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Ein neues Leben

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Bevor ich zu Boden strauchelte, konnte Vitus mich halten. Gemeinsam kauerten wir auf dem mit Kiefernzapfen bedeckten Boden und starrten hinunter ins Dorf. Der Himmel war stark bewölkt und grau und erst in diesem Moment bemerkte ich die Regentropfen, die mir vom Haaransatz über das Gesicht perlten.

„Ist es Tag oder Nacht?“, fragte ich, als ich wieder ruhig atmen konnte. Die Erholung kam schneller, als bei unserem letzten Wiedergang und Vitus sah kaum erschöpft aus.

Vitus fixierte den Glockenturm und kniff die Augen zusammen. „Das Angelusläuten ist soeben verklungen.“

Angelus, der Engel des Herrn, wurde am frühen Morgen, am Mittag und am Abend geläutet. Also war die Abendzeit gerade angebrochen.

„Wie lange können wir bleiben?“, sehnsüchtig glitt mein Blick zu meinem Haus.

„Wir werden sehen. Ein paar Stunden. Wann erwartet der Räuberhauptmann dich zurück?“

Ich zuckte die Achseln. „Vor einer Stunde? Heute komme ich in jedem Fall zu spät, aber einerlei … Er ist zu sehr mit den Unruhen im Wald beschäftigt, als dass er sich mit mir befassen will.“

Ich ordnete meine Röcke und warf das nasse Haar nach hinten, bevor ich Vitus musterte. „Ich habe seit Tagen nach dir gesucht.“

„Wirklich?“ Er lächelte. „Nach der Geschichte auf der Koppel habe ich erwartet, dass du mich am liebsten mit einem Fußtritt in die Hölle befördern willst. Immerhin habe ich dich diesen Halunken überlassen, die dich zu deinem Kerkermeister zurückgebracht haben.“

„Ja.“ Ich grinste. „Veith war stinkwütend. Aber er hat eingesehen, dass es nichts bringt, mich einzusperren. Ich glaube nahezu, dass er dir die Geschichte, dass du mich aus der Hütte entführt hast, nicht abkauft. Er scheint eine Ahnung von meinen Fähigkeiten zu haben.“

„Warum lässt er dich trotzdem unbewacht?“ Vitus sah besorgt aus.

Seite an Seite liefen wir den Abhang zur Straße hinunter. Mir war kalt und ich begann zu zittern.

„Veith wurde von den Männern Simons aus dem nördlichen Territorium schwer verletzt und ich habe ihn geheilt. Diese Bandenkriege unter den verschiedenen Gebieten – von denen ich bisher nichts ahnte – nehmen momentan überhand. Veith muss nun erst einmal schlichten, bevor er sich um mich kümmert und viel lieber will er dich.“

„Das kann ich mir denken“, antwortete Vitus sorglos und kniff die Augen zusammen.

„Da kommt ein Mann den Weg hinauf mit einem vor einen Karren gespannten Esel.“

Nervös folgte ich seinem Blick. „Was machen wir nun?“

„Unsere Tarnung verbessern.“ Er warf sich einen dunklen Mantel über und zog einen breitkrempigen Hut tief in die Stirn.

Hastig beschwor ich Lenchens Äußeres herauf. Falls der Mann mich kannte, sollte ihn nicht der Schlag treffen beim Anblick einer Toten. Dazu passend ersonn ich einen abgetragenen, braunen Wollmantel.

„Vitus, dein Wams ist zu auffällig. Die Männer hier tragen braune oder dunkelblaue Kittel, etwa so …“ Ich berührte seine Brust und ließ das Kleidungsstück an ihm erscheinen.

„Du hast dich gut gemacht, Lenchen!“

Er kniff mir in die Wange. „Nur deine Nase sitzt schief und du siehst ein wenig anders aus als die Gattin des Hauptmanns.“

„Wie meinst du das?“, wunderte ich mich.

„Anscheinend hast du ein anderes Selbstbild von Lenchen als andere. Lenchen ist nicht hässlich, nur unscheinbar.“

Er korrigierte meine Tarnung und wir gingen weiter. In den Mantel gekuschelt, fror ich sogleich viel weniger.

Der Mann war ein greiser Bauer aus dem Nachbardorf, den ich vom Sehen kannte, aber sein Name war mir entfallen. Er war klein und verschrumpelt und hatte nur noch drei sichtbare Zähne in seinem Mund, aber unter der Krempe seiner Kappe musterten uns flinke, hellblaue Augen.

„Was seid ihr denn für welche?“, krächzte er. „Bei dem Sauwetter in der Gegend herumzulaufen?“

Vitus hielt dem Mann eine mit Werkzeugen gefüllte Ledertasche hin, die ich vorher noch nicht an ihm bemerkt hatte.

