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Prolog

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Mensch! Pass doch auf, Willi!« Horst Ludewig trat gegen den Pfosten des Fußballtors, durch das der graue Lederball gekullert war.

Willibald Gelsenrath ließ die Schultern sinken. Neben ihm jubelte Heini Risio. Der Stürmer war ihm entwischt, schon zum dritten Mal bei diesem Training. Gelsenrath hatte ihn nur einen winzigen Moment aus dem Auge verloren, und schon stand es 3 : 0 für die gegnerische Mannschaft durch das dritte Tor von Heini Risio – seinen Gegenspieler.

»Kommt mal zum Mittelkreis!«, rief einer der beiden Friedrich-Brüder.

Gelsenrath konnte ihre Stimmen nie auseinanderhalten. Er trabte los, dem immer noch fröhlich hüpfenden Risio hinterher. Ludewig guckte im Vorbeigehen, als wolle er Gelsenrath bei lebendigem Leibe häuten, vierteilen oder Ähnliches. Es ist doch nur ein Trainingsspiel, dachte Gelsenrath, als er in der Spielfeldmitte antrat.

»Das hier ist unser letztes richtiges Training vor dem Halbfinale der Mitteldeutschen Meisterschaft, das wisst ihr alle«, begann Walter, der ältere der Friedrich-Brüder, seine Ansprache. »Wir können doch nicht über die Wiesen rennen wie eine Herde Schafe, nur weil Thoralf nicht da ist. Guckt auf eure Gegenspieler! Lauft so, dass ihr sie immer im Blick habt!«

Gelsenrath schaute zu Boden. Er wusste auch so, dass alle zu ihm sahen.

»Wir spielen jetzt erst mal eine Viertelstunde sieben gegen sieben und üben die Manndeckung. Ich teile die Mannschaften neu ein«, bestimmte Walter Friedrich.

Da brauchte Gelsenrath gar nicht mehr hinhören. Wenn kleine Mannschaften gebildet wurden, war ohnehin kein Platz für ihn. Tatsächlich zählte Friedrich nur die Namen der Besten auf. So kurz vor der wichtigen Partie ging es beim englischen Gentleman-Sport nicht mehr um Spaß.

»Willi, dich würde ich auch um etwas bitten«, riss Friedrich ihn aus seinen Gedanken. »Würdest du zu Thoralf fahren und nachschauen, warum er nicht zum Training gekommen ist? Du hast doch ein Fahrrad.«

Besser, als Ballholer zu spielen, dachte Gelsenrath. Diese Aufgabe musste Horst Ludewig übernehmen. Gelsenrath sah das verkniffene Gesicht des Ersatzverteidigers und nickte.

Die Spieler verteilten sich auf dem Feld, als Gelsenrath vom Platz trottete. Die Sportanlage war noch in das Grau des Märzes getaucht, aber an den Büschen ringsherum sprossen die Knospen bereits. Die zarten Triebe passten nicht zum rauen Ton, in dem die Friedrich-Brüder die VfB-Fußballer zum Trainingsspiel antrieben.

Das Fahrrad lehnte am Zaun, der den Sportplatz von der Oststraße trennte. Gelsenrath nahm seine Kleidung vom Gepäckträger und schlüpfte in Hose und Jacke. Hurtig schwang er sich auf den Sattel und trat in die Pedale. Die Wohnung des Mannschaftsführers lag in der Fregestraße, nur anderthalb Kilometer vom Sportplatz entfernt. Trotzdem fuhr Gelsenrath lieber etwas schneller, damit es nicht dunkel wurde und die Männer das Training beendeten, bevor er – hoffentlich mit Thoralf Schöpf – zurückkehrte.

Zwischen dem Sportplatz, der am Rande von Lindenau lag, und dem inneren Stadtgebiet von Leipzig erstreckte sich Weideland. Gelsenrath kam es so vor, als würde dort, wo die Häuser aufhörten, auch die moderne Zeit enden. Schon die Namen in dieser Gegend klangen nach bäuerlicher Idylle: Rechter Hand ragte der Kuhturm aus dem Boden, nach der Brücke über das Hochflutbett folgte auf der linken Seite die Viehweide. In wenigen Wochen würde hier endloses Grün das Auge erfreuen, noch lag das Gelände brach. Gelsenrath nahm einen unangenehmen Geruch wahr. So sauber das Frühlingswasser war, wenn es der Quelle im fernen Gebirge entsprang, so sehr wurde es auf seinem Weg bis nach Leipzig von den Abwässern der zahllosen neuen Fabriken verschmutzt.

Schnell überquerte Gelsenrath die nächste Brücke nach dem Versorgungshaus, das am linken Rand der Chaussee lag. Dieses Stück der Strecke fuhr er trotz der hier herrschenden Gerüche – im Sommer sorgte das Vieh für eine besondere Note – sehr gern. In aller Regel wirbelten hier keine Fuhrwerke Staub auf, und er konnte ungestört in die Pedale treten.

Vor ihm tauchten die ersten Häuser der Stadt auf. Bis vor ein paar Jahren war auch diese Gegend noch dörflich geprägt gewesen. Nun leuchteten die neuen, prächtigen Bürgerhäuser in der Märzsonne, als wären sie mit Edelsteinen besetzt. Vor dieser Häuserfront bog Gelsenrath in die Straße An der Alten Elster ein. Nun blieben nur noch ein paar Meter. Er guckte nach rechts und sah die Straßenschilder: Gustav-Adolph-Straße, Auenstraße und Fregestraße.

