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Stellas Fernrohr

Fiona paddelte auf dieser nassen, nicht endenden, finsteren Einöde unermüdlich mit ihren Füßen. Obwohl der Sternenglanz des Firmaments das Meer erhellte, wartete sie sehnsüchtig auf die ersten erlösenden Sonnenstrahlen. Auch wenn sie sich noch so gut im Dunkeln orientieren konnte, riefen die überall lauernden Gefahren, denen sie sich schutzlos ausgesetzt fühlte, ein starkes Unbehagen in ihr hervor. Um sich abzulenken, schwelgte sie weiterhin in Erinnerungen und träumte sich auf den Planeten Urania, wo sie jeden Morgen ihre Lieblingswasserpflanzen am Ufer ihres geliebten kleinen Sees aß. Wie immer kam dann die Eisprinzessin aus ihrer Eiskuppel, um ihre Freundin zu begrüßen. Stella hatte sich ursprünglich ein Schloss auf dem Gipfel des höchsten Berges gebaut. Fiona zuliebe war sie daraus ausgezogen und hatte sich dafür ein Haus ein paar Schritte vom See entfernt erbaut, um so nahe wie möglich bei ihrer Freundin zu sein. In vielen Gesprächen weihte die Eisprinzessin Fiona in die Geheimnisse ihres Lebens ein und vertraute ihr alles an.

Sehnsüchtig rief sich der Schwan den Anblick des Zimmers der Prinzessin, ganz aus Eis, am Seeufer wieder in sein Gedächtnis zurück. Glitzernde Wände wölbten sich über einem romantischen Bett, das Stella eigenhändig aus dem feinsten, klarsten Eis geschnitzt hatte. Ein kompliziertes Geflecht aus ineinander verwobenen Rankenornamenten verzierte die Kopf- und Fußteile. Passend zu diesem eindrucksvollen Möbelstück gab es noch einen Stuhl und einen Tisch auf dem Stella eine Landkarte der Antarktis kunstvoll eingraviert hatte. Der Raum öffnete sich zu einem ovalen Balkon, in dessen Mitte Stellas Meisterwerk thronte. Es war ihr Teleskop, jenes wunderbare Tor in andere Welten. Mit seiner Hilfe erschloss sich ihr die unendliche Weite des Universums und so vermochte sie sich jedem Punkt im All zu nähern, ohne dabei je ihren Platz verlassen zu müssen. Bei einem ihrer Aufenthalte auf der Erde hatte sie ein solches Fernrohr gesehen und sich spontan getraut hindurchzuschauen. Welch eine Entdeckung! Selbst die weit entfernten Planeten schienen auf magische Weise direkt vor ihrer Nasenspitze zu schweben. So keimte in ihr die Idee auf, selbst ein ähnliches Modell auf Urania zu bauen. Auf diese Weise beabsichtigte sie das Leben auf der Erde von ihrem Planeten aus, buchstäblich unter die Lupe zu nehmen. Der langwierige Bau dieses komplizierten Instrumentes hatte die Prinzessin trotz der wertvollen Hilfe ihres Zauberstabes viel Kraft, Anstrengung und Ausdauer gekostet. Der Zusammenbau der Teile war mindestens zehnmal fehlgeschlagen. Zusätzliche Schwierigkeiten hatte ihr die Gestaltung der Prismen, Linsen und Spiegel bereitet, da sie nicht aus Glas, sondern aus Eis bestanden. Nach etlichen Jahren entnervender Mühsal hatte sie die Hoffnung schon aufgegeben, das Teleskop jemals benutzen zu können. Doch eines Morgens, als sie zum letzten Mal die Anordnung der optischen Elemente geändert hatte, sah sie fassungslos einen ... Planeten. Endlich Erfolg! Sie erkannte sofort die Erde. Und das was sie zuerst erblickte, verschlug ihr den Atem. Ein prunkvolles Schloss aus Eis erhob sich in Spitzbergen und davor stand eine imposante Erscheinung. Ein hochgewachsener Mann aus Eis, gehüllt in einen schimmernden Umhang. Auf seinem Haupt glänzte eine eindrucksvolle Krone, in deren Eiskristall sich die Strahlen der Sonne vielfach brachen und ihn mit einer Aura aus bunten Lichtern umschmeichelten. Sein edles Gesicht wies ihn als weisen Anführer aus, voller Güte und Aufrichtigkeit. Dies war das erste Mal, dass Stella den Eiskaiser erblickte. Ihr Herz überschlug sich und von diesem Moment an war er das Ziel ihrer Sehnsucht.

