Читать книгу Mörderisches Spiel in Leipzig - Uwe Schimunek - Страница 8

Drei

Оглавление

Sonnabend, 23. Mai 1903, morgens

Willibald Gelsenrath breitete die Pläne für das Haus in der Reitzenhainer Straße auf dem Zeichentisch aus. Paul Möbius weilte bereits ebenfalls im Büro in der Frankfurter Straße. Gelsenrath schätzte die Expertise des großen Architekten, zugleich flößte ihm dessen Strenge aber Respekt ein. Also überließ er nichts dem Zufall.

Mit einem Bleistift markierte Gelsenrath auf dem Plan die Stellen, an denen die Handwerker gerade den Innenausbau erledigten. Derzeit brachten die Stuckateure die Verzierungen an die Zimmerdecken an. Insbesondere die Rosetten gerieten prächtig. Wenn Gelsenrath über genug Berufserfahrung für die Eröffnung eines eigenen Architekturbüros verfügte, würde er sparen, um sich selbst eine solche Wohnung zu leisten. Dort ließe es sich prächtig mit einer Familie leben – etwa mit Fräulein Rosalinde und später einer ganzen Kinderschar.

Gelsenrath stellte sich vor, wie er nach getaner Arbeit, wenn die Sprösslinge in ihren Bettchen ruhten, mit Rosalinde in der Loggia bei einem Glas Rotwein saß und über Kunst philosophierte. Sicher käme seine Frau dazu, sich neben den häuslichen Pflichten ab und an dem Zeichnen zu widmen. Ihre Werke würde er in seinem Büro ausstellen und die Kundschaft beeindrucken. Dafür lohnte es sich schon jetzt, bei seiner ersten Anstellung, ein höchstes Maß an Pflichtbewusstsein an den Tag zu legen.

Möbius riss ihn aus seinen Träumen. Der Architekt stapfte schweren Schrittes an den Tisch und brummte unter seinem gezwirbelten Schnurrbart hervor: »Ich sehe, Sie sind vorbereitet, Herr Gelsenrath. Bringen Sie mich auf den neuesten Stand!«

»Sie sehen hier die einzelnen Etagen. Die Stuckateure sind im ersten Obergeschoss am Werke. Der Zimmermann arbeitet im Treppenhaus.«

Möbius beugte sich über den Tisch, setzte den Kneifer auf seine Nase und fuhr mit dem Finger über die Zeichnung. Ohne aufzuschauen, fragte er: »Sie haben den Zeitplan im Blick, junger Mann?«

»Ich denke, die Stuckateure werden pünktlich fertig sein. Gleich am Montag werde ich den Fortgang der Arbeiten wieder überprüfen. Mit dem Fahrrad bin ich ja schnell dort.«

»Sie mit Ihrem Fahrrad!« Möbius rückte den Zwicker auf der Nase zurecht. »Sie müssen Obacht geben, dass die Handwerker Sie nicht für einen Studenten halten und es an Respekt mangeln lassen.«

Der Herr hat Sorgen, dachte Gelsenrath, aber er nickte beflissen.

»Die jungen Leute denken immer, sie müssten alles ganz anders machen.« Möbius strich mit der Hand durch seinen Bart und guckte wie ein strenger Lehrer. »Doch Sie müssen bedenken, dass die Zeit ohnehin nicht stillsteht. Und häufig sind es die Menschen mit einem großen Maß an Wissen und Lebenserfahrung, die Neues erschaffen.«

Gelsenrath dachte an die Häuser, die Möbius baute. Mit ihrer Pracht prägten sie nicht selten das Bild einer ganzen Straße. Dennoch fehlte ihnen der Pomp älterer Bauwerke. Möbius baute mit Stil, ohne falsche Bescheidenheit, aber mit sicherem Geschmack – und das überall in der Stadt. Nun ging Möbius sicher auf die vierzig zu und machte mit seinen unübersehbaren Geheimratsecken alles andere als einen jugendlichen Eindruck. Doch der Mann veränderte das Stadtbild mehr als die Studenten mit ihrer modischen Kleidung.