Gelsenrath war schon einmal in Schöpfs Wohnung gewesen, als der ihm in einer Nachhilfestunde ein paar Tricks der Defensive beim Fußballsport erklärt hatte. Theoretisch blieben da kaum Fragen: Stets am Gegenspieler kleben bleiben, und nebenbei den Ball im Blick behalten! Wenn solche Kerle wie der Risio und die Friedrich-Brüder nur nicht so schnell wären …

Gelsenrath trat durch die Haustür. Im Treppenhaus roch es nach dem abklingenden Winter, die feuchte Kälte schien noch im Putz des Mauerwerks zu stecken. Die Tür im ersten Stock führte zu der Gemeinschaftswohnung, in der Schöpf zwei Zimmer bewohnte.

Auf das Schellen hin öffnete allerdings eine alte Frau, dem Namensschild an der Tür nach handelte es sich um Frau Sauertopf. Ihr Gesicht passt zum Namen, ging es Gelsenrath durch den Kopf. Es war grau wie ein Regentag. Das Mütterchen hatte bestimmt seit dem Ende des Deutsch-Französischen Kriegs 1871 nicht mehr gelächelt, vielleicht sogar nicht mehr seit der Revolution 1848.

»Sie wollen sicher zum jungen Herrn Schöpf«, brummelte die Alte. »Ich habe ihn seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen, er wird sicher wieder seine Zeit mit dieser Fußlümmelei vergeuden.« Frau Sauertopf betrachtete Gelsenrath. Er spürte ihren Blick auf dem weißen Trikot, das unter seiner Jacke hervorlugte.

»Nein, bei der Fußballübungsstunde ist er nicht eingetroffen. Genau deshalb bin ich hier.«

»Na, dann treten Sie durch und schauen nach dem jungen Herrn!« Die Alte gab den Weg frei und wies auf die Tür an der Stirnseite des Korridors, wo Schöpfs Zimmer lagen.

»Danke sehr, meine Dame!«, entgegnete Gelsenrath und schlenderte durch den Korridor. Mit halbem Ohr hörte er die Alte hinter sich so etwas murmeln wie, eine Dame werde sie sonst nie genannt.

Gelsenrath klopfte an die Tür. Doch in Schöpfs kleinem Reich regte sich nichts. Gelsenrath drehte sich herum, die alte Frau war in einem Zimmer verschwunden – dem Geruch nach in der Küche. Also öffnete er vorsichtig die Tür zu Schöpfs Zimmern.

In der Stube herrschte penible Ordnung. Der Schreibtisch sah aus, als sei er noch nie benutzt worden. Die Platte war beinahe völlig leer, und auch das Tintenfässchen mit der altmodischen Feder machte eher den Eindruck eines Ziergegenstands denn eines Schreibgeräts. Außerdem stand ein Kelch auf dem Tisch. Vielleicht trank Schöpf gelegentlich Limonade aus dem Gefäß. Jetzt aber war es leer.

In einem Regal über dem Schreibtisch blinkten ein gutes Dutzend blitzeblank geputzte Trophäen, die genauso wie die Medaillen an der Wand von Schöpfs sportlichen Erfolgen zeugten. Neben der Tür zur Schlafkammer hingen Zeichnungen. Gelsenrath erkannte den Strich. Es handelte sich eindeutig um Übungen von Rosalinde Fritzschmann. Er hatte Schöpfs Verlobte bei mehreren Vereinsfestivitäten getroffen und stets ein wenig Mitleid mit der hübschen Brünetten empfunden. Schöpf kümmerte sich bei den gesellschaftlichen Anlässen viel zu wenig um das Fräulein. Wenn Gelsenrath so eine junge Dame ausführen würde …

Er dachte lieber nicht mehr an die Verlobte seines Mannschaftsführers und betrachtete die größte der Zeichnungen genauer: Eine Aphrodite stieg aus dem Meeresschaum und hielt eine Lanze in der Hand. Wenngleich die Züge der Göttin voller Anmut waren, strahlte das Bild doch etwas Bedrohliches aus.

Genug der Kunst. Wo konnte Schöpf stecken? Wenn er auf den Sportplatz gefahren wäre, hätte er Gelsenrath entgegenkommen müssen. Im Büro war er sicher auch nicht mehr, es ging schließlich schon auf halb sechs Uhr zu. Vielleicht hatte der Mannschaftsführer nach der Arbeit ein wenig geruht und war dabei eingeschlafen. Gelsenrath überlegte, ob er in der Schlafkammer nachsehen sollte. Damit würde er tief in Schöpfs privates Reich eindringen. Andererseits kam die Meisterschaft in ihre entscheidende Phase, und der Verein brauchte den Spielführer. Das war eine besondere Situation, die besondere Taten erforderte.

Entschlossen öffnete Gelsenrath die Tür zur Schlafkammer und trat auf die Schwelle. Tatsächlich, da lag Schöpf auf dem Bett, in seiner Sportlerkluft, mit dem Gesicht zum Fenster am anderen Ende des Zimmers. Der Mannschaftsführer ruhte mit angezogenen Beinen wie ein Kleinkind. Nein, mit der weißen VfB-Tracht wirkte er eher wie ein zu groß geratener Engel. Eigentlich war es ein Frevel, den Mann zu wecken. Dennoch trat Gelsenrath an das Bett und legte den Arm auf Schöpfs Schulter. Der Körper gab der leichten Berührung nicht nach. Also ruckelte Gelsenrath etwas stärker an der Schulter des Mannschaftsführers, und der Körper rollte in die Rückenstellung.

Nun erst sah Gelsenrath Schöpfs Gesicht. Die Wange, mit der Schöpf bis eben auf dem Bett gelegen hatte, war mit dunklen Flecken übersät. Der offene Mund und die aufgerissenen Augen bildeten eine Fratze. In dem starren Blick war pure Angst zu lesen. Es sah so aus, als hätte Schöpf mit einem Dämon gekämpft. Und verloren.

Gelsenrath schrie.

Mörderisches Spiel in Leipzig

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