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Zwei

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Freitag, 22. Mai 1903, abends

Es ist mir eine Freude, dass Sie die Zeit gefunden haben, Herr Wank!« Eleonore Rada schmeichelte Edgar Wank, als könne er für täglich volle Vorstellungen sorgen. Sie trug ein schlichtes schwarzes Tageskostüm. Der Rock lag eng an den Hüften und warf erst unterhalb der Knie Falten. Die Jacke wirkte an der Taille so schmal, dass Wank sich fragte, ob die Schauspielerin genug zu essen bekam. Ihr schwarzer Hut unterstrich die zarte Blässe ihres Gesichts.

Er verbeugte sich und deutete einen Handkuss an.

»Was halten Sie von einem kleinen Spaziergang? Vielleicht ein Abstecher ins Rosenthal? Ich habe über eine Stunde Zeit, bis ich in der Maske erwartet werde.«

»Aber gern.« Wank reichte der Dame seinen Arm, und sie schlenderten über den Theaterplatz. Wahrscheinlich sehen sie jetzt aus wie Verlobte, dachte er und verspürte einen eigentümlichen Stolz. Zwar war er weit davon entfernt, die Dame zu erobern, doch immerhin verbrachte sie Zeit mit ihm, und das in aller Öffentlichkeit. Es kam ihm vor, als halte er ein kostbares Buch in einer fremden Sprache in der Hand. Der Text blieb ihm verborgen, aber alle anderen mussten Wank für unglaublich belesen halten.

»Weilen Sie in dieser Welt, Herr Wank?«, fragte die Schauspielerin in neckischem Ton. »Ich dachte, Sie teilen Ihre Zeit mit mir.«

»Entschuldigen Sie bitte, meine Dame!« Wank spürte, wie sich Hitze auf seinem Gesicht ausbreitete. Vermutlich leuchtete sein Kopf wie eine Laterne.

Eleonore Rada bemerkte das offenbar, denn sie lächelte verschmitzt und zog ihn weiter.

Auf dem Schulplatz bahnten sie sich den Weg durch die Fuhrwerke und Droschken. Wank suchte nach einem Thema für die Konversation, doch ihm fiel keines ein. Eigentlich reichte es ihm, die Dame auszuführen – als schweigender Genießer.

In der Rosenthalgasse ließ der Lärm der Straße nach, und Eleonore Rada sagte: »Erzählen Sie mir doch etwas über die Bösewichter in der Stadt!«

Wank berichtete von den beiden Barbieren und ihrer tragischen Prügelei. Die Schauspielerin packte derweil seinen Arm fester, als suche sie Schutz. Am liebsten hätte er noch ein paar weitere Schauergeschichten erfunden. Doch so angenehm ihm ihre Nähe war, lügen wollte er nicht. Also verstummte er.

Sie überquerten die Zöllnerstraße, und für die nächsten Augenblicke erlöste der überwältigende Anblick der Natur ihn von der Pflicht, erneut über Verbrechen zu berichten. Die Abendsonne stand knapp über den Bäumen hinter der Großen Wiese. Im Teich ein paar Meter vor ihnen spiegelte sich das Rot des Himmels.

Arm in Arm betraten sie den Park. Nach ein paar Schritten fragte die Schauspielerin in ernstem Ton: »Sind all diese Verbrecher und ihre Gräueltaten das Richtige für Sie, Herr Wank?«

»Hm.« Diese Frage hatte er sich schon längere Zeit nicht mehr gestellt. »Ich habe eine feste Stelle und Freude bei meiner Arbeit.«

»Aber all diese schrecklichen Dinge!«

Für einen Moment war nur das Knirschen ihrer Schritte auf dem Weg zu hören.

»Sie haben doch eine sensible Seele, Sie sind doch ein Künstler!« Eleonore Rada klang, als beklage sie einen großen Verlust.

Wank hatte bei ihren bisherigen Begegnungen nicht den Eindruck gehabt, dass die Schauspielerin sich Gedanken über sein Seelenleben oder seine Talente machte. Auf den Feiern im Theater oder in Künstlersalons schäkerte sie mit jedem, besonders gern mit Kutscher. Wank hatte das Gefühl, die Frau habe ihn überhaupt erst nach dem dritten Blumenstrauß zur Kenntnis genommen.