»Es ist natürlich für mein Büro von großem Vorteil, dass Sie mit Ihrem Fahrrad in Minutenschnelle an die Baustelle gelangen, ohne weitere Kosten zu verursachen«, fügte Möbius hinzu. Er klang dabei wie ein Jockey, der einem Gaul nach einer schwierigen Übung ein Zuckerstück reichte. »Lassen Sie es die Handwerker einfach nicht bemerken!«

»Sehr wohl, Herr Möbius.«

Möbius strich sich erneut durch den Schnurrbart und wandte sich zum Gehen. Nach ein paar Schritten blieb er an der Tür stehen und wies auf den Zeichentisch. »Sie haben einen feinen Strich, möchte ich noch anmerken. Wie mir scheint, sind Sie nicht nur den Leibesübungen zugetan, sondern auch den schönen Künsten. Ist es an dem, Herr Gelsenrath?«

»In der Tat verkehre ich mit einigen jungen Malern und besuche regelmäßig die Galerien der Stadt.«

Möbius wiegte den Kopf, als suche er nach den rechten Worten. Für einen Augenblick blieb die Zeit stehen. Gelsenrath traute sich kaum noch zu atmen.

»Es ist Folgendes, Herr Gelsenrath.« Möbius sprach die Worte so langsam aus, dass seine Stimme noch tiefer klang. »Die Familie Kronenbaum lädt am Abend in den Salon. Der Herr des Hauses trat an mich mit dem Ansinnen heran, ihm neue Gäste zu empfehlen.«

Gelsenrath merkte, wie er auf einmal gerade stand. Fast kam es ihm so vor, als wüchse er und blicke von weit oben über den Zeichentisch.

»Also, was sagen Sie? Nehmen Sie sich heute Abend die Zeit?«

»Selbstverständlich, nichts lieber als das!«

»Sehr gut.« Möbius nahm den Kneifer von der Nase und drehte sich zum Flur.

Gelsenrath dachte an Rosalinde. Sicher wäre sie beeindruckt von einem Salonabend in der Kronenbaum-Villa. Möbius stapfte derweil bereits aus dem Raum. Es galt, allen Mut zusammenzunehmen. Schnell!

»Herr Möbius …«, sagte Gelsenrath, etwas zu leise, wie er selbst fand. Hoffentlich hörte Möbius gut.

»Ja, bitte?« Der Architekt blieb tatsächlich stehen und blickte fragend vom Flur herein.

»Darf ich in Begleitung kommen?«

»Aber sicher.« Unter dem Schnurrbart huschte ein spöttisches Lächeln über Möbius’ Gesicht. »Dann können wir immerhin ausschließen, dass Sie mit dem Fahrrad anreisen.«

Edgar Wank schritt die Stufen zum Polizeiamt in der Wächterstraße hinauf. Sein Kopf schmerzte, die Glieder fühlten sich an, als steckten vertrocknete Äste und nicht etwa Knochen in ihnen. Er hätte sich den Krug Bier zu Hause sparen sollen – nach dem Reinfall am Abend.

Vor dem Künstlereingang am Alten Theater hatte er sich mit seinem Blumenstrauß in einer langen Schlange von Verehrern wiedergefunden. Eleonore Rada gewährte jedem der Männer fünf Minuten. Wank hatte die Blumen nach einer guten Stunde Warten in die Ecke gepfeffert und war in die Wirtschaft geeilt, um noch einen Humpen Bier zu bekommen.

Vom Trost des Alkohols spürte er nichts mehr, den Kopfschmerz dafür umso mehr. Wank trat in das Gebäude.

