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Donnerstag, 19. Juli 2012

»Schau mal«, rief Linda begeistert aus, »wie weit oben wir schon sind! Unser Hotel Rosenlaui sieht ja schon winzig klein aus, wie ein Puppenhaus!« Michael packte mit der rechten Hand das Seil, drehte sich talwärts und lachte auf.

»Tatsächlich!« Michael und Linda waren um sechs Uhr morgens, als das Tal noch im tiefen Schatten lag, in forschem Tempo vom Hotel abmarschiert und hatten nach einer guten Stunde schon die Engelhornhütte erreicht, wo sie auf der Sonnenterrasse einen Tee tranken und ein Sandwich assen. Ihre Route führte dann durch das steinige und wilde Ochsental hinauf, bis zum Fuss der Nordwand des Grossen Engelhorns. Michael hatte die Wand schon achtmal durchklettert und Linda versprochen, sie diesen Sommer auf die schöne Tour mitzunehmen. Die Kletterei durch diese Wand war nicht einfach, aber der Kalkstein war immerhin stabil und bot guten Halt.

Heute war es endlich soweit! Er schaute Linda an.

»Du, es fehlen uns nur noch drei Seillängen bis zum Ausstieg. Traust du dir zu, die nächste zu führen?« Linda blickte die beinahe senkrechte Felswand hoch und zog eine skeptische Miene.

»Hm, ich weiss nicht so recht. Schaut für mich wie eine Fünf aus. Etwas ambitioniert für mich.« Michael zog die Routenskizze aus seiner Hosentasche hervor.

»Aha, es ist nur eine Vier plus. Das schaffst du, mein kleiner Engel«, sagte er und legte Linda sanft eine Hand auf die Schulter. Linda lächelte.

»Na ja, das würde noch passen, der Engel in der Engelhorn-Nordwand. Wenn nur der Engel nicht aus der Wand fliegt und seine Flügel aufspannen muss…«

Michael grinste.

»Los geht’s, Mädchen.« Linda warf einen Kontrollblick auf die am Gürtel hängenden Karabinerhaken, setzte vorsichtig den rechten Schuh auf einen Tritt im Fels, fasste mit den Händen zwei winzig kleine Griffe, zog sich etwas hoch, suchte für den linken Schuh einen Tritt, dann den nächsten für den rechten Schuh, wieder einen Griff für die linke Hand, einen neuen Tritt, einen neuen Griff… Und schon hatte Linda den ersten Sicherungspunkt erreicht. Sie zog einen Karabinerhaken vom Gürtel, fädelte ihn in die Öse des fest im Fels steckenden Bohrhakens ein und zog dann das Seil hindurch.

»Gut gemacht«, rief Michael von unten. Er war auf dem kleinen Absatz stehen geblieben, hatte sich selber gut gesichert und zog das Seil exakt im Tempo von Lindas Aufstieg nach, so dass es immer gespannt blieb und er Linda, sollte sie trotz aller Vorsicht abstürzen, auffangen könnte. Linda hatte schon wieder drei Meter Höhe gewonnen und steuerte zielstrebig den nächsten Bohrhaken an.

Was für eine tolle Frau, dachte Michael, welch Vergnügen, mit ihr klettern zu gehen! Wie liebe ich ihre schlanke, wohlgeformte Gestalt, ihre eleganten Bewegungen, ihre kräftigen Schenkel, ihre schwarzen, unter dem Kletterhelm vorquellenden Haare, ihr herzliches Lachen! Wenn ich da an meine Angetraute Susanna denke… Ein kräftiger Ruck am Seil riss Michael aus seinen Träumereien.

»Kannst nachkommen!«, rief Linda fröhlich von oben.