»Das empfinden Sie so?« Wank blieb stehen und ließ ihren Arm los. »Ich denke, dass ich auch bei der Zeitung eine Aufgabe habe. In meinem Beruf geht es um Leben und Tod.«

»Bei der Kunst geht es auch immer um Leben und Tod. Was glauben Sie, wie oft ich schon auf der Bühne gestorben bin!«

Wank bezweifelte, dass sich ein Shakespeare und eine Prügelei unter Barbieren vergleichen ließen. Andererseits kannte er weder Täter noch Opfer seiner Artikel, beide blieben für ihn die anonymen Figuren eines Polizeiberichts. Was unterschied diese armen Würstchen von den Bösewichtern in einem Drama? Vermutlich steckte hinter ihrem Handeln kein Plan. Doch änderte das etwas für den Leser?

»So ein Zeitungsartikel ist doch nichts von Bestand. Ich bin sicher, Sie würden einen besseren Künstler abgeben als Ihr Freund Kutscher.«

»Auf Thomas lasse ich nichts kommen. Er wird seinen Weg finden.«

Eleonore Rada strahlte, als wolle sie die Sonne mit ihrer Anmut übertreffen. Sie hakte sich erneut bei ihm unter und führte ihn sanft in Richtung »Schweizerhäuschen«. »Ich wollte Ihren Freund nicht herabwürdigen, glauben Sie mir das bitte!«, sagte sie nach ein paar Metern. »Ich sehe doch nur, dass Sie jeden Tag Texte verfassen, während Herr Kutscher häufig nur darüber redet. Ich finde, es ist keine Schande, fleißig zu sein. Es ist nur schade, wenn jemand nicht tut, was er vielleicht könnte.« Erneut schmiegte sie sich enger an ihn.

Sollte er stehen bleiben und sie küssen? War es nicht schade, wenn jemand nicht tat, was er könnte? Oder missverstand er sie?

Sie löste sich von ihm und fragte: »Kommen Sie am Abend in die Vorstellung? Wir geben Zazà. Die Hauptrolle spielt Irene Triesch, sie gastiert derzeit bei uns. Sie ist meine Gegenspielerin. Ich würde mich sehr freuen.«

Wieder eine Gelegenheit verpasst, dachte Wank. »Leider habe ich bereits andere Pläne. Ich werde Zazà aber in den nächsten Tagen besuchen, ganz sicher.«

»Ach, das ist schade«, sagte Eleonore Rada keck. »Ich bekomme doch so gerne Blumen.«

Das ließe sich einrichten, dachte Wank.

Thomas Kutscher legte seine Kleidung auf einem Baumstumpf am Rande der Wiese ab. In den Sportsachen fühlte er sich beinahe nackt. Tatsächlich leuchteten seine Waden speckweiß unter den kurzen Hosenbeinen hervor. Zum Glück hatten die Studenten diese abgelegene Wiese in der Nähe der Nonne, inmitten des Auwaldes, für ihr Treffen ausgewählt. Für gewöhnlich ging die Mannschaft ihrem Sport am Sonntag nach, doch in dieser Woche wollten die meisten Spieler zum Renntag ins Scheibenholz, daher wurde das Fußballspiel auf den heutigen Nachmittag vorverlegt.

Kutscher machte ein paar Kniebeugen. Es konnte sicher nicht schaden, wenn er ordentlich auf die Übungen vorbereitet war. Nach drei Kniebeugen begann Kutscher zu schwitzen. Nun, er wandelte ja nicht auf den Spuren von Turnvater Jahn. Hier ging es um die verrückte neue Sache aus England, den Gentleman-Sport. Beschwingten Schrittes drehte er eine Runde über die Wiese. Ja, er war vorbereitet. Die Herren Studenten durften kommen.