In den Fluren des Polizeiamtes herrschte zur morgendlichen Stunde eisige Stille, nur seine Schritte hallten durch den Gang. Der Diensthabende erkannte ihn und winkte ihn durch, ohne ein Dokument sehen zu wollen. Die meisten Beamten kannten Wank. In der Regel wurde er behandelt, als sei er selbst ein Angehöriger der Polizei.

Die Treppe ins Obergeschoss war so breit, dass die Schutzmänner vermutlich ganze Banden von Delinquenten auf einmal hinauf- und hinabbefördern konnten. Die Stufen kamen Wank an diesem Morgen höher vor als sonst.

Im ersten Stock schnaufte er. Zum Glück waren es nur ein paar Schritte bis zum Dienstzimmer von Hauptwachtmeister Machuntze. Wank klopfte an die schwere Holztür und trat, nachdem er ein Gebrummel von drinnen vernommen hatte, ein.

»Herr Wank, das is mir ja eene Freude!«, rief Machuntze im Dialekt des Leipziger Umlands.

»Ganz meinerseits, Herr Hauptwachtmeister.«

»Nu kommen Se rein. Setzen Se sich!« Machuntze sprang von seinem Stuhl auf. Der Hauptwachtmeister reichte Wank allenfalls bis zur Schulter. Der Polizist ließ sich seine Uniformen bestimmt vom Änderungsschneider bearbeiten, denn Wank fiel auf, dass der Beamte sehr kurze Beine hatte. Der Hauptwachtmeister wies auf einen Schemel vor dem Schreibtisch. Wank nahm Platz. Im Sitzen sah die Welt schon viel besser aus. Wenn er gänzlich stillhielt, spürte er nicht einmal mehr Schmerzen im Kopf.

»’s is gut, dass Se heute doch vorbeigekommen sind, Herr Wank!« Der Polizist nahm auf seinem Dienstsessel Platz und hob ein Blatt Papier in die Höhe. »Ich habe noch was für Se. Das is ’ne Geschichte, sag ich Ihnen!«

»Doch nicht etwa ein Mordfall?« Wank hob den Kopf und spürte sofort einen Stich hinter der Stirn. Also verharrte er einen Augenblick und ließ den Kopf dann langsam wieder sinken.

»Na, das nu nich gleich«, antwortete Machuntze ohne den Blick von seinem Papier zu lassen. »Aber wir ham einen ordentlichen Strolch erwischt. Einbruch in Taucha, am Brühl, in der Katharinenstraße und bestimmt noch e paar mehr. Wir ham Kleidung im Wert von vielen Tausend Mark und nochemal so viel Bargeld bei dem Kerl gefunden.«

Wank zog Notizbuch und Stift aus dem Jackett, langsam und ohne überflüssige Bewegungen zu machen. Er überprüfte die Spitze des Crayons – der Bleistift war für die Konversation präpariert.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte Machuntze, dabei schaute er ihn über das Blatt hinweg an wie bei einem Verhör.

»Ja, ja. Es ist noch zeitig, und die Woche schon lang«, erwiderte Wank.

Der Polizist schaute wieder auf sein Blatt und sprach, als diktiere er. »Der Täter ist ’n 26-jähriger Bäckergeselle. Wir haben ihn in Braunsbedra bei Eckartsberga verhaftet.«

Wank notierte die Fakten. »Das ist eine schöne Geschichte. Da wird mein Herr Direktor sich freuen – zumal wir einen Erfolg der Beamten vermelden können.«

Machuntze legte das Blatt auf den Schreibtisch und zögerte einen Moment. Dann sagte er: »Ich werde am Nachmittag versuchen, dem Herrn Polizeidirektor die Leipziger Zeitung zukommen zu lassen. Bei der Gelegenheit würde ich ihn über unsere hervorragende Zusammenarbeit in Kenntnis setzen. Das wäre doch auch in Ihrem Sinne, Herr Wank?« Das Fragezeichen schwebte durch den Raum, vielleicht auch deshalb, weil Machuntze die letzten Worte so leise gesprochen hatte, als verabrede er eine Verschwörung.

