Читать книгу Der Trauermantel - Ein Norwegen-Krimi - Unni Lindell - Страница 11

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Bjørn Tore Lønn hatte seine Schwester identifiziert. Es war einfach schrecklich gewesen. Eine blonde Polizistin hatte ihn begleitet. Ester Synnøve war in ein weißes Laken gehüllt gewesen. Ihr Gesicht, das er so gut kannte, ihre Züge, waren gewissermaßen verwischt. Nichts war noch von seiner Schwester übrig, nur ein alles durchdringendes Nichts. Auf ihrer Stirn und der einen Hälfte ihres Gesichts klafften mehrere Wunden. Es war leicht zu sehen, dass sie ausgewaschen worden waren. Um den Hals hatten sie ihr ein weißes Tuch gebunden.

Danach, als er über den Gang wanderte, hörte er hinter einer Tür Stimmen. Er kämpfte um die Erinnerung an den Klang von Esters Stimme. Für einen Moment kniff er die Augen zusammen, dann ging er hinaus in die Kälte.

Er fuhr wie ein Roboter durch die Stadt. Wusste nicht, ob er der Vernehmung gewachsen sein würde. Aber er hatte versprochen, zu kommen. Die Polizei hatte betont, dass sie den Täter dann schneller finden würden. Er seufzte tief. Für ihn stand fest, wer der Täter war.

Bei einem Zebrastreifen hätte er fast einen Mann angefahren. Für einen Moment stellte er sich vor, was passieren würde, konnte aber in letzter Sekunde noch ausweichen. Die Trauer durchströmte ihn wie ein Gift und drang in jede Körperzelle ein. In seinem Gehirn dröhnten die Gedanken wie ein grauenhaftes Kraftwerk der Bosheit. Der alte Mann drohte ihm wütend mit seinem Stock.

Bjørn Tore Lønn wartete schon auf dem Flur, als die Polizisten von ihrem Besuch bei Rakel Mandal zurückkehrten. Cato Isaksen hatte festgestellt, dass das alte Ehepaar aus dem unteren Geschoss am 5. Januar um elf Uhr zu Bett gegangen war, dass es wirklich jeden Abend Ohropax benutzte und deshalb nichts gehört hatte.

Der junge Mann lehnte an der Flurwand. Er sah fast aus, als könne er ohne Stütze nicht aufrecht stehen.

Cato Isaksen begrüßte ihn, sprach ihm sein Beileid aus und bat ihn ins Verhörzimmer. Dann rief er Randi Johansen, die bei der Vernehmung das Protokoll führen sollte.

Es war jetzt halb fünf. Der Hunger nagte wie eine Ratte an seinem Magen. Und er war nicht dazu gekommen, Bente anzurufen.

Bjørn Tore Lønn hatte keine besondere Ähnlichkeit mit seiner Schwester, abgesehen davon, dass er blond war und leichte Sommersprossen im Gesicht hatte. Ansonsten war er kräftig, fast fett und hatte ein breites Gesicht. Er trug eine schmutzige Jeans und eine blaue Daunenjacke.

Bjørn Tore Lønn war sichtlich mitgenommen. Der Schock hatte sich tief in sein Gesicht eingefressen.

»Sie haben versucht, es mir zu verheimlichen«, sagte er. »Sie hatten ihr ein Tuch um den Hals gewickelt. Aber ich habe es ein wenig zur Seite gezogen und ... da waren die Wunden an ihrem Hals, sie muss mit einem großen Messer erstochen worden sein.«

Cato Isaksen senkte den Kopf. »Wir warten noch auf den Obduktionsbericht«, sagte er. »Ich kann Ihnen leider noch nichts Genaues sagen.«

Bjørn Tore Lønn schluckte. »Ich konnte meine Eltern nur mit Mühe am Kommen hindern. Meine Mutter wollte sie unbedingt sehen.«

Cato Isaksen nickte verständnisvoll. »Das wäre vielleicht keine so gute Idee«, sagte er. »Aber was weiß ich schon? Manche Psychologen behaupten, dass die Angehörigen das Opfer auf jeden Fall sehen müssen.«

»Meine Mutter nicht«, sagte Bjørn Tore Lønn und schüttelte energisch den Kopf. »Sie hätte das nicht ausgehalten. Ich habe es ja auch kaum ertragen.«

Cato Isaksen bedauerte noch einmal den Tod der jungen Frau und die Tatsache, dass der Zeuge jetzt schon vernommen werden musste. Er stand auf, ging zur Tür und rief nach Randi. Wo blieb sie denn nur?

