesaret, Mainz 2003, 86–92.

87 Dazu ist nach wie vor lesenswert: R.MEYER, Der Prophet aus Galiläa, Leipzig 1940; vgl. ferner R.A. HORSLEY/J.S. HANSON, Bandits, Prophets and Messiahs. Popular Movements in the Time of Jesus, Harrisburg 1999; J.D. CROSSAN/J.L. REED, Jesus ausgraben (s.o. 3), 170–221 (Formen des aktiven und passiven Widerstandes gegen die Römer); umfassende Darstellung bei CHR.RIEDO-EMMENEGGER, Prophetischmessianische Provokateure der Pax Romana. Jesus von Nazareth und andere Störenfriede im Konflikt mit dem Römischen Reich, NTOA 56, Fribourg/Göttingen 2005, 245–275. Jos, Ant 17,271–272, berichtet aus der Folgezeit nach dem Tod Herodes d. Gr.: „Ferner sammelte ein gewisser Judas, der Sohn des Anführers Ezechias, der eine große Macht besaß und von Herodes nur mit Mühe niedergehalten worden war, bei Sepphoris, einer Stadt in Galiläa, eine Schar verkommener Menschen, griff damit den Königspalast an, bemächtigte sich der dort vorhandenen Waffen, teilte sie unter den Seinen aus, raubte auch das dort aufbewahrte Geld und verbreitete allseitig Schrecken, indem er jeden, der ihm in die Hände fiel, ausplünderte und fortschleppte; er strebte sogar nach der Königsherrschaft (ζηλώσει βασιλείου) und glaubte, sie nicht so sehr durch Tapferkeit, als vielmehr durch zügellose Zerstörungssucht erringen zu können“; zu weiteren Texten s.u. 3.6.1.

88 Vgl. hier G.THEISSEN, Die Jesusbewegung (s.o. 3), 131–241; R.A. HORSLEY, Archaeology, History and Society in Galilee, Harrisburg 1996.

89 Ein schönes Beispiel ist Jos, Vita, 374–384, wo von den Konflikten zwischen der Landbevölkerung und den überwiegend römerfreundlichen Einwohnern von Sepphoris und Tiberias berichtet wird; die Landbevölkerung wollte beide Städte und ihre Bewohner auslöschen: „Sie hassten nämlich die Tiberienser genauso wie die Sepphoriten.“

90 Anders R.A. HORSLEY, Jesus and Empire (s.o. 3.4), 98, der ausdrücklich von „Jesus’ prophetic condemnation of Roman imperial rule“ spricht und sich dafür auf Texte wie Mk 12,17; 1,24; 3,22–27; 5,1–20 beruft. Horsley folgert aus der ‚political revolution‘ auch eine ‚social revolution‘: „In the confidence that the Roman imperial order stood under the judgement of God’s imminent kingdom, Jesus launched a mission of social renewal among subject peoples“ (a.a.O., 105). In der Gesamtheit gibt die Jesus-Überlieferung keinen Anlass für die offenbar gewünschte These, Jesus als Kämpfer gegen den römischen (und damit auch amerikanischen) Imperialismus zu sehen; vgl. die abgewogenen Überlegungen bei S.FREYNE, Jesus. A Jewish Galilean (s.u. 3.8.1), 136–149, der die sozialen Spannungen (vor allem die mit den Städtegründungen verbundenen ökonomischen Veränderungen) in Galiläa beschreibt, ohne sie zum Schlüssel seiner Interpretation zu machen. Vgl. auch CHR.RIEDO-EMMENEGGER, Prophetisch-messianische Provokateure der Pax Romana, 305f, der zutreffend darauf hinweist, dass sowohl der Täufer als auch Jesus nicht auf eine Veränderung der äußeren politischen Verhältnisse hinarbeiteten und nur unter dieser Voraussetzung erklärt werden kann, warum die Römer – anders als bei den messianischen Propheten – die jeweiligen Anhänger unbehelligt ließen. Jesus war in seinen Wirkungen keineswegs unpolitisch, aber die (heute Aufmerksamkeit heischende) Kategorie des Politischen ist nicht geeignet, Jesu Intentionen und seinen Selbstanspruch zu erfassen, d.h. sie ist historisch wie hermeneutisch nicht hinreichend.

91 T.ONUKI, Jesus (s.o. 3), 44ff, ordnet Jesu Rede vom ‚Reich Gottes‘ in ein umfangreiches mythologisches Netzwerk von Bildern ein, in denen Jesus lebte und dachte.

92 Vgl. O.CAMPONOVO, Königtum, Königsherrschaft und Reich Gottes in den frühjüdischen Schriften, 444: „Nirgends in der frühjüdischen Literatur steht die Herrschaft Gottes jedoch so im Zentrum der Verkündigung wie bei Jesus. Entsprechend finden sich bei Jesus auch viel mehr Präzisierungen des Symbols.“

93 Eine der ältesten Belege für das Abstraktnomen „Gottesherrschaft“ ist Ob 21: „Befreier ziehen auf den Berg Zion, um Gericht zu halten über das Bergland von Esau. Und der Herr wird herrschen als König.“

94 Vgl. H.MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s.o. 3.4), 27–36.

95 Für die Zurückführung auf Jesus sprechen der provokante Anspruch von Q 16,16 und der dunkle Sinn von V. 16b; zur Begründung vgl. H.MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 90.

96 Vgl. in diesem Sinn die Argumentation bei H.MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 85ff.

97 J.BECKER, Johannes der Täufer (s.o. 3.2), 76.

98 D.h. jeder, der in das Reich Gottes eingeht; μιϰρότερος ist ein Komparativ mit superlativischer Bedeutung; vgl. H.SCHÜRMANN, Lk I (s.u. 8.4), 418; F. BOVON, Lk II (s.u. 8.4) I, 378 A 50.

99 U.LUZ, Mt III (s.u. 8.3), 176, wertet ἐν τ βασιλείᾳ als Indiz für Gemeindebildung. Dagegen ist einzuwenden, dass in der Antike generell Reich/Herrschaft nicht ohne einen räumlichen Aspekt gedacht wurden.

100 Zur Analyse vgl. M.PHILONENKO, Das Vaterunser (s.o. 3.4.1), 51–68; U.Luz, Mt I (s.u. 8.3), 432–458.

101 Vgl. U.LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 447.

102 Zur Zurückführung auf Jesus vgl. H.MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 118; U.Luz, Mt II (s.u. 8.3), 14.

103 Terminworte wie Mk 9,1; 13,30; Mt 10,23 dürften nachösterlichen Urprungs sein; sie verheißen die Ankunft des Reiches Gottes (oder: des Menschensohns) noch zu Lebzeiten der Zuhörenden und trösten sie angesichts der Verzögerung des Kommens des Reiches Gottes.

104 Vgl. D.FLUSSER, Jesus (s.o. 3), 96: Jesus „ist der einzige uns bekannte antike Jude, der nicht nur verkündet hat, daß man am Rande der Endzeit steht, sondern gleichzeitig, dass die neue Zeit des Heils schon begonnen hat.“

105 Auf Jesus gehen die Seligpreisungen der Armen (Mt 5,3/Lk 6,20b), der Hungernden (Mt 5,6/Lk 6,21a) und der Trauernden (Mt 5,4/Lk 6, 21b) zurück. Dies ergibt sich nicht nur aus den Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas, sondern alle drei Makarismen sind durch die griechische π-Alliteration gekennzeichnet und heben sich dadurch von den anderen Makarismen ab; vgl. G.STRECKER, Die Bergpredigt, Göttingen 1984, 30; H.WEDER, Die ‚Rede der Reden‘, Zürich 1985, 40f. Formgeschichtliche Parallelen zur Redeform des Makarismus finden sich sowohl im Alten Testament (Jes 32,20; Dtn 33,29; Ps 127,2 u.ö.) als auch im antiken Judentum (Sap 3,13; AssMos 10,8; äthHen 58,2; 99,10); pagane Parallelen sind aufgelistet in: NEUER WETTSTEIN I/1.2, hg. v. U. Schnelle, Berlin 2013, 256–271. Ein Beispiel: Hes, Op 825, schließt um 700 v.Chr. sein epochales Werk über das Leben der Menschen mit der Sentenz: „Glücklich und gesegnet ist, wer all dies weiß, im Tun beherzigt, schuldlos gegen die Götter bleibt, auf den Vogelflug achtet und Übertretungen meidet.“

106 Die Verbindung von Eschatologie und Wundertätigkeit bei Jesus ist in dieser Form religionsgeschichtlich singulär; vgl. G.THEISSEN, Urchristliche Wundergeschichten (s.u. 3.6), 277.

107 Vgl. dazu ausführlich H.WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft (s.o. 3.4.), 34–41.

108 So H.WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft (s.o. 3.4), 39.

109 In seiner jetzigen Sprachgestalt geht der Vers überwiegend auf Markus zurück; dennoch kann er als sachgemäße Zusammenfassung der Verkündigung Jesu genommen werden; vgl. H.MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s.o. 3.4), 56–58.

110 H.WEDER betont sehr stark die Gegenwart als die einzige der Gottesherrschaft angemessene Zeitstufe, um so Jesus von apokalyptischen Vorstellungen abzusetzen: „Die besprochenen Jesuslogien von der Gottesherrschaft haben gezeigt, daß das Verständnis der Gegenwart der springende Punkt der eschatologischen Verkündigung Jesu ist. Dies ist festzuhalten gegenüber allen Versuchen, Jesus in den Rahmen des zeitgenössischen apokalyptischen Denkens zu bannen und dann das Verständnis der Zukunft zum entscheidenden Anliegen Jesu zu machen“; DERS., Gegenwart und Gottesherrschaft (s.o. 3.4), 49.