Ein wenig wunderte sich Kutscher über sich selbst, normalerweise kam er als Letzter. Doch nach der Turmuhr, die er auf dem Weg hierher passiert hatte, blieb noch reichlich Zeit bis zum vereinbarten Treffen. Dabei erschien es ihm durchaus im Bereich des Möglichen, dass die Herren Studenten das akademische Viertel verstreichen ließen, bevor sie im Park erschienen. Leider trug er keine Uhr bei sich, um die Zeit zu überprüfen.

Doch das musste er nicht mehr, denn plötzlich hörte er aus Richtung der Stadt Fahrräder nahen. Die Fahrer unterhielten sich lautstark. Sie waren zwischen den Bäumen nur zu erahnen, den Stimmen nach mussten es fünf, sechs oder mehr sein.

Als die Gruppe die Lichtung erreichte, zählte Kutscher nicht weniger als neun. Die jungen Herren trugen leichte Jacken und darunter bereits ihre Sportbekleidung. Sie lehnten ihre Fahrräder an die Bäume und eilten auf ihn zu. Er kannte nur den hochgewachsenen Blondschopf in der Mitte, der einen grauen Ball in der Hand trug. Der Student hieß Anton Rübele, stammte aus dem Badischen und hospitierte gerade am Alten Theater.

»Desch isch der neue Sportfroind«, sagte Rübele im Dialekt seiner Heimat zu den Kameraden und wandte sich Kutscher zu. »In der Monnschoft pflegen wir de Du, wenns rescht isch.« Er streckte seine Hand aus. »Anton – oder Tony.«

Die anderen Studenten riefen ihre Namen, zu schnell, als dass Kutscher sie sich hätte merken können. Ein Johann oder Johnny war dabei, ein Harald beziehungsweise Harry, ein Gerhard oder Gerry …

»Thomas«, entgegnete Kutscher und zögerte kurz. Wenn er schon einen englischen Sport betrieb, dann richtig. »Gern auch Tommy.«

Rübele rief ein paar knappe Anweisungen, und die Studenten stoben auseinander. Dann warf der Wortführer Kutscher den Ball zu. Der versuchte ihn zu fangen, das gelang ihm aber nicht. Die Kugel prallte von seiner Hand ab und hüpfte über die Wiese.

»Der ist viel leichter, als ich gedacht habe«, sagte Kutscher.

»Da gewönschte disch schnell dran, Tommy.« Rübele lachte.

An den beiden Längsenden der Wiese markierten Studenten mit ihren Jacken die Tore. Ein Kamerad kickte den Ball zu Rübele. Der stoppte die Kugel mit dem Fuß.

»Mit dir wäre mer schon zehn Sportfroinde. Nun noch ei Mann, und ab Herbscht könnte es rischtisch loschgehe.« Mit der Innenseite des Fußes schob Rübele den Ball zu Kutscher.

Die Kugel holperte über einen Grashügel. Kutscher hob den rechten Fuß an, und es gelang ihm, das Leder mit dem Fuß an den Boden zu bringen. Der Ball sprang nur ein paar Fußbreit zurück und blieb liegen. So schwer war das also gar nicht.

Rübele nickte anerkennend. Der Blonde trat ein paar Schritte zurück und rief Kutscher zu: »Spiel! Mit da Innenseite vonsch de Fuß!«

Kutscher guckte den Blondschopf an. Der schien nicht zu scherzen, vielmehr stand der lange Kerl mit angewinkeltem Bein da und klopfte mit dem Finger auf den Spann. Also gut, Kutscher kam sich zwar ein bisschen vor, als watschele er wie eine Ente, doch er trat mit dem linken Bein einen Schritt vor und stupste die Kugel dann wie verlangt zu Rübele. Erstaunlicherweise rollte der Ball tatsächlich in dessen Richtung.

»Haschte gut gemacht!« Rübele dribbelte den Ball noch ein paar Meter weiter und kickte ihn mit viel Kraft zu Kutscher.

Kutscher stoppte und spielte zurück. Dieses Spiel wiederholten sie noch ein paar Mal. Rübele entfernte sich dabei immer weiter. Kutscher fiel das Spiel mit dem Ball immer leichter.

»So wie du desch machst, wern mer noch die Spieler von Britannia und de VfB schlagen«, rief Rübele begeistert.