Bjørn Tore Lønn hielt sich die Hände wie einen Trichter vors Gesicht und versuchte sie warm zu blasen. In ihm steckte Frost. Ein tiefer Frost, der ihn nicht loslassen wollte. Das hier war der erste wichtige Todesfall, den er erlebte. Seine Großeltern waren gestorben, ein Onkel seines Vaters, einige Nachbarn. Aber das hier ... er konnte es nicht fassen. Der Schrecken, die Art, wie es passiert war. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Das Zimmer bewegte sich, wogte wie die raue See. Ihm wurde schlecht. Die Angst seiner Schwester, ihr Kampf, die letzten Minuten vor ihrem Tod. Die Vorstellung war unerträglich.

Cato Isaksen musterte ihn besorgt. Auf Bjørn Tore Lønns Stirn waren jetzt Schweißtropfen getreten.

»Geht es Ihnen nicht gut?«

Der junge Mann riss sich zusammen, zwang die Angst zurück und öffnete die Augen. »Es geht schon«, sagte er leise.

»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?«

»Nein, danke. Machen wir einfach weiter«, sagte er. »War eigentlich die Tür zu ihrer Wohnung aufgebrochen worden?«

Cato Isaksen schüttelte den Kopf. »Es gab keinerlei Anzeichen für einen Einbruch«, sagte er. »Sie wollen zwar kein Wasser, aber wenn ich Ihnen sonst etwas anbieten darf, Kaffee, Limonade, was auch immer. Ich glaube, das könnte Ihnen vielleicht guttun.«

»Wenn ich es mir richtig überlege, dann habe ich seit gestern nichts mehr gegessen. Ich bin heute früh schon informiert worden, noch ehe ich aufgestanden war. Und seither ist alles nur ein Chaos.« Bjørn Tore Lønn brach in ein abgehacktes trockenes Schluchzen aus.

Cato Isaksen nickte besorgt.

Randi Johansen schaute herein. »Muss nur schnell noch telefonieren, dann komme ich.«

Cato Isaksen musterte sie gereizt. »Kannst du ihm ein Brot und eine Tasse Kaffee besorgen?«

Sie nickte und versprach, sich zu beeilen.

»Bring mir auch was mit«, rief er ihr nach und hoffte, dass sie es gehört hatte.

»Es ist einfach so schrecklich.« Bjørn Tore Lønn hatte seine großen Fäuste auf die Tischplatte gelegt. »Als ich sie da liegen sah ... da ... ich ...« Wieder stiegen ihm die Tränen in die Augen. »Meine Eltern, die werden ...«

Cato Isaksen seufzte tief. Er hasste diese Situationen, die Konfrontation mit den Angehörigen, mit Menschen mit einer so grauenhaften Trauer. Es bereitete ihm Angst und machte ihn wütend. Aber er musste sich professionell verhalten und widerstand deshalb dem Drang, sich über den Tisch zu beugen und dem anderen die Hand auf den Arm zu legen.

Wichtig war es jetzt, das Beste aus der Sache zu machen und zu versuchen, den Mann zu beruhigen, ehe Randi zurückkam. »Vielleicht sollten wir schon mal die Formalitäten hinter uns bringen«, sagte er. »Dann wäre das zumindest erledigt.« Auf diese Weise konnte er den Mann für einen Moment vom Bild seiner toten Schwester weglocken. Er ließ sich Adresse, Telefonnummer, Arbeitsplatz und Geburtsdatum nennen.

»Ich hab nur ein Handy«, erklärte Bjørn Tore Lønn und leierte die Nummer herunter. Er erklärte, er sei im Moment von der Arbeit beurlaubt, begründete das aber nicht weiter. Er sagte auch nicht, dass er keinen festen Wohnsitz hatte. Seine letzte Wohnung war ihm wegen Mietrückständen gekündigt worden. Trotzdem gab er diese Adresse an.

Während Cato Isaksen das alles notierte, kam Randi mit einem Tablett angelaufen, das auf Papptellern zwei mit einem Blatt Salat und einer Backpflaume garnierte Schinkenbrote und drei Pappbecher Kaffee enthielt. Sie stellte das Tablett auf den Tisch und reichte dem Zeugen die Hand. »Meine aufrichtige Anteilnahme«, sagte sie mitfühlend.

Bjørn Tore Lønn schaute dankbar zu ihr hoch. »Danke«, sagte er und nahm den Becher, den sie ihm reichte. Er trank sofort einen Schluck von dem heißen Kaffee.