111 Zur Gleichnisforschung vgl. K.ERLEMANN, Gleichnisauslegung, 11–52.

112 Zur Formenlehre vgl. U.SCHNELLE, Einführung in die neutestamentliche Exegese, Göttingen 82014, 117–123. Ich verwende Gleichnis im umgangssprachlichen Sinn als Sammelbegriff und unterscheide bei den Einzeltexten zwischen Gleichnis und Parabel: Gleichnisse erzählen vertraute Vorgänge, übliche Erfahrungen, alltägliche Szenen; die jedem zugängliche und von jedem erfahrene Welt, ihre Gesetzmäßigkeit und Ordnung kommt zur Sprache. Parabeln interessieren sich hingegen für den besonderen Einzelfall; nicht das Übliche, sondern das Besondere ist im Blick.

113 In Mk 4,3–8 fehlt der ausdrückliche Bezug auf die βασιλεία; er wird aber von Inhalt und Kontext her nahegelegt.

114 Zur Auslegung vgl. H.WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, 108–111.

115 Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–30.36–43), das bei Mt den Platz von Mk 4,26–29 einnimmt, ist möglicherweise nachösterlich; vgl. dazu U.LUZ, Mt II (s.u. 8.3), 322f.

116 Es ist unklar, ob Senf z.Zt. Jesu angebaut wurde oder als eine Art Unkraut ohnehin fast überall wuchs; vgl. dazu CHR.KÄHLER, Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie, 85–88. Sollte es eine Art Unkraut gewesen sein, dann käme ein wichtiger Aspekt hinzu: „Die Metapher des Senfkornglaubens evoziert offenbar doch die Assoziation des Vorgangs massenhafter, unglaublicher und unwiderstehlicher Verbreitung“ (a.a.O., 92).

117 Vgl. dazu CHR.KÄHLER, Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie, 93.

118 Vgl. E.LINNEMANN, Gleichnisse, 108; anders H.WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, 140, der die Selbstverständlichkeit des Verhaltens betont.

119 H.WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, 140.

120 Mk 2,15–17 stellt eine selbständige Texteinheit dar, die älteste Traditionen wiedergibt; vgl. zur Rekonstruktion H.MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 199–201.

121 Zur umfassenden Interpretation vgl. W.PÖHLMANN, Der Verlorene Sohn und das Haus, WUNT 68, Tübingen 1993.

122 Vgl. E.LINNEMANN, Gleichnisse (s.o. 3.4.3), 72; J.JEREMIAS, Gleichnisse (s.o. 3.4.3), 135.

123 Vgl. E.LINNEMANN, Gleichnisse (s.o. 3.4.3), 71.

124 Vgl. hierzu M.PETZOLDT, Gleichnisse Jesu und christliche Dogmatik, Berlin 1983, 51–56.

125 Die von Jesus erzählte Parabel dürfte nur V. 23b–30 umfasst haben; ausführliche Analyse und Begründung bei A.WEISER, Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien, StANT 24, München 1970, 90ff.

126 Vgl. J.JEREMIAS, Gleichnisse (s.o. 3.4.3), 208.

127 Vgl. H.MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 191.

128 Vgl. H.MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 201–203; O.HOFIUS, Vergebungszuspruch und Vollmachtsfrage, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, 57–69 (68: „Die Erzählung Mk 2,1–12 setzt deutlich eine Handlungseinheit zwischen Gott und Jesus voraus“). Anders I.BROER, Jesus und das Gesetz, in: ders. (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Neukirchen 1992, 61–104, der Mk 2,1–12 ausschließlich innerhalb eines jüdischen Vorstellungsrahmens sieht und zudem als nachösterlich beurteilt.

129 Diesen Aspekt betonen L.SCHOTTROFF/W.STEGEMANN, Jesus von Nazareth – Hoffnung der Armen (s.o. 3), 29–53.

130 Zur rechtlichen Situation der Frau im Judentum vgl. G.MAYER, Die jüdische Frau in der hellenistischrömischen Antike, Stuttgart 1987.

131 Vgl. den umfassenden Nachweis bei CHR.HEIL, Die Ablehnung der Speisegebote durch Paulus, BBB 96, Weinheim 1994, 23–123. Auch die Konflikte um Speisevorschriften innerhalb des frühen Christentums (vgl. Apg 11,3; Gal 2,12–15) zeigen, dass hier ein entscheidender Streitpunkt lag.

132 Vgl. B.KOLLMANN, Urspung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier, GTA 43, Göttingen 1990, 234ff.

133 In ntl. Zeit versuchten die Pharisäer diese Unterscheidung für alle Lebensbereiche verbindlich zu machen; vgl. dazu J.NEUSNER, Die pharisäischen rechtlichen Überlieferungen, in: ders., Das pharisäische und talmudische Judentum, TSAJ 4, Tübingen 1984, (43–51) 51, der zu Recht die ‚Gesetzlichkeit‘ der Pharisäer als „eine Sache der Speisevorschriften“ bezeichnet.

134 Eine Q-Form lässt sich nicht mehr überzeugend rekonstruieren; vgl. dazu U.Luz, Mt III (s.u. 8.3), 232–238.

135 Diesen Aspekt hebt H.WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern (s.o. 3.4.3), 187, hervor: „Jetzt sollen sie kommen“.

136 Vgl. dazu S.C. BARTCHY, Der historische Jesus und die Umkehr der Ehre am Tisch, in: W.Stegemann/B.J. Malina/G.Theissen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten (s.o. 3), (224–229) 229: „Im Gegensatz zur gängigen Vorstellung, war für Jesus Ehre kein begrenzt vorhandenes Gut. Gott sorgt für das unbegrenzte Vorhandensein von Ehre.“

137 Zu den Zöllnern vgl. F.HERRENBRÜCK, Wer waren die Zöllner?, ZNW 72 (1981), (178–194) 194: „Die neutestamentlichen Zöllner sind sehr wahrscheinlich als hellenistische Kleinpächter anzusehen und deshalb weder römische Großsteuerpächter (publicani) noch deren Angestellte (portitores). Sie waren gewöhnlich reich und gehörten der gehobenen Mittelschicht bzw. der Oberschicht an.“

138 Vgl. B.KOLLMANN, Ursprung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier, 235ff.

139 Alle angeführten Aussagen über die Realität des Reiches Gottes lassen eine exklusive Bindung an die Person Jesu erkennen und sprechen gegen die These von G.THEISSEN, Gruppenmessianismus. Überlegungen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis Jesu, in: ders., Jesus als historische Gestalt, FRLANT 2002, Göttignen 2003, 255–281, wonach nicht nur Jesus, sondern auch die Jünger bereits vorösterlich Repräsentanten des Reiches Gottes gewesen sein sollen.

140 Vgl. dazu H.MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s.o. 3.4), 145–164.

141 Vgl. H.MOXNES, Putting Jesus in His Place. A Radical Vision of Household and Kingdom, Louisville 2003.

142 Alle Beobachtungen weisen darauf hin, dass ‚Reich/Herrschaft Gottes‘ bei Jesus in einem eschatologischen Kontext verstanden werden muss, so dass eine ‚un-eschatologische‘ und damit primär ethischpolitische Jesus-Interpretation, wie sie teilweise in der neueren amerikanischen Exegese vertreten wird (vgl. z.B. M.J. BORG, Jesus [s.o. 3], 33ff; B.L. MACK, Wer schrieb das Neue Testament? [s.o. 3.1], 62), schlicht am Textbefund scheitert.

143 A.RITSCHL, Unterricht in der christlichen Religion, Bonn 61903, 2.

144 A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums, Gütersloh 1977 (= 1900), 43.

145 J.WEISS, Die Predigt Jesu vom Reich Gottes, Göttingen 1892, 61.

146 A.SCHWEITZER, Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis. Eine Skizze des Lebens Jesu, in: ders., Ausgewählte Werke Bd.5, Berlin 1971 (= 1901), 232. Vgl. ähnlich aus der neueren Forschung D. C. ALLISON, Constructing Jesus (s.o. 3), 46: „our choice is not between an apocalyptic Jesus and some other Jesus; it is between an apocalyptic Jesus and no Jesus at all.“

147 Vgl. in diesem Sinn W.A. MEEKS, The Origins of Christian Morality, New Haven/London 1993, 4; W.STEGEMANN, Kontingenz und Kontextualität der moralischen Aussagen Jesu, in: W.Stegemann/B.J. Malina/G.Theissen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten (s.o. 3), (167–184) 167: „Jesus hat – nach meiner Meinung – keine Ethik formuliert und war auch kein Tugendlehrer. Seine Äußerungen zu bestimmten Werten und Überzeugungen seiner Gesellschaft und Kultur gehen vielmehr auf kontingente Problemstellungen zurück und machen nicht den Eindruck, dass sie das Ergebnis systematischer Reflexion sind oder eine Theorie des rechten Lebens oder des angemessenen Verhaltens sein wollen.“

148 Zu möglichen Unterscheidungen zwischen Ethik und Ethos s.u. 6.6.

149 Vgl. H.STEGEMANN, Der lehrende Jesus, NZSTh 24 (1982), (3–20) 12.

150 Der auf Jesus zurückgehende Grundbestand dieses Textes umfasst (ohne redaktionelle Zusätze) V. 25f.28–33; vgl. zur Begründung U.LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 471–476 (ohne V. 25d.e; 32a); J.GNILKA;, Mt I (s.u. 8.3), 252. Eine eindringende Analyse und Interpretation bietet H.MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip, 174–183.

151 In Mt 6,33 ist ϰαὶ τὴν διϰαιοσύνην αὐτοῦ matthäischer Zusatz; vgl. G.STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s.u. 8.3), 152.