Als der Blondschopf mindestens zehn, zwölf Meter entfernt war, legte er den Ball mit der Hand zurecht. Rübele nahm Anlauf und trat mit dem Spann gegen den Ball. Die Kugel flog unerwartet schnell. Das Leder setzte kurz vor Kutscher auf und sprang ihm dann mit voller Wucht gegen den Oberschenkel.

»Au, verdammt!« Kutscher griff an sein Bein. Es schmerzte wie nach einem Peitschenhieb.

Rübele eilte herbei und rief: »Bischt du verletzt?«

»Nein«, stöhnte Kutscher. Während der Schmerz nachließ, hörte er einige der Studenten kichern. »Es wird schon gehen.«

Rübele hob die Hand, und die anderen verstummten und trotteten herbei. Der Blondschopf ließ einen Moment der Ruhe verstreichen und erklärte dann mit der Stimme eines Festredners: »Gentlemen, lascht unsch den englischen Sport beginnen. Wir werden einen fairen Wettkampf auschtragen und Mitspielern wie den Gegenspielern högschten Reschpekt entgegenbringe.« In weniger offiziellem Ton teilte Rübele die Mannschaften ein. Zu Kutscher sagte er: »Du gescht am beschten erscht mal ins Tor. Schau dir an, wie die anderen spielen. Und lasch dir von Johnny die Handschuh geben.«

Noch vor wenigen Minuten hätte Kutscher sich nicht vorstellen können, dass er je Handschuhe zu kurzen Hosen tragen würde, noch dazu gerade von einem Fremden getragene. Doch der rote Fleck auf seinem Oberschenkel, dessen Farbe bestimmt bald ins tiefste Blau wechseln würde, ließ jeden Widerspruch ersterben. Hauptsache, er blieb unverletzt, damit er die Kameraden später nach dem toten Fußballer befragten konnte.

»Ist Ihre Tochter zu sprechen, Frau Fritzschmann?« Willibald Gelsenrath verbeugte sich und nahm dabei die Melone mit Schwung vom Kopf.

Rosalindes Mutter füllte in ihrem hochgeschlossenen Kleid den Rahmen der Wohnungstür beinahe aus. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und antwortete: »Ich werde sehen, ob die junge Dame in der Verfassung ist, Herrenbesuch zu empfangen.«

»Lassen Sie den Herrn doch bitte herein, Frau Mama!«, bat Fräulein Rosalinde aus dem Korridor. »Ich werde ihm in der Essküche eine Limonade bereiten.«

Die Mutter stapfte beiseite, gab den Eingang frei und wies, ohne ein Wort zu sagen, auf den Kleiderständer. Das mannshohe Biedermeier-Möbelstück war überladen mit Verzierungen. Lediglich an einem Haken hing ein Gehrock. Darüber ragten geschwungene Stäbe aus der Konstruktion. Gelsenrath stülpte die Melone über das Holz.

Frau Fritzschmann trottete in die gute Stube, sodass Gelsenrath mit Fräulein Rosalinde allein im Korridor stand. Die junge Dame trug auch noch zwei Monate nach dem Tod ihres Verlobten Schwarz. Ihr Kleid war derart schlicht, dass ihr Gesicht wie ein Schmuckstück wirkte. Sie hatte ihr aschblondes Haar am Hinterkopf zu einem Dutt gebunden. Nachdem ihre Mutter die Tür hinter sich geschlossen hatte, seufzte das Fräulein und schritt in die Essküche.

Um den runden Tisch standen sechs Stühle. Gelsenrath wusste, dass Rosalinde ältere Brüder hatte, die bereits in eigenen Haushalten wohnten. Auf ihr Zeichen setzte er sich und beobachtete die junge Dame, wie sie Zitronen und weiteres Obst aus einer Schale nahm und sich der Limonade widmete. In den letzten Wochen hatte sie ihre Haltung wiedergefunden, keine Spur mehr von den hängenden Schultern. Sie war freilich noch schmaler geworden als vor Schöpfs unerwartetem Ableben, das verlieh ihren anmutigen Bewegungen etwas Zerbrechliches.