Randi Johansen setzte sich und schaute zu ihrem Chef hinüber. »Ich bin so weit«, sagte sie. »Wir können anfangen.«

Während der junge Mann sein Brot verzehrte, erfuhr er, dass es noch keine konkreten Spuren gebe. »In diesem Stadium sammeln wir Informationen, vernehmen Zeugen, suchen nach möglichen Anhaltspunkten.«

Cato Isaksen biss in sein Brot. Er musste stärker darauf achten, dass er genug aß. Alles ging besser von der Hand, wenn ihm nicht vor Hunger schwindlig war.

Bjørn Tore Lønn verschluckte den letzten Bissen. »Anhaltspunkte, ja.« Er setzte sich ein wenig gerader und trank noch einen Schluck Kaffee. »Sie ist. ... war ... meine Schwester. Gestern hat sie noch gelebt und jetzt sitzen wir hier und reden über Anhaltspunkte.« Er seufzte tief. »Wir haben uns sehr nahe gestanden. Ich habe ihr geholfen. Sie hat mir geholfen.«

»Auf welche Weise haben Sie einander geholfen?«

»Ach, unter anderem hat sie mir einen Job bei der Post besorgt. Und ich habe mich um sie gekümmert, könnte man sagen.«

»Wie denn?«

»Ich habe dafür gesorgt, dass sie einkaufen konnte. Sie hatte kein Auto. Ich habe sie jedes zweite Wochenende nach Enger gefahren, solche Dinge.«

»Enger, dort wohnen doch Ihre Eltern?«

Er nickte. »Unsere Eltern wohnen unten in Østfold, auf einem kleinen Hof.« Bjørn Tore Lønn versank in Gedanken. Er starrte irgendeinen Punkt auf dem Fußboden an. Im Zimmer war es totenstill.

Die Polizisten ließen ihn einen Moment nachdenken. Randi Johansen nutzte die Gelegenheit, um einen Schluck von ihrem Kaffee zu trinken.

»Das hier ist ein Wettrennen. Je schneller wir den Mörder einholen, um so rascher können wir ihn festnehmen«, sagte Cato Isaksen.

Bjørn Tore Lønn nickte schwer. »Sie finden ihn, nicht wahr?«

»Wir werden uns jedenfalls alle Mühe geben«, sagte der Kommissar. »Dieser Fall genießt höchste Priorität.«

»Aber manche kommen davon«, sagte Bjørn Tore Lønn.

»Ja, leider.«

»Auch, wenn Sie sie finden, nicht wahr?«

Cato Isaksen und Randi Johansen tauschten einen Blick.

»Es gibt Beispiele«, erklärte der junge Mann voller Bitterkeit, »wo alle wissen, wer der Mörder ist, wo die Beweise aber nicht ausreichen.«

»Wir wollen uns doch an diesen Fall halten und versuchen, diesen Mörder zu fangen.« Cato Isaksen blickte ihn ernst an.

Bjørn Tore Lønn ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken. Er hob eine Hand und fuhr sich über die Stirn. »Ich weiß nur nicht, wie ich Ihnen dabei helfen kann«, seufzte er.

»Ihr Neffe, Markus ...«

»Der wohnt in Enger, bei meinen Eltern.«

»Das wissen wir, aber warum?«

»Na ja, sie hat sich doch scheiden lassen. War psychisch ein wenig durcheinander. Konnte sich nicht richtig um den Kleinen kümmern. Das sollte nur eine vorübergehende Lösung sein. Dann sollte sie ihn zurückbekommen.«

» Zurückbekommen?«

»Ja.« Bjørn Tore Lønn schüttelte resigniert den Kopf. »Das lag an unserer Mutter, sie ist eben, wie sie ist. Ein wenig dominant, könnte man sagen.«

»Sie hat also entschieden, wo der Junge wohnt?«

»Sie hat gern das letzte Wort. Und sie meinte, es wäre besser für Markus, in Enger zu bleiben, bis alles vorüber wäre, bis Johnny sich beruhigt hätte. Das war der Hauptgrund. Eigentlich wollte sie aus der Stadt wegziehen.«

»Ihre Schwester?«

»Ja.«

»Und wohin?«

»Ach, das weiß ich nicht.«

»Und der Vater des Jungen, Johnny Svendsen, erzählen Sie uns ein wenig mehr über ihn.«

»Der!« Bjørn Tore Lønn schnaubte. »Der ist einfach unmöglich. Ein Mistkerl, wenn Sie mich fragen.«

»In welcher Hinsicht?«

»In jeder Hinsicht. Die beiden hatten schon lange Probleme. Der ist einfach nicht ganz sauber.«

»Sie meinen also, er könnte es gewesen sein?«

»Ich weiß nicht, er war natürlich der Erste, an den ich gedacht habe ...«

»Aber?«

»Er kann es gewesen sein«, sagte er mit harter Stimme.