152 Zu diesem Problemkreis vgl. M.EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozess, HBS 15, Würzburg 1998; D.ZELLER, Jesu weisheitliche Ethik, in: L.Schenke (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s.o. 3), 193–215. Zeller führt als Beispiele weisheitlicher Ethik bei Jesus an: Mk 5,42; 6,25b; 8,35.36f; 10,21; Mt 5,33–37.39b–40.44f; 6,7a.8b.19–21.24.26.28b–30.31–32b; 7,7.9–11; 10,29.31b; Lk 6,24.31.36–37; 16,25; 17,3b–4; 18,2–5.

153 Vgl. zur Analyse J.SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils (s.o. 3.5), 96–148.

154 Vgl. G.STRECKER, Bergpredigt (s.o. 3.4.2), 77.

155 Markinische Redaktion lässt sich nur in V. 13 nachweisen, so dass es durchaus möglich ist, das gesamte Apophthegma im Leben Jesu zu verankern; zur Analyse vgl. zuletzt ST.SCHREIBER, Caesar oder Gott (Mk 12,17)?, BZ 48 (2004), 65–85.

156 Deutet schon Mk 12,17 eine gewisse Distanz zu den Zeloten an, so dürfte Mt 26,52 als Kritik an den Zeloten zu verstehen sein („Stecke dein Schwert in die Scheide, denn alle, die das Schwert nehmen, werden durch das Schwert umkommen“). Schließlich sind Jesu Anweisungen in der Bergpredigt mit der Gewalt der Zeloten unvereinbar; zur Sache vgl. M.HENGEL, War Jesus Revolutionär?, Stuttgart 1970.

157 Vgl. G.STRECKER, Bergpredigt (s.o. 3.4.2), 64–67.

158 Vgl. H.MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.o. 3.5), 261 Anm.306; U.LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 338f.

159 Vgl. H.WEDER, Die ‚Rede der Reden‘ (s.o. 3.4.2), 114.

160 Zur Analyse vgl. U.LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 385f; G.STRECKER, Bergpredigt (s.o. 3.4.2), 86f. Matthäus fügt in V. 39b τὴν δεξιάν hinzu.

161 Parallelen finden sich in der jüdisch-hellenistischen Literatur, vor allem aber im Bereich der griechisch-römischen Philosophie. Bereits Pythagoras wird folgender Ausspruch zugeschrieben: „Man gehe so miteinander um, dass man sich die Freunde nicht zu Feinden, wohl aber die Feinde zu Freunden macht“ (Diog L 8,23); vgl. ferner Plato, Resp 334b–3; ders., Crito 49b-c; Sen, Ira II 32,1–33,1; III 42,3–43,2; ders., Ep 120,9–10; Mus 10; Epic, Diss I 25,28–31; II 10,13f.22–24; III 20,9–12; 22,54–56; IV 5,24; ders., Ench 42; Plut, Mor 143f–144a; 218a; 462c-d; 799c; weitere Texte in: NEUER WETTSTEIN I/1.2 (s.o. 3.4.2), 484–522 (zu Mt 5,44).

162 Vgl. J. P. MEIER, A Marginal Jew IV, 573f: „The historical Jesus is both deeply steeped in the Jewish Scriptures – as well as the legal debates about them – and at the same time open to the cultural influences of the larger Greco-Roman world. … On the other hand, as we have seen at length, the clearest contemporary parallels to Jesus’ teaching on love of enemies are found in pagan Stoic philosophers.“

163 Treffend F. BOVON, Lk I (s.u. 8.4), 319f: „Im Akt der Feindesliebe handelt der Christ für die Zukunft seiner Gegner… In der Haltung der Christen entdeckt der Feind ein Gegenüber, wo er einen Gegner erwartete. Wenn er diese neue Situation anerkennt, darf man eine neue Einstellung zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen und zu Gott erhoffen.“

164 In der vorliegenden Form geht der Text nicht auf Jesus zurück, als geschlossene Einheit dürfte Mk 10,42–44 aber eine längere Traditionsgeschichte durchlaufen haben; vgl. J.GNILKA, Mk II (s.u. 8.2), 99f. Wenn in der Jesusbewegung über die gerechte Herrschaft debattiert wurde, dann dürfte am Ausgangspunkt ein Impuls der Verkündigung Jesu gestanden haben, zumal sich der Aspekt des Dienens in die Tendenzen der Gesamtverkündigung Jesu bestens einfügt.

165 Sachlich entspricht diese Position der Vision, die Dio Chrysostomus von der idealen Herrschaft entwirft; vgl. ders., Or 1–3.

166 Die jesuanische Herkunft von Mt 7,1 ist unumstritten; vgl. G.STRECKER, Bergpredigt (s.o. 3.4.2), 148f; U.LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 488.

167 Zur Analyse aller relevanten Texte vgl. J.SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils (s.o. 3.5), 277–343.

168 Reichtumskritik findet sich überall in der Antike; vgl. z.B.Dio Chrys, Or 4,91. Allerdings bleibt die Radikalität der Aussagen Jesu bestehen, denn er vermeidet Sublimierungen, wie sie z.B. der römische Millionär Seneca vornimmt: „Der kürzeste Weg zum Reichtum ist die Verachtung des Reichtums“ (Ep 62,3).

169 Vgl. dazu M.HENGEL, Nachfolge und Charisma, BZNW 34, Berlin 1968, 9–17.

170 Nach E.P. SANDERS, Jesus and Judaism (s.o. 3), 267, ist dies der einzige Fall, wo Jesus eine Übertretung von Toravorschriften fordert.

171 Den Aspekt der zeitlichen und sachlichen Bedingtheit der ethischen Radikalismen betont A.SCHWEITZER, Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis (s.o. 3.4.5), 229, im Hinblick auf das Offenbarwerden des Reiches Gottes: „Als Buße auf das Reich Gottes hin ist auch die Ethik der Bergpredigt Interimsethik.“ Es gilt: „Jede ethische Norm Jesu, möge sie auch noch so vollendet sein, führt also nur bis an die Grenze des Reiches Gottes, während jeglicher Pfad verschwindet, sobald man sich auf dem neuen Boden bewegt. Dort braucht man keinen“ (a.a.O., 232). Dies bedeutet nach Schweitzer jedoch keineswegs, dass Jesu Ethik für das Handeln der Menschen in der Welt (bis zum Anbrechen des Reiches Gottes) inhaltlich aufzugeben sei, denn nur die Naherwartung als Begründung der Ethik Jesu kann nicht übernommen werden. Das ‚Interim‘ bezieht sich also auf die Begründung und nicht auf den Inhalt!

172 Vgl. H.WEDER, Die ‚Rede der Reden‘ (s.o. 3.4.2), 154.

173 Vgl. J.ECKERT, Wesen und Funktion der Radikalismen in der Botschaft Jesu, MThZ 24 (1973), (301–325) 319.

174 Vgl. G.BORNKAMM, Das Doppelgebot der Liebe, in: ders., Geschichte und Glaube I, München 1968, 37–45; CHR.BURCHARD, Das doppelte Liebesgebot in der frühchristlichen Überlieferung, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, WUNT 107, Tübingen 1998, 3–26 (= 1970); M.EBERSOHN, Das Nächstenliebegebot in der synoptischen Tradition, MThSt 37, Marburg 1993.

175 Vgl. dazu vor allem G.THEISSEN, Das Doppelgebot der Liebe. Jüdische Ethik bei Jesus, in: ders., Jesus als historische Gestalt (s.o. 3) 57–72.

176 Vgl. nur Arist 131; Philo, SpecLeg 2,63.95; 4,147; TIss 5,2; 7,6; TSeb 5,3; TJos 11,1). Zahlreiche weitere Belege bieten K.BERGER, Die Gesetzesauslegung Jesu I (s.u. 3.8), 99–136; A.NISSEN, Gott und der Nächste im antiken Judentum, WUNT 15, Tübingen 1974, 224–246.389–416; BILLERBECK I, 357–359; III, 306; O.WISCHMEYER, Das Gebot der Nächstenliebe bei Paulus, BZ 30 (1986), (153–187) 162ff.

177 Vgl. M.HENGEL, Jesus und die Tora (s.u. 3.7), 170.

178 Vgl. G.THEISSEN, Das Doppelgebot der Liebe 69: „Das mk Doppelgebot der Liebe kann keine urchristliche Schöpfung sein, da sein Monotheismus die Verehrung Jesu als Herrn neben Gott ausschließt und das positive Bild vom Schriftgelehrten in eine Zeit vor die grundsätzlichen Spannungen zwischen Christen und Juden weist.“ Theißen vermutet, dass Jesus das Doppelgebot von Johannes d. T. übernommen habe.

179 M.HENGEL, Jesus der Messias Israels, in: ders./A.M. Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu (s.u. 3.9), 75, sieht in der Formulierung des Doppelgebotes „jenseits von Mose und allen Profeten“ einen Hinweis auf Jesu messianischen Anspruch.

180 Zur Auslegung vgl. W.HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu (s.o. 3.4.3), 275–296; PH.F.ESLER, Jesus und die Reduzierung von Gruppenkonflikten, in: W.Stegemann/B.J. Malina/G.Theissen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten (s.o. 3), 197–211.

181 Die vorliegende Erzählung geht nicht auf Jesus zurück, wohl aber darf eine Grundform mit einem stabilen narrativen Schema für Jesus in Anspruch genommen werden: „a) Jesus wird zu einem Mahl eingeladen, b) eine Frau kommt hinzu und salbt Jesus, c) diese Geste löst eine negative Reaktion aus, d) Jesus verteidigt die angeklagte Frau und e) anerkennt ihr Handeln als lobenswert“; F. BOVON, Lk I (s.u. 8.4), 387f.

