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Ein Kapitel von der Disziplin und ihrem Nutzen

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Hier in Bertrix war es schon in der vorhergehenden Nacht zu Zusammenstößen zwischen deutschem Militär und der Bevölkerung gekommen. In allen Teilen der Stadt brannten Häuser. Auf dem Marktplatz lag ein großer Haufen Gewehre und Revolver aller Modelle. Im Hause des Pfarrers hatte man ein französisches Maschinengewehr und Munition gefunden, worauf Pfarrer und Köchin verhaftet und jedenfalls sofort abgeurteilt wurden.

Unter solchen Umständen waren wir herzlich froh, wieder aus Bertrix herauszukommen; am Nachmittag ging’s weiter. Nach einem Marsche von fünf Kilometer machten wir Halt und bekamen Essen von der Feldküche. Aber diesmal wollte es gar nicht schmecken. Die Erinnerung an die Vorfälle vom Morgen wirkte so niederdrückend auf uns alle, dass es ein rechter Leichenbitterschmaus wurde. Dann setzten wir uns wieder stillschweigend in Bewegung, um am Abend auf freiem Felde Biwak zu beziehen, da wir zu müde waren, um Zelte aufzuschlagen.

Hier versagte zum ersten Male alle Disziplin. Die Befehle der Offiziere. Zelte zu bauen, wurden gar nicht beachtet, die Leute waren zum Umfallen müde und ließen die Offiziere befehlen und schwatzen, was sie wollten. Jeder wickelte sich in seinen Mantel ein, legte sich da, wo er sich gerade befand, hin, und wenn man lag, schlief man auch schon. Die Offiziere rannten wie besessen herum und schrien ihre Befehle zum Aufschlagen der Zelte mit verdoppelter Energie den hundsmüden Soldaten in die Ohren. Aber vergebens. Die „Herren“ Offiziere hatten ja alles „zu Pferd“ mitgemacht und besaßen anscheinend noch nicht die nötige Bettschwere und das Bedürfnis, schlafen zu gehen. Als ihr Schreien und Rufen nichts nützte, bemühten sie sich höchst eigenhändig, indem sie uns rüttelten und schüttelten. Aber sofort, wie sie einen von uns munter hatten, schlief der vorige schon wieder ein. So hörten wir wohl noch eine Weile: „He, Sie da, stehen Sie auf, antreten zum Zeltbau!“ Worauf dann immer die stereotype Antwort erfolgte: „Ja, ja, sofort!“ Hierauf wälzte man sich seelenruhig auf die andere Seite und schlief weiter. Auch mich versuchte man wachzuschütteln, aber nachdem ich dem Leutnant ein paar derbe Verwünschungen nachgerufen hatte — an denen es an diesem Abend von keiner Seite mangelte —, schlief ich den Schlaf des Gerechten weiter.

Zum ersten Mal hatte die blinde Disziplin versagt; der Körper war so erschlafft, dass er einfach nicht fähig war, den gehorsamen Hundeknechten weiter zu machen. . . .

Wir waren von dem Marsch stark erhitzt und nachts war es kalt. Wir froren, dass die Zähne klapperten, und einer nach dem andern stand auf, um sich durch Bewegung zu erwärmen. Stroh war ja keins vorhanden, und der dünne Mantel bot nur geringen Schutz. Die Offiziere schliefen in Schlafsäcken und wollenen Decken.

Nach und nach waren alle aufgestanden, denn der Mehltau hatte die Tuchanzüge durchnässt; es war höchst ungemütlich. Truppweise standen die Leute zusammen und kritisierten die Vorgänge vom vorhergehenden Tage. Die große Mehrzahl war der Ansicht, man solle den Offizieren deutlich zu verstehen geben, dass es ihnen in Zukunft nicht mehr so leicht werden würde, ihre Schindereien durchzuführen. Ein älterer Reservist schlug vor, den Befehl, einen Verurteilten standrechtlich zu erschießen, in Zukunft einfach nicht mehr auszuführen, und meinte, wenn wir alle zusammenhielten, könnte uns gar nichts passieren. Wir baten ihn aber, vorsichtig zu sein, denn, würden derlei Äußerungen berichtet, so werde man ihn wegen Aufwiegelung ohne viele Umstände erschießen. Trotzdem waren wir uns wohl alle einig, dass uns der Reservist aus der Seele gesprochen hatte. Die Erbitterung war allgemein, aber man wollte und durfte keine Unvorsichtigkeit begehen. So viel hatten wir doch schon in den paar Kriegstagen gelernt, dass der Krieg verroht und dass die rohe Gewalt das Rechte von dem Unrechten nicht mehr zu unterscheiden vermag; mit ihr aber hatten wir zu rechnen.