Cato Isaksen legte beide Hände um den heißen Kaffeebecher. »Wissen Sie, wo er sich aufhält?«

Bjørn Tore Lønn schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung«, sagte er.

»Und hat ihre Schwester andere Freunde?«

»Sie hat, Verzeihung, sie hatte nicht viele Freunde. Dafür war kein Platz, so breit, wie Johnny sich gemacht hat. Eigentlich glaube ich, dass sie ziemlich einsam war.«

»Wann haben Sie Ester zuletzt gesehen?«

»Zu Silvester. Zuerst wollte sie zusammen mit Markus und unseren Eltern auf Enger feiern, aber dann kam etwas dazwischen.«

»Was denn?«

»Na ja, ich nehme an, dass meine Mutter wieder ein wenig zu kritisch war. Ich weiß es nicht genau, aber Ester rief an und wollte abgeholt werden. Ich war an diesem Abend mit ein paar Freunden verabredet, aber ich bin dann zuerst zu ihr gefahren.«

Cato Isaksen nickte.

»Wir waren wohl so gegen fünf wieder in der Stadt.«

»Und Markus?«

»Nein, der ist bei unseren Eltern geblieben, sie erwarteten wohl ein paar Nachbarn zu Besuch. Die haben einen Jungen in Markus’ Alter.«

»Und ihre Schwester wollte den Abend allein verbringen?«

»Das weiß ich nicht so genau. Ich hatte den Eindruck, dass sie irgendetwas vorhatte.«

»Aber Namen hat sie nicht erwähnt?«

Er schüttelte energisch den Kopf. »Wie gesagt, das war nur so ein Gefühl. Einmal, als ich sie besucht habe, lag da eine Herrenjacke aus Wildleder. Sie lachte nur, als ich wissen wollte, wem die gehörte. Ich glaube, sie hatte es ein bisschen satt, dass unsere Mutter sich in alles einmischte. Deshalb wollte sie sicher noch etwas warten, ehe sie davon erzählte. Aber ich weiß ja nicht mal, ob sie wirklich einen neuen Freund hatte.«

»Aber irgendwelche Bekanntschaften muss sie doch gehabt haben, Ihre Schwester?«

»Ja, ich weiß von zwei Freundinnen. Einer Kollegin von der Post, Nanna heißt die, glaube ich. Ich arbeite ja selber bei der Post, aber die aus der Sortierabteilung kenne ich nicht. Und dann natürlich Lise. Lise Sommer, ihre beste Freundin von früher.«

»Wissen Sie, wo wir Lise Sommer erreichen können?«

»Nein. Die beiden hatten schon eine ganze Weile keinen Kontakt mehr. Ich weiß nicht so recht, warum, ich hatte irgendwie den Eindruck, sie hätten sich zerstritten.«

»Auf welche Weise denn?«

»Ach, früher ist mir Lise ab und zu übern Weg gelaufen. Unten in Enger oder bei Ester und Johnny. Dann ist Ester von Johnny weggegangen und ich glaube, seither hab ich Lise nicht mehr gesehen. Aber ich habe nicht so viel darüber nachgedacht. Ich glaube, das ist etwa zwei Jahre her.«

»Ester wohnte also seit zwei Jahren allein?«

»Ja, ungefähr.«

Bjørn Tore Lønn rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er rieb die Hände aneinander und schaute in eine andere Richtung. »Johnny war eigentlich auch mit mir befreundet«, sagte er. »Ich hab ihn schon als Kind gekannt. Und er war immer schon so, der Johnny, meine Eltern konnten ihn noch nie leiden.«

Cato Isaksen nickte viel sagend. »Sie kennen einander also alle schon seit Ihrer Kindheit?«

Bjørn Tore Lønn nickte. »Ja, mit Lise und Johnny bin ich zusammen aufgewachsen.«

»Haben Sie selbst Familie?«

Wieder schüttete Bjørn Tore Lønn den Kopf.