182 Vgl. J. P. MEIER, A Marginal Jew II (s.o. 3), 726: „To summarize: various criteria of historicity suggest that the historical Jesus performed certain actions during his public ministry that both he and some of his contemporaries thought were miraculous healings of the sick or infirm.“ Weiter geht C. S. KEENER, Miracles II, 763: „I believe that a reader without Humean premises, who allow for the possibility of supernatural explanations among others, would find sufficient cases to render the hypothesis of a supernatural explanation probable in those cases, hence challenging prejudice against such a possibility.“

183 Zu erwähnen ist auch das Zeugnis des Josephus, Ant 18,63f, das in seinem Kern historisch sein dürfte (vgl. G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus [s.o. 3], 74–82) und Jesus auch als Wundertäter erwähnt: „… Er war nämlich der Vollbringer ganz erstaunlicher Taten und der Lehrer aller Menschen …“; bemerkenswert ist ferner, „dass die innerjüdische Wirkungsgeschichte aufs engste mit Jesu Wundern verknüpft ist – enger jedenfalls als jedwege Verkündigungsaussage Jesu!“ (M.BECKER, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum, 424).

184 Vgl. hierzu die Darstellung bei B.KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s.o. 3.6), 61–118 (Hellenismus); 118–173 (antikes Judentum).

185 Zu nennen ist vor allem 4Q 510,4f: „und ich, der Weise, proklamiere die Majestät seiner Schönheit, um in Furcht und Schrecken zu versetzen alle Geister der Zerstörungsengel und die Geister der Bastarde, die Dämonen, Lilith …“(zitiert nach B.KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter [s.o. 3.6], 136).

186 B.KOLLMANN, a.a.O., 137.

187 Vgl. hierzu M.BECKER, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum (s.o. 3.6), 290–337. Zu erwähnen ist auch der Exorzist Eleazar, der um 70 n.Chr. in Palästina wirkte und nach Jos, Ant 8,46–48, vor den Augen Vespasians und seiner Soldaten von Dämonen Besessene geheilt haben soll.

188 Ausführliche Darstellung und Analyse aller wichtigen Texte bei M.BECKER, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum (s.o. 3.6), 337–378. Becker, a.a.O., 377, wertet z.R. die Texte, in denen Chanina als ‚Sohn Gottes‘ bezeichnet wird, als Reflex auf christliche Traditionen.

189 G.VERMES, Hanina ben Dosa, in: ders., Post-Biblical Jewish Studies, SJLA 8, Leiden 1975, (178–214) 197.

190 Vgl. P.BARNETT, The Jewish Sign Prophets – A.D. 40–47. Their Intentions and Origin, NTS 27 (1981) 679–697 (zu weiteren Texten und Literaturangaben s.o. 3.4.1).

191 Vgl. hierzu E.KOSKENNIEMI, Apollonius von Tyana in der neutestamentlichen Exegese, WUNT 2.61, Tübingen 1994.

192 Eine Auflistung der vergleichbaren Texte findet sich bei G.PETZKE, Die Traditionen über Apollonius von Tyana und das Neue Testament, SCHNT 1, Leiden 1970, 124–134; vgl. auch die umfangreiche Materialsammlung in: G.LUCK, Magie und andere Geheimlehren in der Antike, Stuttgart 1990.

193 An einer Stelle ist christlicher Einfluss auf die Apollonius-Überlieferung offensichtlich, denn die Erzählung über die Wiederbelebung einer jungen Frau in Rom (Philostr, Vit Ap IV 45) dürfte sich Lk 7,11–17 verdanken.

194 Darüber besteht in der gegenwärtigen Forschung Konsens; vgl. nur D.TRUNK, Der messianische Heiler (s.o. 3.6), 428f; B.KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s.o. 3.6), 306: „Das Wunderwirken Jesu beschränkt sich höchstwahrscheinlich auf Dämonenaustreibungen und Krankenheilungen, an deren Faktizität nicht zu zweifeln ist.“ Auch G. THEISSEN, Wunder Jesu und urchristliche Wundergeschichten. Historische, psychologische und theologische Aspekte, in: B. Kollmann/R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen, WUNT 339, Tübingen 2014, (67–86) 74, betont nach einer kritischen Prüfung, dass zwar nicht „die Geschichtlichkeit jeder Erzählung“, wohl aber „allgemeine Züge einer Heil- und Exorzismustätigkeit Jesu … historisch gut bezeugt“ sind.

195 Eine Analyse aller Texte findet sich bei B.KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s.o. 3.6), 174–215.

196 Zur ausführlichen Analyse vgl. D.TRUNK, Der messianische Heiler (s.o. 3.6), 40–93.

197 Die Bedeutung von Lk 10,18 ist in der Exegese umstritten; speziell S.VOLLENWEIDER, „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ (Lk 10,18), ZNW 79 (1988), 187–203; H.WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft (s.o. 3.4), 43 („Jesus bringt nicht die Basileia, sondern die Basileia bringt Jesus mit sich. Deshalb ist Jesus nicht ein Faktor im Kampf um die eschatologische Wende, vielmehr stellt sein Leben die Feier dieser Wende dar“), bestreiten, dass die Kampfmetaphorik für Jesu Verkündigung und Wirken typisch sei. Gegen eine solche prinzipielle Argumentation sprechen nicht nur zahlreiche Einzeltexte (so macht z.B. die Bitte um die Befreiung vom Bösen in Mt 6,13b nur Sinn, wenn das Böse noch Macht auszuüben vermag), sondern vor allem der dynamische Reich-Gottes-Begriff, der die grundsätzliche, nicht aber die bereits gänzlich erfolgte Vernichtung des Satans voraussetzt. Zur Bedeutung von Lk 10,18 vgl. u.a. H.MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s.o. 3.4), 68–72; J.BECKER, Jesus von Nazaret (s.o. 3), 211–233; B.KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s.o. 3.6), 191–195; M.THEOBALD, „Ich sah den Satan aus dem Himmel stürzen“. Überlieferungskritische Beobachtungen zu Lk 10,18–20, BZ 49 (2005), 174–190; T.ONUKI, Jesus (s.o. 3), 48f.

198 Vgl. H.STEGEMANN, Der lehrende Jesus (s.o. 3.5), 15.

199 Vgl. G.THEISSEN, Urchristliche Wundergeschichten (s.o. 3.6), 277: „Jesus versteht seine Wunder selbst als Ereignisse, die auf etwas Nie-Dagewesenes hinzielen.“

200 Lk 13,11–13 ist eine Exorzismuserzählung (V. 11: „…eine Frau hatte seit 18 Jahren einen Geist, der sie krank machte…“), die sekundär zu einer Sabbatheilung wurde (vgl. V. 14).

201 CHR.STRECKER, Jesus und die Besessenen, in: W.Stegemann/B.J. Malina/G.Theissen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten (s.o. 3), 53–63, wendet sich z.R. gegen psychologische Erklärungsmuster ntl. Krankheitsbilder, die Rationalisierungen und Pathologisierungen vornehmen, um sie so unserer Wirklichkeit einzuverleiben. Er bestimmt die Exorzismen Jesu als performative rituelle Akte, mit denen „die Identität des Besessenen neu konstituiert, die Platzordnung in der sozialen Arena neu geregelt und die kosmische Ordnung neu etabliert wird“ (a.a.O., 60).

202 Zur Analyse der Texte vgl. B.KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s.o. 3.6), 215ff.

203 Vgl. dazu J.ZIMMERMANN, Messianische Texte aus Qumran, WUNT 2.104, Tübingen 1998, 343–389.

204 Zur Unterscheidung von Therapie und Normenwunder vgl. G.THEISSEN, Urchristliche Wundergeschichten (s.o. 3.6), 94ff.

205 Vgl. dazu die Argumentation bei B.KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s.o. 3.6), 271–280 (dort auch Analyse der hier nicht angeführten Texte).

206 Vgl. G.THEISSEN, Urchristliche Wundergeschichten (s.o. 3.6), 274; H.WEDER, Wunder Jesu und Wundergeschichten (s.o. 3.6), 28; B.KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s.o. 3.6), 306f.

207 So führten Besessenheit und Aussatz zum Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft; Blindheit oder Bewegungsstörungen hatten zumeist Erwerbsunfähigkeit und damit unausweichlich Verarmung und Bettelei zur Folge.

208 Gegen J.D. CROSSAN, Der historische Jesus (s.o. 3), 198–236, der Jesus als sozialrevolutionären Magier darstellt. M.SMITH, Jesus der Magier (s.o. 3.6), 240ff, meint, Jesus habe nicht nur magische Praktiken und Riten vollzogen, sondern auch magische Lehren verbreitet und über ein magisches Selbstverständnis verfügt; vgl. dazu J.-A.BÜHNER, Jesus und die antike Magie. Bemerkungen zu M.Smith, Jesus der Magier, EvTh 43 (1983) 156–175; M.BECKER, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum (s.o. 3.6), 425–430.

209 Mk 11,12–14.20f (die Verfluchung des Feigenbaums) dürfte nachösterlich sein; vgl. B.KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s.o. 3.6), 275f.

210 Vgl. B.JANOWSKI, Art. Gericht, RGG4 3, Tübingen 2000, 733: „Gott ‚rettet‘, indem er ‚richtet‘, d.h. das Unrecht ahndet und das Böse nicht straffrei ausgehen lässt … Im Horizont der konnektiven Gerechtigkeit sind ‚Richten‘ und ‚Retten‘ Handlungskorrelate und das Gericht Gottes die theologische Antwort auf die Frage nach der letztinstanzlichen Grundlage gerechten Lebens und Handelns.“ M. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“, 386, lehnt die Antithese ‚Gericht‘ – ‚Heil‘ als unsachgemäß ab, „weil Gottes Gerichtshandeln immer ein Heilshandeln ist, insofern es eine Zuweisung von Heil und Unheil an die Menschen vornimmt, die Gottes Gerechtigkeit gemäß ist.“

211 Vgl. z.B. AssMos 10; äthHen 50–56; eine Analyse relevanter Texte findet sich bei M.REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, 9–152.