»Selbstverständlich, Herr Hauptwachtmeister! Ganz in meinem Sinne. Ich werde versuchen, noch einmal bei meiner Leitung vorstellig zu werden.« Wank überlegte kurz, ob er das Treffen der beiden Direktoren erwähnen sollte. Er entschied sich dagegen, denn der Polizist wusste offenbar Bescheid. Ihre Übereinkunft bedurfte keiner weiteren Worte.

Auch für Machuntze schien das Thema erledigt zu sein, denn der Hauptwachtmeister widmete sich wieder seinen Papieren.

»Was gibt es noch?«, fragte Wank.

Der Polizist blätterte und zählte auf. »’ne Kindesaussetzung, ’n schweren Unfall in der Augenheilanstalt an der Liebigstraße … Nichts besonders Aufregendes.« Machuntze nahm die nächsten Blätter vom Stapel und murmelte: »Die Beamten melden sogar ’nen Diebstahl von Fahrradwerkzeug am Sportplatz draußen in Lindenau. Ein Fünfzehnjähriger wurde uff frischer Tat ertappt.«

»Am Sportplatz?«, fragte Wank. Ihm fiel Kutschers Geschichte vom toten Fußballer wieder ein.

»Ja, warum?«, fragte Machuntze.

Wank berichtete in kurzen Sätzen vom plötzlichen Tod des VfB-Mannschaftsführers.

Machuntze legte seine Unterlagen beiseite und öffnete seinerseits ein Notizbuch. »Wie, sagten Se, hieß der Mann – Schöpf?«

»Thoralf Schöpf«, bestätigte Wank.

»Das klingt tatsächlich e weng seltsam. Ich werde bei den zuständigen Beamten Erkundigungen einholn.«

Thomas Kutscher eilte die Katharinenstraße entlang. Wie konnte die Zeit nur so schnell verfliegen? Er hatte extra zusätzliche Zeit für die Morgentoilette eingeplant, die Uhr mit der Kette am Spiegel befestigt und höchste Eile an den Tag gelegt. Allerdings schmerzten seine Beine bei jeder Bewegung. Noch am Abend hatte er lediglich ein leichtes Ziehen in den Oberschenkeln verspürt. Beim Aufstehen und am Waschbecken wurde der Muskelkater beinahe unerträglich. Deshalb brauchte er auch für den Weg zur Katharinenstraße erheblich mehr Zeit, und nun zeigte der unerbittliche große Zeiger, dass er fast eine Viertelstunde zu spät war – für zehn war er verabredet gewesen.

Mit Schwung öffnete er die Tür zum Kaffeehaus und schaute sich im Gastraum um. Beinahe alle Plätze waren besetzt – ältere Damen, Gigolos mit ihren Eroberungen und natürlich Darsteller, Bühnenbauer, Maskenbildner und so weiter vom Alten Theater. Allein Walter Zeitlitz weilte nicht unter den Gästen. Kutscher überlegte, ob der Dramaturg wegen seiner Verspätung bereits wieder gegangen war.

»Warten Sie schon lange? Ich wurde im Theater aufgehalten.«

Kutscher drehte sich herum. Zeitlitz stand in der Tür. In der Hand hielt er eine goldene Taschenuhr. Er steckte den Chronometer zurück in seine Tasche, die Weste schlotterte an dem hageren Mann.

»Das macht mir keinerlei Umstände.« Kutscher suchte nach Worten, die seine eigene Verspätung nicht verrieten. »Ich war noch dabei, mir einen günstigen Platz zu suchen.«

»Lassen Sie uns nach hinten ins Separee gehen! Da haben wir unsere Ruhe.« Zeitlitz schritt durch den Gastraum und hatte einen regelrechten Hindernisparcours zu bewältigen. Ein Händeschütteln hier, ein flüchtiger Gruß dort. Eine Schauspielerin umarmte ihn gar überschwänglich.