Eine knappe Stunde später hatten sie den Gipfel des Grossen Engelhorns erreicht, setzten sich auf einen grossen, flachen Stein und packten ihren Lunch aus dem Rucksack. Es war ein herrlicher Sommertag, die Sonne schien kräftig, und nur wenige Quellwolken schwebten über den Gipfeln. Aber hier oben auf fast 2‘800 Metern über Meer war die Luft frisch, und ein leichter Nordwind liess die verschwitzten Kletterer trotz Windjacke beinahe frösteln. Aber die Aussicht war atemberaubend. Tief unten schimmerte der Rosenlaui-Gletscher, dahinter erhoben sich die schneebedeckten Gipfel von Wellhorn, Wetterhorn, Rosenhorn und Hangendgletscherhorn. Weiter weg, im Osten, leuchteten die Schneefelder vom Sustenhorn, Dammastock und Galenstock. Die höchsten Gipfel des Oberlandes hingegen, das Finsteraarhorn und die Jungfrau, waren hinter dem Wetterhorn verborgen.

Zwei andere Seilschaften waren schon vor ihnen oben angekommen, man hatte sich kameradschaftlich begrüsst und tauschte bald Neuigkeiten aus der Kletterszene aus. Michael Steuri kannte fast alle einheimischen Bergsteiger. Er hatte schon als Gymnasiast, vor mehr als dreissig Jahren, zu klettern begonnen und kannte mittlerweile die meisten Routen im Berner Oberland aus eigener Erfahrung. Er hatte sich immer mit gezieltem Training fit gehalten und bewältigte auch jetzt noch, als Zweiundfünfzigjähriger, Routen bis zum fünften Schwierigkeitsgrad. In den letzten vier Jahren hatte er seine sportliche Schwägerin, Linda Moser, nach und nach für die Felswände begeistern können und sie zu einer fast ebenbürtigen Kletterpartnerin ausgebildet.

»Michael, was denkst du?«, fragte Linda, nahm seine Hand und sah ihn mit ihren grossen, dunklen Augen an.

»Ach, ich bin so glücklich, mit dir hier oben zu sein«, sagte er, »weit weg von den Sorgen des Alltags.«

»Hast du denn Ärger im Spital?« Michael seufzte.

»Ach, diese leidige Geschichte mit der Operation von Frau R… Und dann dieser lästige Brief… Aber ich kann dir jetzt noch nichts davon erzählen, vielleicht später mal… «

Michael blieb eine Weile stumm. Dann begann er unvermittelt leise zu lachen.

»Was ist?«, fragte Linda.

»Weisst du, ich dachte an deine Bemerkung vom Puppenhaus während des Aufstiegs. Von hier oben betrachtet, erscheint wirklich alles so winzig, das Tal mit seinen Alltagsproblemen so weit weg, alles so nichtig und klein. Rund um uns herum nur die Berge mit ihrer grossartigen Ruhe, voll von Klüften, Abgründen, senkrechten Wänden, Schutthalden, Schnee und Eis. Was suchen wir eigentlich hier oben? Warum zieht uns diese majestätische Welt mit solch magischer Kraft an, lässt uns keine Ruhe, bringt uns zum Träumen vom Klettern an senkrechten Wänden, vom Sieg über die Schwerkraft, vom Überwinden aller Schwierigkeiten, vom Erlebnis des Gipfels, von der tiefen Zufriedenheit nach dem Abstieg? Scheinbar leblos ist sie, diese Bergwelt, und doch voller Leben. Tausende blühender Pflanzen überziehen die steilen Abhänge, Murmeltiere tollen im Gras herum, Gämse und Steinbock trotzen den kargen Bedingungen, Adler und Alpendohlen segeln hoch in der Luft. Und nur ganz selten, an schönen Sommertagen, wagen sich auch wir Zweibeiner zaghaft ins Hochgebirge.«

»Mensch, du bist ja richtig poetisch«, staunte Linda, »aber eben, da unten im Rosenlaui, so winzig sie von hier aus auch erscheinen mag, braut sich ein tüchtiges Donnerwetter zusammen. Dort sitzt Matthias und widersetzt sich allen Geschwistern, will das Haus um jeden Preis behalten, nimmt alles dafür in Kauf. Ich kenne ihn nun schon lange genug, und ich glaube kaum, dass er nachgeben wird.«

»Ja, das wird schwierig«, stimmte Michael zu.

»Meine Liebe, so schön es hier oben ist, wir sollten uns langsam an den Abstieg machen.«

Mosers Ende

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