Inzwischen kam die Zeit des Weitermarschierens, und wir hatten noch Kaffee zu trinken und das Gepäck zu ordnen. Als wir zum Abmarsch fertig waren, hielt uns der Hauptmann erst eine Ansprache, in der er auf die Gehorsamsverweigerung vom Abend vorher zu sprechen kam. „Ich nehme an“, sagte er „dass ihr es in eurer Dummheit getan habt. Denn, wäre ich anderer Ansicht, so würde ich euch allesamt vor ein Kriegsgericht stellen, und ihr wäret für euer ganzes Leben unglücklich. In Zukunft aber,“ fuhr er nach einer kleinen Gedankenpause fort, „halte ich euch die Zügel so straff, dass Fälle, wie dieser, nicht mehr vorkommen können, und es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn ich eurer nicht Herr werden könnte. Befehl bleibt Befehl, auch wenn man sich einbildet, man wäre zu müde!“

Wir schlossen uns der Mörserbatterie wieder an und setzten unsern Marsch fort. Die Gegend, welche wir jetzt durchzogen, war ziemlich öde und eintönig, so dass dieser Teil des Marsches wenig Abwechslung bot. Die wenigen, ganz kleinen Dörfer, die wir jetzt passierten, waren durchweg von den Einwohnern verlassen und die ärmlich aussehenden Wohnungen waren größtenteils verwüstet. Lange Züge von Flüchtlingen begegneten uns freilich fortwährend. Diese Leute waren in der Regel mit der französischen Armee geflüchtet und kehrten nun zurück, um zu Hause eine von roher Kriegshand zerstörte Wohnung vorzufinden. Nach einem von Ruhepausen und Biwaks unterbrochenem längeren Marsch näherten wir uns dem ziemlich großen belgisch-französischen Grenzdorfe Sugny, das noch auf belgischem Gebiete liegt.

Es war gegen 12 Uhr mittags, und obwohl der immer stärker werdende Kanonendonner die Entwicklung einer neuen Schlacht ahnen ließ, hofften wir doch über Nacht im Orte bleiben zu können. Gegen 1 Uhr zogen wir ein und wurden wieder in einer großen Scheune einquartiert. Die meisten Soldaten verzichteten auf das Essen aus der Feldküche und „requirierten“ sich Eier, Hühner, Gänse, ja selbst kleine Schweine, so dass bald ein allgemeines Abkochen begann. Überall dampften Kochgeschirre. Leider hatten die meisten den Einwohnern die Tiere und Lebensmittel ohne Bezahlung fortgenommen.

Mehrere Soldaten kamen mit Weinfässern und Flaschen an, die sofort — trotz der Mahnungen und Warnungen der Einsichtigeren — geköpft und geleert wurden. Die natürliche Folge war denn auch, dass mehrere Unteroffiziere und Mannschaften sehr bald fast sinnlos betrunken waren. Der Eigentümer „unserer“ Scheune hatte noch drei halbgroße Schweine. Einer dieser betrunkenen Unteroffiziere versuchte, eines dieser Schweine mit einem stumpfen Taschenmesser abzuschlachten. Er hatte die arme Bestie beinahe zu Tode gequält, als er von nüchternen Soldaten dabei betroffen wurde. Dem Tier wurde durch einen Schuss in den Kopf der Garaus gemacht, der Unteroffizier aber musste sich schleunigst schlafen legen. Doch das war nur ein Beispiel und nicht etwa das schlimmste, denn die Einwohner von Sugny hatten viel unter der Trunkenheit unserer Leute zu leiden. Offene und heimliche Plünderungen der Gärten, Ställe und Wohnungen dieses Ortes waren an der Tagesordnung, und da den Soldaten hier so ziemlich freie Hand gelassen wurde — ganz gleich, was sich ereignete und wie viel Beschwerden einliefen —, so konnte es natürlich nicht besser werden.

Die Bevölkerung von Sugny war zu bedauern. Erst hatten sie die auf der Flucht durchziehenden französischen Soldaten — die Verbündeten der Belgier — ausgeplündert, hatten alles mitgenommen, was sie nur in Eile zusammenpacken konnten, und nun taten es die Deutschen nicht besser.

In einer Familie von sieben Köpfen wurde uns erzählt, dass die Franzosen alles Brot und Fleisch hatten mitgehen heißen. Alle Schränke und Fächer hatten sie durchstöbert und sogar die goldenen Uhren der Töchter gestohlen. Solches und ähnliches wurde uns von mehreren Einwohnerfamilien erzählt, und was wir zuerst nicht für möglich gehalten, das erlebten wir jetzt von unserer Seite mit eigenen Augen; auch unsere so gut trainierten Soldaten raubten, plünderten, stahlen. Der Krieg macht keinen Unterschied zwischen Freund und Feind . . . .

Das Geschützfeuer, dass man hier sehr gut hören konnte, hielt die Einwohner in ständiger Angst und Aufregung, so dass es uns schließlich ganz verständlich wurde, wenn wir hörten, dass die Leute zu Gott beteten, er möchte doch ja so gütig sein, die Deutschen siegen zu lassen. Ein alter Gastwirt erklärte mir das in ziemlich geläufigem Deutsch: „Sehen Sie, nicht etwa, dass wir für Deutschland wären. O, Gott bewahre. Wir sind einmal Belgier und sind daran so gewöhnt, dass es uns schon lieber ist, wir bleiben bis an unser Lebensende Belgier. Aber, wenn jetzt die Deutschen zurückgehen müssten, dann kommen die Franzosen noch einmal nach, und unser Dorf wird wieder zum Schauplatz einer Schlacht. Das Bisschen, was uns jetzt noch geblieben ist, wird dann auch noch in Flammen aufgehen. Deshalb müssen die Deutschen siegen.“ Und er betete von neuem.