Kutscher trottete hinter dem Dramaturgen her und versuchte dabei das Humpeln zu verbergen. Auch er kannte viele der Gäste und grüßte in die Runde. Zum Glück wurde ihm nicht annähernd so viel Aufmerksamkeit zuteil wie dem Dramaturgen.

Auch der Ober nahm Zeitlitz wahr und eilte herbei, kaum dass der Dramaturg das Separee erreichte. Der Mann wartete neben dem Tisch, bis sie Platz genommen hatten, und notierte die Bestellung von zwei Tassen Kaffee.

Zeitlitz strich sich über den Vollbart, so als sei der Tag bereits jetzt ein besonders guter. Sein Rauschebart reichte bis zur Anzugweste, das Gestrüpp blieb die einzige Extravaganz, die der Dramaturg sich leistete. Der dunkelgraue Anzug hingegen folgte der allerneuesten Mode und fiel leicht, aber faltenfrei wie frisch vom Bügelbrett.

»Ich habe Ihre Skizze gelesen.« Zeitlitz hob seine Hand und kratzte über die grauen Schläfen. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht … Künstlerstücke sind gerade in Mode – aber braucht es noch eines?«

Kutscher schwieg. Er hatte den ersten Akt des Stückes eigens verfasst, weil eine Komödie über das Leben der Boheme angefragt worden war – von Zeitlitz selbst.

»Das Bild des armen Künstlers wurde für meinen Geschmack etwas zu oft gezeichnet. Da fehlt mir das Außergewöhnliche.«

Der Ober trat an den Tisch und stellte die beiden Tassen ab. Der Kaffee duftete frisch.

»Ich gestehe gern, dass Ihre Dialoge Witz und Esprit haben, aber …« Zeitlitz ließ das Gesagte im Raum stehen und nahm einen Schluck Kaffee. »Ach herrlich, was für ein Getränk!«

Kutscher verspürte keine Lust, über Kaffee zu plaudern, also trank er ebenfalls.

»Zurück zu Ihrem Text«, sagte Zeitlitz und stellte die Tasse ab. »Ich würde mir wünschen, dass Sie bei der Wahl des Milieus etwas mehr Fantasie walten ließen.«

Fantasie!, höhnte Kutscher in Gedanken. Bislang hatte Zeitlitz alle seine Arbeiten abgelehnt, weil sie zu extravagant seien. Stets wusste der Dramaturg ganz genau, in welchen Bahnen die Geschichte verlaufen müsste. Kutscher kam es vor, als solle er etwas ganz Neues schreiben, das zugleich den klassischen Mustern und der aktuellen Mode folgte.

»Überlegen Sie doch einmal, ob Sie eine spannende Geschichte über diese jungen Leute mit ihrem Sportfimmel finden!«

Kutscher schossen die Wörter »Fußball«, »Schöpf« und »plötzlicher Tod« durch den Kopf. Er blickte den Dramaturgen an. Dessen Gesicht strahlte. Kutscher zögerte. Zeitlitz schien das zu bemerken und nickte ihm zu.

»In der Tat habe ich jüngst etwas ganz Bemerkenswertes erfahren. Stellen Sie sich vor, ein junger Sportler ist vor wenigen Wochen unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen!«

»Hah!« Zeitlitz klopfte auf den Tisch. »Die besten Geschichten schreibt das Leben. Man muss sie nur aufheben und in die richtige Form bringen.«

Und eine Komödie wie alle anderen daraus machen, ergänzte Kutscher in Gedanken. »Vielleicht kann ich mein Stück tatsächlich umarbeiten. Auch unter den Sportlern sind viele verwegene junge Männer. Zudem tragen sie Wettkämpfe aus. Jede Menge Konflikte …«

Zeitlitz strich sich erneut über den Bart, doch dieses Mal wirkte es nachdenklich, als wolle er mit der Bewegung seine Gedanken in Schwung bringen.