„Ich bin ein fahrender Messer- und Scherenschleifer und mein Weib ist eine Heilkundige. Wir sind auf der Suche nach einer Unterkunft für die Nacht.“

„Na, da kommt ihr gerade recht.“

Der Alte wendete seinen Karren auf dem glitschig werdenden Weg und Vitus half ihm dabei, indem er von hinten an den Karren fasste, der mit Kohlköpfen bedeckt war, die unter einer verschlissenen Decke hervorlukten. Wahrscheinlich hatte der Bauer sie beim dicken Heinrich gegen Käse eingetauscht.

„Unten im Dorf liegt ein Weib in den Wehen und die Hebamme ist im vorigen Herbst gestorben. Und einen Scherenschleifer kann man immer gebrauchen.“

Entsetzt starrte ich Vitus an, doch der lächelte nur unbesorgt.

„Na, da wollen wir doch mal sehen, ob wir helfen können“, meinte er fröhlich und stapfte neben dem Alten her. Ich dagegen sah mich besorgt nach dem Wald um und überlegte einen Moment, ob ich die Flucht antreten und auf eigene Gefahr durch den Dunst zurückgehen sollte. Aber ich fühlte mich noch nicht bereit dazu.

Ergeben folgte ich den beiden Männern und zunehmendes Entsetzen ergriff mich, als der Bauer direkt auf Wilms Haus zuging.

„Wer … wer erwartet denn ein Kind?“, fragte ich heiser.

„Die Frau vom Schreiner. Ist nicht mehr die Jüngste und das erste Kind. Quält sich schon seit gestern damit herum, wie die alte Hedwig sagte.“

Eilig holte ich zu Vitus auf und hielt ihn am Mantel zurück.

„Wir können da nicht hin“, flüsterte ich. „Das ist die neue Frau meines Mannes. Sie hat mich umgebracht.“

„Aber M … Lenchen. Erst behauptest du, ich hätte dich umgebracht und nun …“

„Es spielt keine Rolle“, zischte ich ihn an. „Ich hasse sie! Wenn ich sie jetzt sehe, werde ich sie umbringen.“

„Wir können niemanden umbringen“, erinnerte er mich. „Aber du kannst ihr beim Sterben zusehen. Damit hast du deine Rache.“

Sein Gesichtsausdruck war nun ernst. Ich konnte ihn nur anstarren.

Währenddessen hatte der Bauer bereits geklopft und der öffnenden Hedwig erklärt, wer seine Begleiter waren.

„Dann mal rein in die gute Stube“, forderte er uns auf und verabschiedete sich, weil er noch vor Nachteinbruch mit seinem Esel im eigenen Haus sein wollte. Vitus dankte ihm wortreich und trat über die Schwelle meines früheren Heims.

Im Wohnraum hatte sich nicht viel geändert. Der Boden war gut gekehrt und im Kessel brodelte eine Suppe über kleiner Flamme. Der Abendbrottisch war gedeckt, doch niemand saß daran. Hedwig hantierte mit einigen Töpfen und Schüsseln.

„Guten Abend, werte Frau“, begrüßte Vitus Hedwig und verbeugte sich tief. Die Alte drehte sich um und schien für einen Moment zu erschauern. An der Wand über dem Küchentisch hing ein Portrait von mir, das ein Maler in der Stadt kurz nach meiner Hochzeit mit Wilm angefertigt hatte und ich fürchtete für einen Moment, dass sie mich erkannt hätte, doch rechtzeitig erinnerte ich mich meiner Tarnung.

„Entschuldigt“, fing sie sich sogleich. „Wir sind hier Fremde nicht gewohnt. Schon gar nicht welche, die so vornehm sprechen wir Ihr. Bitte, legt die Mäntel ab und wärmt Euch am Feuer.“

„Sehr gern. Zum Dank will ich deine Scheren und Messer schleifen und mein Weib wird nach Eurer Wöchnerin sehen.“

Vitus schenkte Hedwig ein herzliches Lächeln und drückte das Wasser aus seiner roten Mähne.

„Wenn sie doch nur eine Wöchnerin wäre! Das Kind will und will nicht kommen. Die erste Schreinerin ist auch schon im Wochenbett verstorben und der Schreiner ist dem Wahnsinn nahe“, jammerte Hedwig nun auf eine Art, die ich so ganz und gar nicht von ihr kannte.

Da ich mich noch immer keinen Schritt bewegt hatte, nahm Vitus mir den Mantel ab und schob mich zur Tür der Schlafkammer.

„Das kann doch nicht dein Ernst sein“, knurrte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Augen in der Farbe gefrorenen Steinkrauts starrten mich an.