212 Analyse bei M.REISER, Die Gerichtspredigt Jesu (s.o. 3.7), 192–206; CHR.RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu (s.o. 3.7), 287–300.

213 Vgl. dazu CHR.RINIKER, a.a.O., 301–333.

214 Ausführliche Analyse bei B.HEININGER, Metaphorik, Erzählstruktur und szenisch-dramatische Gestaltung in den Sondergleichnissen bei Lukas, NTA 24, Münster 1991, 107–121.

215 Textabgrenzung und Interpretation bei H.MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.o. 3.5), 135f.

216 Zur Zurückführung auf Jesus vgl. U.LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 536.

217 Vgl. dazu CHR.RINIKER Die Gerichtsverkündigung Jesu (s.o. 3.7), 361–391.

218 Im (weiteren) Hintergrund dürfte Aesops Fabel (11) von den Fischen stehen, die auf das Flötenspiel des Fischers hin nicht tanzten.

219 Vgl. M.WOLTER, „Gericht“ und „Heil“ (s.o. 3.7), 387.

220 Analyse bei CHR.RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu (s.o. 3.7), 333–351; anders W.ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht (s.o. 3.7), 266–274

221 Vgl. M.REISER, Die Gerichtspredigt Jesu (s.o. 3.7), 301f; CHR.RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu (s.o. 3.7), 457ff.

222 Vgl. W.ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht (s.o. 3.7), 311–316: „Für den historischen Jesus gehörten Herrschaft Gottes und Endgericht untrennbar zusammen“ (a.a.O., 316).

223 Klassisch A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums (s.o. 3.4.5), 41f, wonach Jesus die Vorstellungen vom Teufel und Gericht wohl mit seinen Zeitgenossen geteilt habe; dies sei aber nur die äußerliche, entbehrliche Schale, der Kern hingegen die Anschauung vom Reich Gottes.

224 Vgl. R.BULTMANN, Jesus (s.o. 3), 60 („Leicht ist der Gehorsam, für den Jesus eintritt, deshalb, weil er den Menschen von der Abhängigkeit von einer formalen Autorität befreit“); E.KÄSEMANN, Das Problem des historischen Jesus (s.o. 3), 206 („Er ist wohl Jude gewesen und setzt spätjüdische Frömmigkeit voraus, aber er zerbricht gleichzeitig mit seinem Anspruch diese Sphäre“); G.BORNKAMM, Jesus von Nazareth (s.o. 3), 71 („Aber nicht minder deutlich ist, daß durch Jesu Wort und Verhalten der Wahn der unveräußerlichen, gleichsam einklagbaren Privilegien Israels und seiner Väter in der Wurzel angegriffen und erschüttert ist“); L.GOPPELT, Theologie I, 148 („daß Jesus tatsächlich das Judentum von der Wurzel her durch Neues aufhebt“).

225 Vgl. z.B. E.P. SANDERS, Jesus and Judaism (s.o. 3), 319: „In fact, we cannot say that a single one of the things known about Jesus is unique: neither his miracles, non-violence, eschatological hope or promise to the outcasts.“ Diese Position ist natürlich nicht neu, sondern bereits am Beginn der historischkritischen Methode stellte H.S. REIMARUS fest, dass Jesus gerade nicht gekommen sei, um gegenüber dem Judentum neue Lehren zu bringen: „Uebrigens war er ein gebohrner Jude und wollte es auch bleiben: er bezeuget er sey nicht kommen das Gesetz abzuschaffen, sondern zu erfuellen“ (Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten, herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing, Braunschweig 1778, 19f). Vgl. ferner A.SCHWEITZER, Geschichte der paulinischen Forschung, Tübingen 1911, VIII: „Ist die am Schlusse meiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung entwickelte Auffassung richtig, so ragt die Lehre Jesu in keiner Anschauung aus der jüdischen in eine nichtjüdische Welt hinein, sondern stellt nur eine tief ethische und vollendete Fassung der zeitgenössischen Apokalyptik dar.“

226 Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Tora vgl. F.CRÜSEMANN, Die Tora, Gütersloh 1992; zum Judentum z.Zt. Jesu vgl. den Überblick bei J.D.G. DUNN, Jesus Remembered (s.o. 3), 255–311.

227 Einen Überblick vermittelt H.LICHTENBERGER, Das Tora-Verständnis im Judentum zur Zeit des Paulus, in: J.D.G. Dunn (Hg.), Paul and the Mosaic Law, WUNT 89, Tübingen 1996, 7–23.

228 Vgl. hierzu die kritische Bestandsaufnahme bei G.STEMBERGER, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, SBS 144, Stuttgart 1991; J. P. MEIER, A Marginal Jew IV (s.o. 3), 26–73. Immer noch lesenswert ist: G.BAUMBACH, Jesus von Nazareth im Lichte der jüdischen Gruppenbildung, Berlin 1971.

229 Zur Geschichte und den grundlegenden theologischen Anschauungen der Pharisäer vgl. R.DEINES, Art. Pharisäer, TBLNT II, 1455–1468.

230 Josephus, Bell 1,110; vgl. ferner Bell 2,162; Ant 17,41.

231 Zum Gesetzesverständnis der Zeloten vgl. M.HENGEL, Die Zeloten, AGSU 1, Leiden 21976, 154–234.

232 Vgl. dazu insgesamt O.SCHWANKL, Die Sadduzäerfrage (Mk 12,18–27par), BBB 66, Bonn 1987.

233 Vgl. H.STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus (s.o. 3.2.1), 279ff.

234 Darauf verweist K.MÜLLER, Beobachtungen zum Verhältnis von Tora und Halacha in frühjüdischen Quellen, in: I.Broer (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz (s.o. 3. 8), 105–134.

235 Umfassende Darstellung bei A.NISSEN, Gott und der Nächste im antiken Judentum (s.o. 3.5.3), 219ff; R.WEBER, Das Gesetz im hellenistischen Judentum, ARGU 10, Frankfurt 2000.

236 Vgl. dazu R.WEBER, Das „Gesetz“ bei Philon von Alexandrien und Flavius Josephus, ARGU 11, Frankfurt 2001.

237 Vgl. Philo, VitMos I 162: „Vielleicht aber war er, da er auch zum Gesetzgeber bestimmt war, schon lange vorher in seiner Persönlichkeit als das mit Seele und Vernunft begabte Gesetz geschaffen worden, die ihn, ohne dass er davon wußte, später zum Gesetzgeber ausersah.“

238 Obwohl Philo die Position der Allegoristen nicht teilt, steht er ihr inhaltlich nicht sehr fern, wie Quaest in Ex II 2 zeigt: „Proselyt ist nicht der an der Vorhaut Beschnittene, sondern der (Beschnittene) an den Lüsten und Begierden und anderen Leidenschaften der Seele. Denn in Ägypten war das hebräische Volk nicht beschnitten (οὐ περιτέϑητο) und lebte, obwohl bedrängt mit vielen Bedrängnissen der bei den Einheimischen gegenüber Fremden üblichen Grausamkeit, doch in Beharrlichkeit und Standhaftigkeit … .“

239 Vgl. hierzu H.HOFFMANN, Das Gesetz in der frühjüdischen Apokalyptik, SUNT 23, Göttingen 1999.

240 Vgl. H.MOXNES, The Construction of Galilee as a Place for the Historical Jesus, BTB 31 (2001), 26–37.64–77.

241 Vgl. G.FASSBECK u.a. (Hg.), Leben am See Gennesaret, Mainz 2003.

242 Einführungen und Übersichten bieten: W.BÖSEN, Galiläa als Lebensraum und Wirkungsfeld Jesu, Freiburg 1985; E.M. MEYERS, Jesus und seine galiläische Lebenswelt, ZNT 1 (1998), 27–39; S.FREYNE, Jesus, a Jewish Galilean, London 2005; R.HOPPE, Galiläa – Geschichte, Kultur, Religion, in: L.Schenke (Hg.), Jesus von Nazareth (s.o. 3), 42–58; J.SCHRÖTER, Jesus (s.o. 3), 77–102. Man wird damit rechnen können, dass Jesus die griechische Sprache (zumindest passiv) nutzen konnte; vgl. ST. PORTER, Jesus and the Use of Greek in Galilee, in: B.Chilton/C.A. Evans (Hg.), Studying the Historical Jesus (s.o. 3), 123–154.

243 Eine persönliche Anmerkung: Wer einmal von Nazareth in das ca. 6km entfernte Sepphoris gewandert ist, kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Jesus dort nicht gewesen sein soll.

244 Vgl. E.M. MEYERS, Jesus und seine galiläische Lebenswelt, 32: „Somit erscheint es sinnvoll anzunehmen, daß Jesu galiläische Wirksamkeit kaum Sepphoris und Tiberias ausgelassen haben wird.“

245 Vgl. U.LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 327f.

246 U.LUZ, a.a.O., 330.

247 Die Einbettung der Antithesen in jüdisches Denken betonen D.SÄNGER, Schriftauslegung im Horizont der Gottesherrschaft, (s.o. 3.4), 79–102; K.-W.NIEBUHR, Die Antithesen des Matthäus. Jesus als Toralehrer und die frühjüdische weisheitliche Torarezeption, in: Gedenkt an das Wort (FS W.Vogler), hg. v. Chr.Kähler u.a., Leipzig 1999, 175–200.