Kutscher fuhr fort: »Vielleicht kämpfen sie gar um Leben und Tod. Das bietet den Stoff für eine Groteske.«

»Ach, junger Mann«, sagte Zeitlitz so langsam, als wäge er jedes Wort vorm Aussprechen, »Sie müssen sich schon entscheiden, ob Sie eine Tragödie oder eine Komödie verfassen wollen! Und seien wir ehrlich, niemand tötet nur wegen eines sportlichen Wettstreits.«

Es gab im Grunde kein Motiv, aufgrund dessen ein zivilisierter Mensch töten würde. »Nichtsdestotrotz ist der besagte Fußballer tot«, sagte Kutscher jedoch.

»Ein Fußballer!« Zeitlitz lachte, als ob er gerade beobachtet hätte, dass jemand im Gastraum auf einer Bananenschale ausgerutscht wäre. »Das ist dann doch ein wenig abseitig. Sie dürfen nicht aus dem Blick verlieren, dass wir für ein erwachsenes Publikum spielen!« Der Dramaturg hob die Kaffeetasse an, trank aber nicht, sondern redete weiter. »Lassen Sie Ihre Figur doch Pferdejockey sein oder meinethalben auch Turner, und dichten Sie ihm eine hübsche Liebesgeschichte an! Dann reicht sicher auch eine nicht unerhebliche Verletzung, damit Sie sich den Kuss zum Abschied nicht verbauen. Das wäre doch ein feines Lustspiel. Haben Sie einfach Fantasie!«

Edgar Wank schlenderte über den Augustusplatz. Die frische Luft tat ihm gut. Seltsamerweise störte ihn heute auch der Trubel nicht. Das Gewimmel der Menschen lenkte ab, verscheuchte gar seinen Kopfschmerz. Außerdem drängten die Massen in die Stadt, vor dem Neuen Theater wurde es ruhiger. Jetzt, da er mehr Platz hatte, verlangsamte Wank seine Schritte und schlenderte am prunkvollen Theatergebäude mit seinen riesigen Säulen im Obergeschoss des Vorbaus vorbei.

An der Bahnhofstraße blieb er unter einem Baum stehen und ließ eine Straßenbahn passieren. Vor einem Lastfuhrwerk eilte er übers Pflaster. Der Kutscher brüllte einen Fluch vom Bock herunter – Wank verstand kein Wort, sprang aber beiseite. Vermutlich ging es dem Kerl auf dem Fuhrwerk auch gar nicht um bestimmte Inhalte – wenn er nur bellte wie ein tollwütiger Hund, bekam er die Straße frei. Auch aus der Gegenrichtung raste eine Droschke heran. Doch Wank erreichte die andere Straßenseite, bevor der nächste Schreihals zu Wort kam.

An der Ecke zur Poststraße verfiel Wank wieder ins Schlendern. Bis zum Redaktionsgebäude mit der Hausnummer 5 blieben nur ein paar Schritte, ein paar Augenblicke Zeit zum Verschnaufen, bevor er die Schreibstube erreichte.

Selbstverständlich würde er Machuntzes Wunsch erfüllen und die Erfolge der Polizei vermelden. Eine Bitte um Mithilfe hatte der Hauptwachtmeister ihm auch noch auf den Weg mitgegeben. Die Polizisten suchten nach einem Knaben, der fälschlicherweise eine Posaune bei einem Musikalienhändler abgeholt hatte. Das war kein Thema, das es unter normalen Umständen in Wanks Rubrik geschafft hätte, aber am heutigen Tage galt es für eitel Sonnenschein zwischen dem Amtsblatt Seiner Majestät und den Behörden zu sorgen. Im Kopf hatte Wank seinen Text bereits vollendet.

Er erreichte das Redaktionsgebäude. An der Haustür kam ihm Schliemeyer entgegen. Der Sportreporter hob die Hand zum Gruß, dabei stapfte er den Absatz herab wie ein alter Ackergaul. Vermutlich hatte er zu lange die Ergebnisse von Pferderennen niedergeschrieben.