Eine Schar wild aussehender, untersetzter Eismänner tobte um ihn herum. Das Fernrohr brachte die Szenerie zum Anfassen nah an sie heran. Es kam ihr vor als würde sie direkt vor diesen faszinierenden Geschöpfen stehen. Dieser entscheidende Augenblick markierte einen Wendepunkt in ihrem Leben. Seitdem verbrachte sie mindestens eine Stunde pro Tag vor ihrem Teleskop, versunken in der Beobachtung Haralds und seiner Trolle. Jahrelang verfolgte sie so seine unzähligen Reisen um den ganzen Globus. Die unerschöpfliche Energie, mit der Harald seine riesigen Reiche pflegte, erfüllte sie mit grenzenloser Ehrfurcht.

Stella war von einer tiefen Zuneigung für Harald erfüllt. Sie war ihm zwar noch nie begegnet, doch jedes Mal, wenn sie auf die Erde reiste, war sie beseelt von der Hoffnung dank einer glücklichen Fügung des Schicksals, seinen Weg zu kreuzen oder wenigstens einen Blick von ihm zu erhaschen. Einmal hatte sie sich voller Erwartung und mit rasendem Puls bis nach Spitzbergen zu seinem Eisschloss gewagt. Versteckt hinter einem Eisbrocken hatte die verliebte Eisprinzessin stundenlang gehofft, dass der Eiskaiser heraustreten würde. Ihre Augen hefteten sich gebannt auf die in der Sonne funkelnden Kristallmuster der Tür und Stella fuhr zusammen bei jedem noch so leisen Knistern des Schnees. Die Zeit dehnte sich zu einer Ewigkeit. Aus Minuten wurden Stunden. Zutiefst enttäuscht nach diesem langen Verharren, hob sie unverrichteter Dinge gegen Mittag in Richtung Nordpol auf ihrer Eiswolke ab. Sie hatte ihr Ziel fast erreicht, als sie von weitem den Eiskaiser gefolgt von Jotunn, seinem Minister, auf seinem Fluggerät erkannte. Alles in ihr schrie danach ihm nachzufliegen. Ihr Herz pochte so heftig in ihrer Brust als wolle es zerspringen. Sie flog ihm hinterher und zögerte, überlegte wie sie sich am besten verhalten sollte. Ahnungslos kehrten ihr die beiden den Rücken zu. Harald wusste nichts von ihrer Existenz und in diesem Augenblick merkte er auch nicht, dass jemand dicht hinter ihm und Jotunn in der Luft schwebte. Stella näherte sich ihm, sein königlicher Umhang fächerte sich leuchtend auf und flatterte im Wind. Haralds Krone strahlte im Sonnenlicht wie ein riesengroßer geschliffener Diamant. Ein rauschendes Gefühl erfasste ihre Sinne. Sie war kurz davor ihn zu überholen und ihm mit der Hand zu winken. Doch plötzlich verlangsamte sie ihr Tempo. Harald und Jotunn entfernten sich indes immer schneller von ihr. Bald waren die beiden nur noch zwei auf- und abtauchende Punkte in dem Wolkenmeer, das sich endlos vor ihr erstreckte. Stellas Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. Sie ärgerte sich über sich selbst. Diese einmalige Gelegenheit Harald kennenzulernen hatte sie womöglich unwiderruflich verpasst. Aber eine gleichgültige oder gar abweisende Antwort des Eiskaisers auf ihren Annährungsversuch würde sie nicht nur verletzen, sondern völlig zugrunde richten. Also musste sie aus Selbstschutz zunächst Abstand halten und auf den perfekt passenden Moment warten.

In diesem wehmütigen Rückblick schwelgend hatte Fiona inzwischen eine erhebliche Strecke zurückgelegt. Sie sah nachdenklich in den Himmel, in dem vergeblichen Versuch Urania unter den Myriaden Gestirnen auszumachen. Auch wenn das Gelingen ihrer Mission Haralds Eiskristall an das mysteriöse Mädchen zu übergeben noch im Ungewissen lag, war im Gegensatz dazu, Stellas Wunsch auf eine Begegnung mit dem Eiskaiser vollkommen unverhofft in Erfüllung gegangen. Hatte sie es mit den Flüchtlingen mittlerweile in ihre eisige Welt geschafft? Konnte aus diesem Zusammentreffen womöglich mehr werden?


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