248 U.LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 331.

249 M.HENGEL, Jesus und die Tora (s.o. 3.8), 171, bezeichnet Jesus als Bringer einer ganz neuen Tora, „der einerseits aus der traditionellen Tora heraus, zugleich aber auch in einem gewissen Gegensatz zu ihr und erst recht zu ihrer zeitgenössischen Auslegung, als der Erfüller von Gesetz und Propheten den wahren, ursprünglichen Gotteswillen für die anbrechende Gottesherrschaft entfaltet.“

250 Exemplarische Analysen mit unterschiedlicher Argumentation, aber mit dem Votum der Authentizität, finden sich bei W.G. KÜMMEL, Äußere und innere Reinheit des Menschen bei Jesus, in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte II, hg. v. E.Grässer/O.Merk, Marburg 1978, 117–129; J.-W.TAEGER, Der grundsätzliche oder ungrundsätzliche Unterschied, in: I.Broer (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz (s.o. 3.8), (13–35) 23–34; G.THEISSEN, Das Reinheitslogion Mk 7,15 und die Trennung von Juden und Christen, in: ders., Jesus als historische Gestalt (s.o. 3), 73–89.

251 Eine wirkliche Parallele zu Mk 7,15 gibt es m.E. nicht; nahe kommt Philo, Op 119.

252 Vgl. W.G. KÜMMEL, Äußere und innere Reinheit, 122.

253 Vgl. für die Pharisäer J.NEUSNER, Die pharisäischen rechtlichen Überlieferungen (s.o. 3.4.5), 43–51; zur Position der Sadduzäer vgl. E.SCHÜRER, Geschichte des jüdischen Volkes II, Leipzig 41907, 482f; für Qumran vgl. H.-W.KUHN, Jesus vor dem Hintergrund der Qumrangemeinde, in: Grenzgänge (FS D.Aschoff), hg. v. F.Siegert, Münster 2002, (50–60) 53: „Der Gegensatz zwischen dem rigorosen Toraverständnis, wie es in den Qumrantexten entgegentritt, und Jesu Verhalten gegenüber der Tora, insbesondere hinsichtlich des Sabbat und der Fragen von rein und unrein, ist unübersehbar.“

254 Vgl. M.HENGEL, Jesus und die Tora (s.o. 3.8), 164, zu Mk 7,15: „Wir stoßen hier auf einen grundsätzlichen Bruch Jesu mit dem palästinensischen Judentum seiner Zeit, der dann in der frühesten Gemeinde weiterwirkt und zu erbitterten Auseinandersetzungen führt.“

255 So aber z.B. U.LUZ, Jesus und die Pharisäer, Jud 38 (1982), (229–246), 242f; H.MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s.o. 3.4), 96; CHR.BURCHARD, Jesus von Nazareth (s.o. 3), 47.

256 H.RÄISÄNEN, Jesus and the Food Laws, JNST 16 (1982), (79–100) 89ff, sieht hinter Mk 7,15 nicht den irdischen Jesus, sondern „an ‚emancipated‘ Jewish Christian group engaged in Gentile mission“ (90); ähnlich die Argumentation bei E.P. SANDERS, Jesus and Judaism (s.o. 3), 266f. Beide können wohl einige Argumente gegen die Authentizität von Mk 7,15 nennen, andererseits die Hauptargumente für die Ursprünglichkeit von Mk 7,15 nicht entkräften.

257 Zur Analyse von Mk 2,23–28 vgl. L.DOERING, Schabbat. Sabbathalacha und -praxis im antiken Judentum, TSAJ 78, Tübingen 1999, 409–432. Auf Jesus führen Mk 2,27 u.a. zurück: E.LOHSE, Jesu Worte über den Sabbat, in: ders., Die Einheit des Neuen Testaments, Göttingen 21973, (62–72) 68; J.ROLOFF, Das Kerygma und der irdische Jesus, Göttingen 21973, 52ff; H.-W.KUHN, Ältere Sammlungen im Markusevangelium (s.u. 8.2), 75; J.GNILKA, Mk I (s.u. 8.2), 123; D.LÜHRMANN, Markus (s.u. 8.2), 64f; H.HÜBNER, Das Gesetz in der synoptischen Tradition (s.o. 3.8), 121; V.HAMPEL, Menschensohn und historischer Jesus (s.u. 3.9.2), 199ff; L.DOERING, Schabbat, 423f.

258 Vgl. hierzu E.LOHSE, Art. σάββατον, ThWNT 7, Stuttgart 1964 (1–31) 5f; die Vielschichtigkeit jüdischer Sabbathalacha (Elephantine, Jubiläenbuch, Qumran, Diaspora, Josephus, Pharisäer, Sadduzäer, frühe Tannaiten) betont L.DOERING, Schabbat, 23–536.

259 Zur Analyse von Mk 3,1–6 vgl. L.DOERING, Schabbat, 441–457. Mk 3,4 halten u.a. für jesuanisch: H.HÜBNER, Gesetz in der synoptischen Tradition, 129; J.ROLOFF, Kerygma, 63f; J.GNILKA, Mk I (s.u. 8.2), 126; E.LOHSE, Jesu Worte, 67; L.DOERING, Schabbat, 423ff.

260 Vgl. J. P. MEIER, A Marginal Jew IV (s.o. 3), 296: „Far from rejecting the sabbath, Jesus wished instead to make the sabbath livable for several pressed Jewish peasants, …“

261 Die Verzehntung gehört zum Kern der protorabbinischen Überlieferung; vgl. J.NEUSNER, Die pharisäischen rechtlichen Überlieferungen (s.o. 3.4.5), 47.

262 Vgl. J.BECKER, Jesus von Nazaret (s.o. 3), 353; D.SÄNGER, Schriftauslegung im Horizont der Gottesherrschaft (s.o. 3.4), 105.

263 Vgl. G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus (s.o. 3), 321–332.

264 Vgl. H.STEGEMANN, Der lehrende Jesus (s.o. 3.5.2), 11ff.

265 Vgl. dazu B.RIGAUX, Die „Zwölf“ in Geschichte und Kerygma, in: H.Ristow/K.Matthiae (Hg.), Der historische Jesus und der kerygmatische Christus (s.o. 3), 468–486; J.P. MEIER, A Marginal Jew III (s.o. 3), 125–197; M. HENGEL/A. M. SCHWEMER, Jesus und das Judentum (s.o. 3), 365–371 (gehen jeweils von einem vorösterlichen Zwölferkreis aus).

266 In Spannung dazu steht Mt 10,5b („Geht nicht auf den Weg zu den Heiden, und in eine Stadt der Samaritaner geht nicht hinein“); Jesu Offenheit zumindest gegenüber den Samaritanern (vgl. Lk 9,51–56; 10,30–35; 17,11–19; Joh 4) spricht für die Vermutung, dass dieses Logion nicht auf Jesus, sondern auf QMt zurückgeht; vgl. U.LUZ, Mt II (s.u. 8.3), 90.

267 Gründe nennt G.THEISSEN, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, NTOA 8, Fribourg/Göttingen 1989, 63–84.237f.

268 Vgl. hierzu J.JEREMIAS, Jesu Verheißung für die Völker, Stuttgart 1956, 47–62.

269 Analyse der relevanten Texte bei W.KRAUS, Das Volk Gottes (s.u. 6.7), 45–95.

270 Zur vielfältigen Bestimmung des Judeseins Jesu in der neueren Forschung vgl. T.HOLMÉN, The Jewishness of Jesus in the third quest, in: M.Labahn/A.Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q (s.o. 3.1), 143–162, der feststellt: „‚Jewishness‘ has become a fluid concept. Fluidity of concepts inevitably leads to confusion. Confusion, again, is a favourable soil for conclusions not based on coherent thinking, but rather on preconceptions lurking in the mind of every scholar“ (a.a.O., 156).

271 Einen Überblick bietet H.LICHTENBERGER, Messianische Erwartungen und messianische Gestalten in der Zeit des Zweiten Tempels, in: E.Stegemann (Hg.), Messias-Vorstellungen bei Juden und Christen, Neukirchen 1993, 9–20.

272 Ein direktes „Sohn Gottes“-Bewusstsein ist bei Jesus nicht nachzuweisen. Zentrale Texte wie Mk 1,11; 9,7; 15,39 (s.u. 8.2.2) oder Stellen, an denen Jesus sich als „der Sohn“ (absolut) bezeichnet (Lk 10,22par; Mk 13,32), dürften kaum vorösterlich sein. Die Rede von „eurem Vater“ erklärt sich aus dem Anredecharakter der entsprechenden Logien (Lk 12,30 par; 6,36 par; 12,32; Mk 11,25 par; Mt 6,8; 18,35; 23,9). Aus der Gottesanrede „Abba“ kann ebenfalls kein spezifisches Sohnesbewusstsein Jesu erschlossen werden (s.o. 3.3.1). Zur Analyse vgl. F.HAHN, Christologische Hoheitstitel (s.u. 4), 280–346. Zur ‚Sohn Davids‘-Vorstellung vgl. M.KARRER, Von David zu Christus, in: König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, hg. v. W.Dietrich/H.Herkommer, Freiburg(CH)/Stuttgart 2003, 327–365.

273 Vgl. z.B.Plut, Mor 604d; Dio Chrys, Or 47,6.

274 Zu den prophetisch-messianischen Traditionen in Qumran vgl. J.ZIMMERMANN, Messianische Texte aus Qumran (s.o. 3.5.2), 312–417.