Diese Gegend hatte zweimal die Franzosen beherbergt und zum Schluss noch uns Deutsche. Es war daher nicht verwunderlich, wenn die Bevölkerung Not und Hunger litt, und oft haben wir unser Brot an die schwergeprüften Menschen verteilt. Mit noch zwei Kameraden hatte ich meine „eiserne Portion“ (Fleisch- und Gemüse-Konserven mit einem Sack Zwieback) an eine mit acht Kindern „gesegnete“ Frau verschenkt. Weil uns die „Eiserne“ beim Appell fehlte, musste jeder von uns für den schwachen Beweis unserer Nächstenliebe zwei Strafwachen „schieben“. Unser Halbzugführer, Leutnant der Reserve Spahn, meinte, so etwas wie Mitleid wäre Blödsinn, und wenn die Frau acht Kinder hätte, so wäre das ihre Sache. Dann schloss er wörtlich mit großem Nachdruck: „Im Kriege ist sich jeder selbst der Nächste, auch wenn alles andere um ihn herum verreckt.“

Ein anderer Soldat bekam vierzehn Tage strengen Arrest. Er war auf dem Wege, um einer hungernden armen Familie Brot zu bringen und trug sechs der kleinen Kommisbrote auf dem Arm, die er unter den Soldaten zusammengebettelt hatte. Derselbe Leutnant Spahn begegnete ihm in Begleitung einiger Unteroffiziere. Auf die Frage Spahns, wo er mit dem Brot hin wolle, erklärte ihm der Pionier, dass er zu einer Familie gehe, die tatsächlich Hunger leide. Der Leutnant erteilte ihm hierauf den Befehl, das Brot unverzüglich zur Kompagnie zurückzubringen. Dann überschüttete er ihn mit allen nur denkbaren „militärischen“ Ausdrücken, wie „Sind wohl verrückt?“, „Kamel!“ „dummer Hammel!“, ,,Kaffer!“, „Idiot!“ usw. Als der Soldat sich dennoch nicht irre machen ließ, sondern weitergehen wollte, donnerte ihm der Leutnant den Befehl nochmals ins Ohr, woraufhin sich der Soldat umdrehte, dem „Herrn“ Leutnant Spahn das Brot vor die Füße warf und ihm ruhigsten Tones von der Welt sagte: „Die Kaffern und Idioten müssen ihr Blut verspritzen, um auch Ihre Junkerfamilie vor dem Elend zu bewahren, das diese arme Bevölkerung betroffen hat.“

Dass der Pionier wegen „ungebührlichen Benehmens gegen einen Vorgesetzten unter erschwerenden Umständen“ nur vierzehn Tage strengen Arrests erhielt, war ein Wunder; er war in der Tat noch sehr gut weggekommen.

Nach dem Kriegsgesetze musste er seine Strafe wie folgt verbüßen: Wenn die Kompagnie nach einem Gefecht, nach einem Marsch oder abends zur Ruhe ging, dann musste sich der Mann bei dem wachthabenden Unteroffizier der Orts- oder Lagerwache melden, vierzehn Tage lang, jeden Tag. Er musste sich, während die Kompagnie ruhte und sich die Mannschaft frei bewegen konnte, auf der Wachtstube aufhalten, durfte diese nur zur Befriedigung von Bedürfnissen — und auch dann nur mit Erlaubnis des wachthabenden Unteroffiziers und in Begleitung eines zur Wache gehörenden Soldaten — verlassen. Durfte weder rauchen noch lesen, an keiner Unterhaltung teilnehmen, nicht sprechen, erhielt das Essen von der Wache und musste bis zum Abmarsch der Kompagnie auf der Wachtstube verbleiben. Dazu kommt, dass er jeden Tag zwei volle Stunden lang an einen Baum oder einen sonstigen Gegenstand festgebunden wird. Er wird mit Stricken geknebelt und muss (auch wenn er schon einen Marsch von 50 Kilometer hinter sich hat oder in einem Gefecht für dasselbe „Vaterland“, das ihn mit Stricken knebelt, sein Leben einsetzte) die zwei Stunden stehend zubringen.

Die Erbitterung wuchs und hatte schließlich, infolge der vielen und harten Strafen, die verhängt worden waren, solchen Umfang angenommen, dass sich die meisten Soldaten weigerten, ihre Kameraden zu knebeln. Auch ich weigerte mich, und als ich es trotz wiederholter Befehle nicht tat, wurde ich als „ganz und gar verstockter Sünder“ wegen „Nichtausführens eines erteilten Befehls“ und wegen „Verharrens im Ungehorsam“ ebenfalls zu vierzehn Tagen strengen Arrests verurteilt.

Kriegs-Erinnerungen eines deutschen Soldaten

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