„Es ist deine große Chance.“

Auf einmal stand ich mitten in dem Raum, in dem ich den Tod gefunden hatte. Es war, als sei ich durch die Zeit zurückgeworfen worden, als ich mich selbst am Boden verbluten sah. Doch ich bemerkte die Unterschiede. Die Möbel waren anders und auf dem Bett lag sich windend und schweißgebadet eine große Frau mit offenem, schwarzem Haar, durch das sich schon vereinzelte, graue Strähnen zogen. An ihrer Seite kauerte ein riesiger Mann, dessen Gesicht grau vor Anspannung war und der die rechte Hand der Frau umklammerte, und die ganze Zeit vor sich hin brabbelte. Erst nach ein paar Sekunden konnte ich ihn verstehen:

„Das ist alles meine Schuld. Alles meine Schuld.“

Eine Bewegung zu meiner Linken ließ mich aufmerken. Ein knapp achtjähriges Mädchen mit riesigen, entsetzt blickenden, blauen Augen drückte sich an den Kleiderschrank.

Mein erster Impuls war, mich darüber aufzuregen, dass meine Theresia diese Tragödie mit ansehen musste und sie hinauszuschicken. Doch ich brachte keinen Ton hervor. Hölzernen Schrittes trat ich auf das Bett zu und fixierte die Kreißende. Annamaria. Sie hatte der Hebamme befohlen, mich aufzuschneiden. Sie war für meinen Tod verantwortlich. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Gleiches mit Gleichem vergelten, schoss es mir durch den Kopf. Doch neben meinem verzehrenden Hass auf sie, gewahrte ich auch Wilms Verzweiflung und Theresias Angst. Hedwig hatte recht: Wilm würde dem Wahnsinn verfallen, wenn Annamaria bei der Geburt starb. Er glaubte, ein riesiger Mann wie er zeuge riesenhafte Kinder, die den Körper eines Weibes sprengten. Theresia durfte kein zweites Mal die Mutter verlieren.

„Das Kind ist nicht zu groß“, hörte ich mich mit fremder Stimme sagen. „Sein Köpfchen liegt nur ein wenig falsch.“

Das stimmte. Ich konnte durch Annamarias Körper hindurchsehen und sah das Ungeborene in ihr, dessen Köpfchen bei jeder Wehe gegen den Beckenknochen stieß, anstelle den Weg in den Geburtskanal zu finden.

Eine Hebamme hätte nun in die Frau hineingegriffen und das Köpfchen ein wenig gedreht, aber ich brauchte der Gebärenden nicht noch mehr Schmerz bereiten. Ich konzentrierte mich auf das Kind und schob es in Gedanken in die richtige Position. Mit der nächsten Wehe rutschte es ein gutes Stück tiefer.

„Es wird jetzt kommen“, prophezeite ich schließlich, immer noch gut zwei Schritt vom Bett des Schreinerpaares entfernt. Stocksteif stand ich da in meinem feuchten, braunen Kleid, mit dem schlecht sitzenden Mieder und das kurze, dunkle Haar hing mir in die Augen. Ich sah nur Wilms und Annamarias ineinander verwobene Finger und spürte die Nähe, die zwischen ihnen herrschte. War es so auch bei ihm und mir gewesen?

„Komm her, Theresia“, befahl ich dem Mädchen.

„Nimm das Leinentuch und halte es unter das Gesäß der Schreinerin. Schnell!“




Erst später wurde mir klar, dass ich das Mädchen bei seinem Namen gerufen hatte, den ich gar nicht wissen konnte, doch in der Aufregung fiel es weder Annamaria noch Wilm auf.

Eine weitere, von Klageschreien begleitete Wehe folgte und nun schob sich das arg verformte Köpfchen des Kindes zwischen den Beinen Annamarias hindurch. Mein Instinkt sagte mir, dass sich diese Verformungen schon nach wenigen Tagen zurückbilden würden. Zwei Wehen später lag ein gesundes, laut krähendes Mädchen auf dem weißen Tuch in den Händen Theresias. Meine Tochter starrte vollkommen fassungslos auf das schreiende Bündel und ich sah, wie sich ihre Züge entspannten und pure, unverfälschte Liebe für die kleine Schwester in ihren Blick trat. Am liebsten hätte ich mein Mädchen in die Arme genommen und gedrückt. Doch zu groß war die Angst, dass ich sie verfluchen könnte mit meinen verdammten Händen. Schnellen Schrittes verließ ich rückwärts den Raum.




Am Tisch sitzend blickte Vitus von seinen Scheren auf und mir ins Gesicht.

„Ist es vorbei?“, fragte er ruhig.

„Wir … wir müssen gehen, schnell.“

Ich griff nach meinem Mantel, doch im folgenden Moment wurde ich herumgewirbelt und gegen eine mächtige, breite Brust gedrückt.

„Ich danke Euch, ich danke Euch!“ Wilm hatte das Gesicht an meiner Schulter vergraben und schluchzte in meinen Kragen. Ich schloss die Augen und sog seinen herrlichen, holzigen Geruch in mich ein, genoss seine Kraft und Wärme. Mein Wilm! Ich lag in den Armen meines Wilms! Ich erstarrte und stieß ihn von mir.