Fräulein Rosalinde stellte den Becher mit der Limonade vor Gelsenrath ab, setzte sich und blickte ihn an, als erwarte sie dringende Neuigkeiten aus der Welt.

»Es ist sehr freundlich, dass Sie mich empfangen«, sagte Gelsenrath eine Spur zu hektisch, wie er selbst feststellte. »Ich möchte Sie noch einmal meiner vollen Unterstützung in dieser schweren Zeit versichern.«

»Dafür danke ich Ihnen ganz herzlich. Wie Sie sich vorstellen können, macht mir Thoralfs Tod immer noch sehr zu schaffen.« Sie faltete ihre Hände auf dem Tisch und seufzte. »Ich sitze seit der Beerdigung vor über sieben Wochen in meiner Kammer und weiß nichts mit mir anzufangen.«

»Haben Sie gezeichnet?«

Das Fräulein senkte den Blick. »Nicht ein einziges Mal habe ich zu Stift oder Pinsel gegriffen.«

»Es ist ein Jammer, Fräulein Rosalinde. Sie müssen wissen, dass ich Ihre Arbeiten stets mit großem Interesse betrachtet habe.« Gelsenrath tippte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Zeichnen Sie wieder! Thoralf hätte das gewollt.« Er zögerte und fügte feierlich hinzu: »Tun Sie es für ihn.«

Die junge Dame schaute auf. Ihre Augen waren so matt, als blicke sie durch einen Trauerflor. »Ach, mein lieber Herr Gelsenrath! Genau dort, wo Sie jetzt sitzen, saß früher mein Thoralf und hat mir oft Mut zugesprochen, mich der Kunst zu widmen. Ganz genauso wie Sie jetzt.«

Er an Thoralfs Platz, das war eine schöne Vorstellung, fand Gelsenrath. Und das trauernde Fräulein war ganz von selbst auf die Idee gekommen. Darauf ließ sich aufbauen. Doch zunächst öffnete Mutter Fritzschmann die Tür zur Essküche. Sie erkundigte sich, ob bei den jungen Leuten alles in Ordnung sei. Dabei zeichnete sich in ihrem Gesicht jene Mischung aus Missmut und Neugier ab, die Menschen an den Tag legen, die das Schlimmste befürchten und sich ärgern, wenn es nicht eintritt.

Fräulein Rosalinde erwiderte, dass alles zum Besten stünde. Gelsenrath lobte den Wohlgeschmack der Limonade und trank zur Bekräftigung des Gesagten einen Schluck.

Die dicke Mutter stapfte in den Korridor zurück. Gelsenrath wunderte sich, wie sehr sich zwei Frauen aus gleichem Fleisch und Blut voneinander unterscheiden konnten – so, als seien ein Nilpferd und eine Taube miteinander verwandt. Immerhin war nun das Nilpferd weg und das Täubchen noch da. Gelsenrath merkte, wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte.

»Sie müssen meiner Mutter verzeihen!« Auch Fräulein Rosalinde klang fröhlich. »All meine Besuche beobachtet sie mit scharfen Augen. Auch wenn Thoralf hier saß, schaute sie alle paar Minuten nach dem Rechten.«

»Vielleicht«, sagte Gelsenrath zögerlich, um den Eindruck zu erwecken, ihm käme der Gedanke erst während des Sprechens, »sollten Sie wieder öfters das Haus verlassen.«

»Meinen Sie?«

»Ich denke, es wäre ganz in Thoralfs Sinne. Sie verlieren ihn ja nicht aus dem Herzen, wenn Sie anderen Menschen begegnen, die auch um Thoralf trauern.«

Fräulein Rosalinde entgegnete nichts, doch nach ein paar Augenblicken nickte sie beinahe unmerklich mit dem Kopf.

Gelsenrath bemühte sich nach Kräften, die ernste Miene beizubehalten. Am liebsten wäre er vor Freude durch die Essküche gesprungen. Fräulein Rosalinde würde wieder ausgehen – und wenn er sich nicht zu dumm anstellte, mit ihm.