»Eine Freundin?«

»Nein.«

»Was machen Sie denn so beruflich? Ich meine, Sie haben ja bereits gesagt, dass Sie auch bei der Post arbeiten.«

»Ja, aber im Moment nicht.« Eine leichte Röte glitt über das breite Gesicht. »Ich habe Probleme mit dem Rücken, kann nichts mehr tragen. Und solche Postsäcke sind ganz schön schwer. Ich bin krankgeschrieben.«

»Und Sie wissen ganz bestimmt nicht, wo Johnny Svendsen sich aufhält?«, fragte Cato Isaksen noch einmal. »Wir können nämlich auch keine Handynummer von ihm ausfindig machen. Wissen Sie vielleicht, ob er ein Handy hat?«

»Keine Ahnung.«

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

Draußen schneite es jetzt. Große feuchte Flocken schmolzen an den Fensterscheiben. Der Heizkörper ächzte leise.

»Ach, den?« Bjørn Tore Lønn starrte zu Boden. »Ach«, sagte er noch einmal und schüttelte den Kopf. »Das ist lange her.«

»Wie lange denn?«

»Ein halbes Jahr, vielleicht auch länger.«

»Ein halbes Jahr. Und wo sind Sie ihm damals begegnet?«

»Durch Zufall, auf der Straße.«

Randi Johansen notierte alles, was gesagt wurde. Sie musterte Bjørn Tore Lønn von der Seite und fand, dass seine breite Gestalt irgendwie auch Weichheit ausstrahlte.

Bjørn Tore Lønn wippte rhythmisch mit einem Bein. Er hatte kräftige Oberschenkel. Das Geräusch störte die beiden anderen Anwesenden. Der junge Mann war davon überzeugt, dass Johnny Svendsen nun endlich seine Drohung wahr gemacht hatte, nämlich Ester Synnøve umzubringen. Er würde ihn finden und vernichten und seine Leiche irgendwo hinterlassen. Nur dann könnte er Frieden finden. Johnny sollte büßen. Er wollte nicht riskieren, dass die Polizei keine ausreichenden Beweise fand. Johnny war ein gerissener Kerl. Und er hatte es nicht verdient, am Leben zu bleiben.

Cato Isaksen war mit seinen sechsundvierzig Jahren ein durch und durch erfahrener Fahnder. Er war daran gewöhnt, das Verhalten der Menschen, die er vernahm, zu interpretieren. Er war darauf trainiert, auf ihre andere Stimme zu hören, auf die, mit der sie nicht sprachen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, ihre Mienen zu durchschauen und das zu sehen, was sich dahinter verbarg. Das wurde Intuition genannt. Und mit Bjørn Tore Lønn stimmte ganz einwandfrei etwas nicht. Er sagte vielleicht die Wahrheit, aber er sagte nicht alles. Er schien energisch um Beherrschung zu kämpfen. Seine Trauer war zwar echt, aber trotzdem stimmte etwas nicht mit ihm.

»Ich weiß nicht so recht, ob Sie uns alles erzählen«, sagte Cato Isaksen plötzlich. Er sagte das sehr ruhig, um sein Gegenüber so wenig wie möglich zu provozieren. Randi Johansen ließ ihn nicht aus den Augen.

Bjørn Tore Lønn war sichtlich überrumpelt. Seine Trauer war wie weggeblasen. Er ging sofort in die Luft. »Sie glauben mir nicht? Meine Schwester ist tot! Meinen Sie etwa, ich lüge? Und erzähle der Polizei nicht alles, was ich weiß? Meinen Sie das?«

»Ich weiß nicht, Sie haben immerhin ausgesagt, dass Sie auch mit Johnny Svendsen befreundet waren. Ich hoffe nicht, dass Sie versuchen, ihn zu beschützen.«

»Befreundet, ja, verdammt. Ich habe gesagt, dass das lange her ist. Merken Sie sich das. Lange her.«

Cato Isaksen ließ sich in seinem Sessel zurücksinken. Er verschränkte die Arme und seufzte leise. Er hatte beschlossen, den Bruder der Ermordeten beschatten zu lassen. Sobald der junge Mann das Büro verließ, würde sich ihm das Fahnderduo Billington und Thorsen an die Fersen heften. Die beiden äußerst fähigen Kollegen waren auch privat eng befreundet.

»Na gut, tut mir Leid«, sagte der Kommissar. »Aber wir verfolgen doch dasselbe Ziel, Sie und ich, oder?«

Bjørn Tore Lønn gab keine Antwort.

»Vielen Dank. Würden Sie uns anrufen, wenn Ihnen noch etwas einfällt?«

Der Mann erhob sich müde. Er war groß, einen ganzen Kopf größer als Cato Isaksen. »Ich werde versuchen, ihn zu finden«, sagte er.

Der Trauermantel - Ein Norwegen-Krimi

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