275 Vgl. M.HENGEL, Nachfolge und Charisma (s.o. 3.6.2), 74; J.D.G. DUNN, Jesus Remembered (s.o. 3), 664–666. Anders G.VERMES, Jesus der Jude (s.o. 3), 85, wonach ‚Prophet‘ „die Beschreibung zu sein scheint, die Jesus selbst vorgezogen hat“; E.P. SANDERS, Sohn Gottes (s.o. 3), 381: „Er war ein Prophet, und zwar ein eschatologischer Prophet“; N.T. WRIGHT, Jesus (s.o. 3), 163: „Rather, I suggest that Jesus was seen as, and saw himself as, a prophet; not a particular one necessarily, as though there were an individual set of shoes ready-made into which he was consciously stepping, but a prophet like the prophets of old, coming to Israel with a word from her covenant god, warning her of the imminent and fearful consequences of the direction she was traveling, urging and summoning her to a new and different way“; S.FREYNE, Jesus (s.o. 3.8.1), 168 u.ö., wonach Jesaja und Daniel den Hintergrund des Selbstverständnisses Jesu bilden.

276 Zur kontroversen Forschungsgeschichte vgl. W.G. KÜMMEL, Jesusforschung (s.o. 3.1), 340–374.

277 Vgl. ferner EvTh Log 86; Apg 7,56; Apk 1,13; in der LXX findet sich υἱὸς ἀνϑρώπου nur undeterminiert.

278 Vgl. M.MÜLLER, Art. Menschensohn im Neuen Testament, RGG4 5, Tübingen 2002, 1098–1100.

279 Vgl. dazu C.COLPE, Art. ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου, 405f.

280 Zur Bedeutung von vgl. bes. K.KOCH, Das Reich der Heiligen und des Menschensohns. Ein Kapitel politischer Theologie, in: ders., Die Reiche der Welt und der kommende Menschensohn. Studien zum Danielbuch, Neukirchen 1995, (140–172) 157–160.

281 Vgl. zur Analyse K.MÜLLER, Menschensohn und Messias, in: ders., Studien zur frühjüdischen Apokalyptik, SBA.NT 11, Freiburg 1991, 279–322.

282 Vgl. hierzu J.J. COLLINS, The Scepter and the Star. The Messiahs of the Dead Sea Scrolls and Other Ancient Literature, in: The Anchor Bible Reference Library, New York 1995, 173–194, wonach die Texte für nicht fest fixierte Menschensohnvorstellungen in apokalyptischen Kreisen vor und neben dem Neuen Testament sprechen, die ihn als an der eschatologischen Vernichtung der Feinde Gottes beteiligten Messias betrachten.

283 Diese Frage können all jene nicht beantworten, die alle Menschensohnworte als Gemeindebildung ansehen; so z.B. PH.VIELHAUER, Gottesreich, 90f; H.CONZELMANN, Theologie, 105–111; A.VÖGTLE, ‚Gretchenfrage‘, 175. Für eine Selbstbezeichnung Jesu als Menschensohn plädieren z.B. H.E. TÖDT, Menschensohn, 298–316; J.ROLOFF, Jesus (s.o. 3), 118f; H.MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s.o. 3.4), 154–164; G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus (s.o. 3), 476f; J.SCHRÖTER, Jesus (s.o. 3), 252f; zur Forschungsgeschichte vgl. A.VÖGTLE, ‚Gretchenfrage‘, 22–81 (Authentizitätshypothesen). 82–144 (nachösterliche Entstehung).

284 Q 12,8 spielt nach A.VÖGTLE, Die ‚Gretchenfrage‘, 9, eine „Schlüsselrolle“ für die Menschensohnfrage beim irdischen Jesus. Die mt. Parallele (10,32) zu Lk 12,8 lautet πᾶς οὖν ὅστις ὁμολογήσει ἐν ἐμοὶ ἔμπροσϑεν τῶν ἀνϑρώπων, ὁμολογήσω ϰἀγὼ ἐν αὐτῷ ἔμπροσϑεν τοῦ πατρός μου τοῦ ἐν [τοῖς] οὐρανοῖς und enthält den Begriff Menschensohn nicht; auch die Parallele Q 12,10 spricht nur im Passiv von der gerichtlichen Vergebung (ἀφεϑήσεται), weshalb hier im Sinne des Passivum divinum wohl Gott selbst der Sanktionierende ist. Daher hat sich vor allem P.HOFFMANN für eine lukanisch-redaktionelle Ableitung ausgesprochen: DERS., Der Menschensohn in Lukas 12.8, NTS 44 (1998), 357–379. Jedoch ist die mt. Bearbeitung des Logions sprachlich deutlich zu greifen und die Einfügung in den mt. Kontext begünstigte nicht die Übernahme des Menschensohnbegriffs (vgl. A.VÖGTLE, a.a.O., 17f), so dass mit J.SCHRÖTER, Erinnerung (s.u. 8.1), 362–365, und C.M. TUCKETT, Q 12,8 Once Again – „Son of Man“ or „I“?, in: J.M. Asgeirsson/K. de Troyer/M.W. Meyer (Hg.), From Quest to Q (s.u. 8.1), 171–188, am Menschensohn in Q 12,8 festzuhalten ist.

285 So z.B. R.BULTMANN, Theologie, 30.

286 Vgl. CHR.RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu (s.o. 3.8) 348; J.SCHRÖTER, Jesus (s.o. 3), 253.

287 Vgl. G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus (s.o. 3), 479. Anders z.B. P.STUHLMACHER, Theologie I, 120f, der eine Urform von Mk 9,31 und Mk 10,45 als authentisches Wort Jesu über den leidenden Menschensohn ansieht.

288 Vgl. auch J.D.G. DUNN, Jesus Remembered (s.o. 3), 759–761.

289 Vgl. E.-J.WASCHKE, Der Gesalbte, BZAW 306, Berlin 2001.

290 Vgl. hier G.OEGEMA, Der Gesalbte und sein Volk, Göttingen 1994; ST. SCHREIBER, Gesalbter und König (s.o. 3.4.1), 145–534; W.HORBURY, Jewish Messianism and the Cult of Christ, London 1998; zu den komplexen Gesalbten-Vorstellungen in Qumran vgl. J.ZIMMERMANN, Messianische Texte aus Qumran (s.o. 3.5.2), 23ff.

291 Eine Auflistung aller aufrührerischen Gestalten findet sich bei J.D. CROSSAN, Der historische Jesus (s.o. 3), 585f.

292 Vgl. M.HENGEL, Jesus der Messias Israels, 50.

293 Vgl. J.FREY, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien, 304ff; J.SCHRÖTER, Jesus (s.o. 3), 262ff.

294 Gegen R.BULTMANN, Theologie, 28: „Daran, daß das Leben und Wirken Jesu, gemessen am traditionellen Messiasgedanken, kein messianisches war, läßt im übrigen die synoptische Tradition keinen Zweifel“.

295 Zum chronologischen Rahmen des Auftretens Jesu vgl. G.THEISSEN/A: MERZ, Der historische Jesus (s.o. 3), 147–155.

296 Eine bis heute bedenkenswerte Antwort auf die Frage, warum Jesus nach Jerusalem hinaufzog, gibt A. SCHWEITZER, Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis (s.o. 3.4.5), 315f: „Ehe das Reich Gottes kommen konnte, musste die Drangsal eintreffen. Sie blieb aber aus. Man musste sie also herbeiführen, um so das Gottesreich herbeizunötigen. Buße und Knechtung der widergöttlichen Macht taten es nicht allein, sondern es musste noch ein Stärkerer zu den Gewalttätigen hinzutreten: der zukünftige Messias, der an sich die Enddrangsal heraufführte in der Form, wie sie sich schon an dem Elias erfüllt hatte. So geht das Geheimnis des Reiches Gottes in das Geheimnis des Leidensgedankens über … Nun führte aber Gott die Drangsal nicht herauf. Und doch musste die Sühne geleistet werden. Da ging es Jesus auf, dass er als zukünftiger Menschensohn die Sühne an sich vollziehen müsse.“

297 Diese Konflikte können keineswegs auf die Zeit der Evangelien und ihrer Gemeinden beschränkt werden; vgl. CHR. KEITH, Jesus against the Scribal Elite, Grand Rapids 2014, 7–9.

298 Vgl. hier R. RIESNER, Jesus als Lehrer, WUNT 2.7, Tübingen 31988; M. EBNER, Jesus – Ein Weisheitslehrer?, HBS 15, Würzburg 1998.

299 Der Pharisäer Josephus (vgl. Vita 12) beschreibt die Aufgabe/Funktion der Tora so: „Unser Gesetzgeber … wollte das in Worte gefasste Gesetz auch praktisch ausgeführt wissen, indem er, sobald die Erziehung und häusliche Lebensweise eines jeden begann, nichts, auch nicht das geringste der Wahl und Willkür derer überließ, für die seine Gesetze bestimmt waren. Ja, selbst bezüglich der Speisen, welche man essen dürfe und welche nicht; der Personen, die an dieser Lebensweise teilnehmen sollten; der Mühen, Anstrengungen in den einzelnen Berufen, und wiederum bezüglich der Erholung von den Mühen stellte er in seinem Gesetz eine Regel und Richtschnur auf, damit wir unter ihm wie unter einem Vater und Gebieter leben und weder absichtlich noch aus Unwissenheit sündigen möchten“ (Ap 2,173f).

300 Aufschlussreich ist Sir 38f, wo es über die Weisheit eines Schriftgelehrten heißt: „wer wenig Arbeit hat, der wird sich Weisheit erwerben“. Dann werden zahlreiche Berufe aufgezählt (38,27: Zimmermann!; vgl. Mk 6,3), die zwar für die Gemeinschaft sehr wichtig sind, aber aufgrund ihrer Belastung kein wirkliches Tora-Studium zulassen. Über die diese Berufe ausübenden Menschen heißt es dann abschließend: „Doch zum Rat des Volkes werden sie nicht gebeten, und in der Gemeinde ragen sie nicht heraus; auf den Richterstuhl setzen sie sich nicht, und die Rechtsordnung haben sie nicht im Sinn. Auch nicht zeigen sie Bildung und Urteil, und in Sprüchen kennen sie sich nicht aus.“

301 Schreiber/Schriftgelehrte waren seit der Perserzeit als Überlieferungsträger, Tora-Lehrer und Richter die Wahrer der jüdischen Identität; vgl. dazu A.J. SALDARINI, Pharisees, Scribes and Sadducees in Palestinian Society, Grand Rapids 22001; R. A. HORSLEY, Revolt of the Scribes, Minneapolis 2010.