»Sie sind so gut zu mir, Herr Gelsenrath.« Fräulein Rosalinde blinzelte. Der Trauerschleier war verschwunden. »Wenn Sie am Wochenende Zeit haben, finden Sie mich im Garten meiner Eltern in der Sparte vor den Bahnanlagen.«

Der Ober stellte zwei Krüge Münchner Löwenbräu auf den Tisch. Wegen dieses Bieres hatte Thomas Kutscher auf dem Treffen im »Bavaria« in der Nikolaistraße 2 bestanden. Edgar Wank trank das bayerische Gebräu ebenfalls gern und mochte die Kneipe, auch wenn er sich etwas müde fühlte, ihm deshalb der Lärm auf die Nerven ging und er schon wieder über zwanzig Minuten auf den Freund gewartet hatte. Dieses Mal hatte ihn Letzteres weniger gestört, denn es galt, die Zeit bis zum Ende der Vorstellung im Alten Theater herumzubringen.

»Erzähl, Edgar, kannst du Erfolge bei der holden Frau Rada verzeichnen?« Kutscher hob seinen Krug. »Prost!«

Wank nahm einen kräftigen Zug Bier. Der bittere Geschmack belebte ihn augenblicklich. Was für ein Zaubertrank! »Ich werde Fräulein Rada heute Abend Blumen überreichen. In den nächsten Tagen schaue ich mir noch einmal Zazà an.«

Kutscher lachte. »Du bist ja ein richtiger Draufgänger!«

»Eile mit Weile. Ich kann sie schließlich zu nichts zwingen.«

»Nein, aber du kannst es vertrödeln.«

Übers Trödeln redet der Richtige, dachte Wank. Er trank noch einen Schluck Bier, um etwas Zeit für einen Themenwechsel zu gewinnen. Kutscher tat es ihm gleich und stemmte eben seinen Krug in die Höhe.

»Jetzt bist du aber dran«, sagte Wank und stellte seinen Humpen ab. »Heraus mit der Sprache! Was gibt es für Sensationen zu berichten?«

»Ich dachte schon, du fragst nie.« Kutscher bekam einen lauernden Blick – wie ein Jäger, der auf dem Hochstand die Flinte anlegt.

»Jetzt rede!«

»Du wirst es nicht glauben.«

»Doch!« Der Kerl machte Wank verrückt.

»Ich schließe mich einem Fußballverein an.«

»Was tust du?« Wank lachte.

»Ich habe heute mit den Kameraden trainiert und bin ihrem Fußballverein beigetreten. Wir beteiligen uns alsbald am ordentlichen Spielbetrieb.«

»Ordentlicher Spielbetrieb? Mit einem Verein? Thomas, glaubst du, das ist etwas für dich?« Wank bemühte sich, nicht vor Lachen vom Stuhl zu kippen. »Wahrscheinlich habt ihr euch vorhin im Park getroffen, und alle außer dir waren Studenten.«

Kutschers Miene wurde grimmig – dem Jäger war das Wild wohl entkommen. »Diese Studenten betreiben ihren Sport ernsthaft, Edgar! So auch ich!«

»Das ist doch diese Fußlümmelei, bei der Männer in kurzen Hosen einem Ball hinterherrennen und sich in einem fort englische Wörter zurufen. Thomas, das kann doch nicht dein Ernst sein! Du bist 24 Jahre alt, fängst lauter Dinge an und bringst nichts zu Ende.« Wank kam sich vor, als rede er wie sein Großvater.

Kutscher ging indes nicht auf die Kritik ein, sondern erwiderte: »Wir schießen ins Goal, wenn unsere Backs die Stürmer nicht daran hindern. Das Spiel teilt sich in zwei Halfs. So heißt das eben beim englischen Sport. Wir laufen dem Ball außerdem nicht nur hinterher, wir kicken ihn uns zu. Wir nennen das Pass.«

»Pass. Wie im Gebirge?«

Kutscher nickte.

»Und müsst ihr auch bergauf rennen?« Wank lachte selbst über seinen Witz.

»Mach dich nur lustig, mein Freund! Du wirst sehen, wie der englische Sport in der Stadt an Ansehen gewinnt, wenn der Verein für Bewegungsspiele Deutscher Meister wird.« Kutscher stemmte seinen Krug in die Höhe wie eine Trophäe.