Wank grüßte und ging an Schliemeyer vorbei ins Haus. Als er den Türgriff in der Hand hielt, kam ihm der tote Fußballer wieder in den Sinn. Abrupt drehte er sich um und rief: »Herr Schliemeyer, warten Sie doch bitte einen Moment!«

Der Reporter blieb stehen, zog beim Umdrehen seinen Überzieher bis unters Kinn und guckte müde unter seinem Hut hervor.

Seit wann war der Mann schon auf den Beinen?, fragte sich Wank. »Ich brauche nur einen Augenblick für ein paar Fragen«, bat er.

Schliemeyer zuckte mit den Schultern.

»Haben Sie Informationen über die Fußballmannschaft vom Verein für Bewegungsspiele?«, fragte Wank, während er zum Sportreporter trat.

»Ja, natürlich. Die Herren vom VfB haben in der vorigen Woche das Halbfinale zur Deutschen Meisterschaft gewonnen. Mit 6 : 3 gegen Altona. Irgendwas an dem sportlichen Wettkampf war seltsam. Mir will nicht einfallen, was …«

Wank spürte, wie er aufgeregt wurde. »Der plötzlich verstorbene Spielführer?«

»Thoralf Schöpf, ich erinnere mich. Das war allerdings schon vor vielen Wochen. Nein, es war noch etwas anderes. Aber was?« Schliemeyer rückte seinen Hut zurecht.

»Sie kannten Schöpf?«, fragte Wank.

»Ja, selbstverständlich. Sein Name ist unter allen Sportlern in Leipzig ein Begriff gewesen. Schöpf war auch ein ausgezeichneter Läufer und hat mal ein Rennen gewonnen. Ich müsste in meinen Unterlagen schauen … Eine tragische Sache ist da geschehen.«

»Wissen Sie, woran er gestorben ist?«

»Hm. Das Herz? Überanstrengung? Ich weiß es nicht.«

»Ein junger Sportler, ein ausgezeichneter Läufer – und der soll an Überanstrengung gestorben sein?«

Schliemeyer wiegte den Kopf. Nach einem Moment sagte er: »So selten kommt das nicht vor. Ich habe schon Jockeys zusammenbrechen sehen. Diese Sportler sind oft besessen vom Ehrgeiz. Auch wenn sie kränkeln, lassen sie nicht von ihren Übungen ab und bestreiten sogar Wettkämpfe. Das kann schnell auf Kosten der Gesundheit gehen.«

Ganz überzeugte Wank das nicht. Doch Schliemeyer schien nicht zu weiteren Diskussionen über den verblichenen Sportler aufgelegt zu sein. Daher wechselte er das Thema. »Da war aber noch etwas anderes, das Ihnen bei dem Spiel bemerkenswert erschien …«

»Ja. Da war etwas mit der Ansetzung der Halbfinals seltsam, aber mir will nicht einfallen, was. Vielleicht betraf es auch gar nicht dieses Spiel, sondern das zweite Halbfinale zwischen Karlsruhe und Prag …«

Das führte zu nichts. Schliemeyers Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Wenn der Reporter noch zwei Minuten länger nachdachte, würde er vermutlich im Stehen einschlafen. »Falls es Ihnen in der nächsten Zeit einfällt, wäre es ganz wunderbar, wenn Sie mir das mitteilen könnten«, sagte Wank.

»Das mache ich gern.« Der Sportreporter gähnte und wandte sich zum Gehen.

»Ach, eines noch!«, rief Wank eilig. »Lohnt es sich, im Archiv nach Artikeln über den VfB zu suchen?«

»Nein, das hätte keinen Zweck.« Schliemeyer winkte ab. »Wann immer ich Direktor Richter den Vorschlag unterbreitete, einen Beitrag über Fußball zu schreiben, hat er es abgelehnt.«

Mörderisches Spiel in Leipzig

Подняться наверх