302 Vgl. dazu M.SABBE, The Cleaning of the Temple and the Temple Logion, in: ders., Studia Neotestamentica, Leuven 1991, 331–354; TH.SÖDING, Die Tempelaktion Jesu, TThZ 101 (1992), 36–64; E.STEGEMANN, Zur Tempelreinigung im Johannesevangelium, in: Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS R. Rendtorff), hg. v. E.Blum u.a., Neukirchen 1990, 503–516; J.SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils (s.o. 3.1.2), 426–459; K.PAESLER, Das Tempelwort Jesu, FRLANT 184, Göttingen 1999, 233–249; J. ÅDNA, Jesu Stellung zum Tempel, WUNT 2.119, Tübingen 2000, 300–333; W.REINBOLD, Der Prozess Jesu (s.o. 3.10), 130–137.

303 Vgl. zur Begründung K.PAESLER, Das Tempelwort Jesu, 76–92 (Mk 14,58 ist eine nachösterliche Variante von Mk 13,2*).

304 Vgl. K.PAESLER, Das Tempelwort Jesu, 244: „zeichenhafte Verunmöglichung und Aufhebung des Jerusalemer Kultbetriebes“.

305 Vgl. J.SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils (s.o. 3.1.2), 455–459.

306 Vgl. E.P. SANDERS, Sohn Gottes (s.o. 3), 380: „Ich nehme also an, daß Jesu symbolische Aktion, die Tische der Geldwechsler im Tempel umzustürzen, Hand in Hand mit einem Ausspruch über die bevorstehende Zerstörung des Tempels ging und in dieser Kombination von den Behörden als prophetische Drohung aufgefaßt wurde“; anders J.BECKER, Jesus von Nazaret (s.o. 3), 407ff, der die Tempelreinigung für unhistorisch hält.

307 Vgl. H.RITT, „Wer war schuld am Tod Jesu?“, BZ 31 (1987), 165–175.

308 Jos, Bell 6,300–305: „Furchtbarer aber als diese Dinge war folgendes: Vier Jahre vor dem Krieg, als die Stadt noch im höchsten Maße Frieden und Wohlstand genoss, kam nämlich ein gewisser Jesus, Sohn des Ananias, ein ungebildeter Mann vom Lande zu dem Fest, bei dem es Sitte ist, dass alle Gott eine Hütte bauen, in das Heiligtum und begann unvermittelt zu rufen: ‚Eine Stimme vom Aufgang, eine Stimme vom Niedergang, eine Stimme von den vier Winden, eine Stimme über Jerusalem und den Tempel, eine Stimme über Bräutigam und Braut, eine Stimme über das ganze Volk!‘ So ging er in allen Gassen umher und schrie Tag und Nacht. Einige angesehene Bürger, die sich über das Unglücksgeschrei ärgerten, nahmen ihn fest und misshandelten ihn mit vielen Schlägen. Er aber gab keinen Laut von sich, weder zu seiner Verteidigung noch eigens gegen die, die ihn schlugen, sonder stieß beharrlich weiter dieselben Rufe aus wie zuvor. Da glaubten die Obersten, was ja auch zutraf, dass den Mann eine übermenschliche Macht treibe und führten ihn zu dem Landpfleger, den die Römer damals eingesetzt hatten. Dort wurde er bis auf die Knochen durch Peitschenhiebe zerfleischt, aber er flehte nicht und weinte auch nicht, sondern mit dem jammervollsten Ton, den er seiner Stimme geben konnte, antwortete er auf jeden Schlag: ‚Wehe dir, Jerusalem!‘ Als aber Albinus – denn das war der Landpfleger – fragte, wer er sei, woher er komme und weshalb er ein solches Geschrei vollführe, antwortete er darauf nicht das geringste, sondern fuhr fort, über die Stadt zu klagen und ließ nicht ab, bis Albinus urteilte, dass er wahnsinnig sei und ihn laufen ließ.“

309 Zum Tempel vgl. J.MAIER, Beobachtungen zum Konfliktpotential in neutestamentlichen Aussagen über den Tempel, in: Jesus und das jüdische Gesetz, hrsg. v. I.Broer, Stuttgart 1992, 173–213.

310 K.MÜLLER, Möglichkeit und Vollzug jüdischer Kapitalgerichtsbarkeit im Prozess gegen Jesus, in: K.Kertelge (Hg.), Der Prozess gegen Jesus (s.o. 3.10), (41–83) 82f.

311 Vgl. hier bes. K.MÜLLER, Kapitalgerichtsbarkeit, 44–58 (dort die Auseinandersetzung mit anderen Thesen).

312 Vgl. Jos, Bell 2,117; Ant 18,2.

313 Zu Pilatus vgl. K.ST. KRIEGER, Pontius Pilatus – ein Judenfeind? Zur Problematik einer Pilatusbiographie, BN 78 (1995), 63–83. Er betont, dass alle Quellen über Pilatus tendenziös berichten und Vorsicht geboten ist gegenüber der geläufigen Darstellung, Pilatus sei ein besonders charakterloser Mensch gewesen.

314 Vgl. Jos, Ant 17,272.

315 Vgl. Jos, Ant 17,273ff.

316 Vgl. Jos, Ant 17,278ff.

317 Vgl. zur Analyse der wichtigsten Texte M.HENGEL, Die Zeloten (s.o. 3.8.1), 261–277.329ff; P.EGGER, „Crucifixus sub Pontio Pilato“ (s.o. 3.10), 72ff.

318 Jos, Ant 17,285.

319 Vgl. Jos, Ant 17,295; vgl. auch Ant 20,502, wo von der Kreuzigung der beiden Söhne des Zelotengründers Judas, Simon und Jakob, um 46 n.Chr. durch den Prokurator Tiberius Alexander berichtet wird.

320 Grundlegend sind hier M.HENGEL, Mors turpissima crucis. Die Kreuzigung in der antiken Welt und die „Torheit“ des „Wortes vom Kreuz“, in: Rechtfertigung (FS E.Käsemann), hg. v. J.Friedrich/W.Pöhlmann/P.Stuhlmacher, Tübingen 1976, 125–184; H.-W.KUHN, Die Kreuzesstrafe während der frühen Kaiserzeit, ANRW.II 25/1, Berlin 1982, 648–793.

321 Dieses Datum setzt sich immer mehr als Konsens durch; vgl. R. RIESNER, Die Frühzeit des Apostels Paulus (s.u. 5), 31–52; G.VERMES, Die Passion (s.o. 3.10), 138.

322 Vgl. S.FREYNE, Jesus (s.o. 3.8.1), 165: „Jesus cannot have been unaware of the consequences of his symbolic action for his own future.“

323 N.T. WRIGHT, Jesus (s.o. 3), 651f, sieht in der durch Jesus proklamierten Verheißung der Rückkehr Jahwes zum Berg Zion das Zentrum des Selbstverständnisses Jesu und den Anlass seiner Reise nach Jerusalem einschließlich der Tempelaktion. Dagegen spricht allerdings deutlich, dass Σιών („Zion“) in der Verkündigung Jesu überhaupt nicht überliefert ist (Σιών nur in Mt 21,5 und Joh 12,15).

324 Für den vorösterlichen Ursprung von Mk 14,25 spricht vor allem, dass nicht Jesus und sein Geschick, sondern das Reich Gottes im Mittelpunkt steht; vgl. H.MERKLEIN, Erwägungen zur Überlieferungsgeschichte der neutestamentlichen Abendmahlstraditionen, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, Tübingen 1987, (157–180) 170–174, der z.R.Mk 14,25 zum hermeneutischen Schlüssel für die Abendmahlsfrage erklärt.

325 Positiv votiert J.JEREMIAS, Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 41967, 25–30; dagegen mit guten Gründen B.KOLLMANN, Urspung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier (s.o. 3.4.5), 158–161.

326 Vgl. dazu H.SCHÜRMANN, Jesu Tod im Licht seines Basileia-Verständnisses, in: ders., Gottes Reich – Jesu Geschick (s.o. 3), 185–245.

327 Zu Mk 10,45b vgl. J.ROLOFF, Anfänge der soteriologischen Deutung des Todes Jesu (Mk. X. 45 und Lk. XXII. 27), in: ders., Exegetische Verantwortung in der Kirche, Göttingen 1990, 117–143.

328 Eine überzeugende genaue Rekonstruktion der Worte und Gesten beim Abendmahl ist kaum möglich; die scharfsinnigste Analyse der Abendmahlsüberlieferung legte H.MERKLEIN, Erwägungen zur Überlieferungsgeschichte der neutestamentlichen Abendmahlstraditionen, 158–174, vor; vgl. ferner mit unterschiedlichen Akzentuierungen J.JEREMIAS, Die Abendmahlsworte Jesu, 132–195; H.SCHÜRMANN, Der Einsetzungsbericht Lk 22,19–20; NTA 4, Münster 1955; H.PATSCH, Abendmahl und historischer Jesus, München 1972; B.KOLLMANN, Urspung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier (s.o. 3.4.5), 153–189; J.SCHRÖTER, Das Abendmahl, SBS 210, Stuttgart 2006, 25–134.

329 Vgl. dazu H.SCHÜRMANN, „Pro-Existenz“ als christologischer Grundbegriff, in: ders., Jesus. Gestalt und Geheimnis, hg. v. K.Scholtissek, Paderborn 1994, 286–315.

Theologie des Neuen Testaments

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