»Im Fußball? Oder im Streichholzwerfen oder Murmeln?«

»Der VfB fährt am nächsten Wochenende zum Endspiel nach Altona.« Kutscher setzte den Krug an und trank, als begieße er schon den Sieg. »Die Mannschaft spielt gegen den Deutschen Fußballklub aus Prag. Im dortigen Tagblatt wird über den Fußballsport schon eifrig berichtet.«

»In der Zeitung?«, staunte Wank und merkte, wie ihm das Lachen im Hals steckenblieb.

»Ja.« Kutscher kostete seinen Triumph aus, indem er erneut den Krug in die Höhe hielt.

»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Schliemeyer auch nur ein Wort über deinen englischen Sport verliert. Für ihn gibt es nur Pferderennen, Pferderennen und Pferderennen.« Wank dachte an das Treiben in der Redaktion der Leipziger Zeitung. »Vermutlich würde der Direktor für solche Moden auch kein Verständnis aufbringen.«

»Diese alten Säcke, sollen sie doch zum Pferderennen gehen!«

Wank winkte dem Ober, lachte und rief: »Wir brauchen dringend kaltes Bier, damit mein Hitzkopf von Freund sich wieder beruhigt!«

Der Ober guckte, als überlege er, den seltsamen Freund samt Wank des Lokals zu verweisen, sagte aber: »Sehr wohl, mein Herr.«

»Du glaubst wohl, ein weiterer Humpen ändert meine Meinung? Was auch immer die Alten tun, sie werden das Neue nicht aufhalten. Das sage ich dir, mein Freund.«

Wank schob den leeren Krug an den Rand des Tisches und versuchte, einen versöhnlichen Ton anzuschlagen. »Thomas, es handelt sich lediglich um ein Spiel im Park.«

Der Ober brachte das neue Bier und zog zwei Striche auf dem Zettel.

»Auf das Neue!« Kutscher hob seinen Humpen.

»Auf die Weitsicht, das Wesentliche zu erkennen!«

Sie stießen an und tranken.

»Vielleicht«, sagte Kutscher, »schreibt nicht der Sportredakteur über den Verein für Bewegungsspiele, sondern du.«

»Ist das Betreiben des Fußballsports neuerdings ein Verbrechen?« Wank merkte, wie seine Worte ein wenig zu höhnisch klangen. Denn Kutscher meinte es offenbar ernst.

»Nein, gegen den Ball zu treten ist erlaubt. Ich meine natürlich den mysteriösen Todesfall.«

Wank fragte nicht nach. Ihm fielen zwar eine Reihe spöttischer Bemerkungen ein, etwa über die Gefahr, die mit jeglicher Bewegung einherging. Doch der Freund hatte diese feierliche Miene aufgesetzt, die Menschen zeigen, wenn sie ein Geheimnis verraten wollen.

»Ich habe die Kameraden befragt. Sie sind allesamt höchst verwundert über den Tod des VfB-Spielführers. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr!«

Da hatte Kutscher recht. Doch Wank tat dem Freund nicht den Gefallen, ihn zu drängeln.

»Der Mannschaftsführer erschien einfach nicht zum Training und wurde schließlich tot aufgefunden. Und das alles kurz vor den Finalspielen!« Kutscher lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

Wank überdachte die Nachricht kurz und erwiderte: »Es kommt vor, dass Menschen sterben. Bedauerlicherweise trifft es bisweilen auch junge Leute.«

»Überleg mal, Edgar! Das war nicht irgendein junger Mann. Es handelt sich um einen Sportler in voller Manneskraft. Seine Kameraden haben zu ihm aufgesehen, und auch seine Gegner sprachen von seiner Ausdauer stets voller Bewunderung.« Kutscher hob den Finger wie ein Lehrer. »An dieser Sache ist etwas faul, mein Freund. Das sage ich dir.«

Vielleicht sollte er dem Fall tatsächlich nachgehen, überlegte Wank.

Mörderisches Spiel in Leipzig

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