„Er … Er darf mich nicht berühren“, keuchte ich und machte ein paar Schritte rückwärts auf Vitus zu, der sich gerade wieder ankleidete.

Wilm bemerkte mein Entsetzen in seiner Euphorie nicht einmal.

„Es war wie Zauberei“, rief er an meinen Begleiter gewandt aus. „In einem Moment dachte ich noch, meine Gattin habe nicht mal mehr die Kraft für die nächste Wehe und plötzlich war Euer Weib da und alles wurde gut.“

Er strahlte vor Glück. „Wie kann ich Euch nur danken?“

„Wir wurden bereits reichlich belohnt“, versicherte Vitus zweideutig und ergriff meine Hand. „Nun müssen wir weiter. Wir wollen noch bis zum Morgengrauen in Domstadt sein.“

Wilm nickte nur und wir beide hatten uns schon davongemacht, bevor er oder Hedwig uns aufhalten konnten.



Mein Einsatz bei der Geburtshilfe hatte mich einen guten Teil meiner Energie gekostet, doch Vitus war noch immer stark und katapultierte uns zurück zum Waldrand. Die Turmuhr schlug. Es waren kaum zwei Stunden seit unserer Ankunft vergangen. Der Regen hatte aufgehört, doch nun liefen die Tränen in Sturzbächen meine Wangen hinunter.

„Ist es das, was du gewollt hast?“, schluchzte ich.

„Was hast du denn jetzt wieder?“, regte Vitus sich auf. „Du hast entschieden, deine Rivalin zu retten, nicht ich.“

„Darum geht es nicht. Ich habe Wilm verflucht. Er wird sterben.“

Vor dem Nebel brach ich zusammen und schluchzte bitterlich. Es war mir egal, dass ich mich nicht an Annamaria gerächt hatte. Meine kleine Theresia und Wilm waren glücklich. Ein unschuldiges Kind gerettet. Die Konfrontation mit meiner Familie allerdings hatte mich vollkommen erschüttert. Ihnen so nah zu sein, aber sie nicht berühren zu dürfen, sie wie Fremde vor mir zu sehen und eine Fremde für sie zu sein, das war eine Qual. Ich hatte funktioniert wie ein aufgezogenes Getriebe, doch nun brach alles über mir zusammen. Wilm zu fühlen, zu riechen und ja, die raue Haut seines Bartansatzes zu schmecken, würde im Gegenzug sein Leben kosten.

Vitus beugte sich über mich und umfasste meine Schultern.

„Ruhig, Magda, ruhig. – Ich versichere dir, er wird nicht sterben durch deine Hand.“

„Lass mich los.“

Ich wand mich unter seinen Armen durch. „Du bist ein Teufel! Ein Dämon! Es macht dir Spaß, mich zu quälen!“

Wütend gab ich ihm einen Stoß gegen die Brust, der ihn einen Schritt nach hinten stolpern ließ.

Auf Vitus‘ Engelsgesicht lag ein Lachen.

„Du hast gewusst, dass sie ein Kind bekommt. Du wolltest es mir zeigen! Wolltest mir zeigen, dass sie ohne mich glücklich sind, glücklicher als zu meinen Lebzeiten. Gut, dass sie mich los sind.“

Ich schluchzte heftig und lief in den Nebel. Weit kam ich nicht, bevor ich Vitus‘ Anwesenheit spürte. Er berührte mich nicht, aber er wob sein leitendes Band und achtete schweigend darauf, dass ich in meiner Raserei den Weg nicht verlor. Auf der anderen Seite ließ ich mich mit dem Gesicht voraus auf den Boden fallen und weinte in die aufgeweichte Erde. Auch im Ikenwald hatte es geregnet.

„Ich will dich nie mehr wiedersehen“, heulte ich, ohne aufzusehen.

„Doch, das willst du. Bald“, flüsterte Vitus und verschwand und ich wusste, er hatte recht.




Dreckig und nass kam ich in der Hütte des Räuberhauptmanns an. Am Tisch saßen die Männer und löffelten irgendeinen Brei in sich hinein.

„Wunderbares Essen, Lenchen“, rief Eber mir zu und schaufelte mehrere Kellen vom Topf in seine Schale. Ich nickte nur und machte mir keine Gedanken darüber, wer gekocht und das Essen als meines ausgegeben hatte.

Veith betrat gerade von der Latrine aus den Raum und musterte mich schweigend.

„Ich musste mich vor Ansphals Männern verstecken“, log ich, um meinen bemitleidenswerten Zustand zu erklären. Die lärmenden Räuber waren mir am heutigen Abend vollkommen zuwider und so suchte ich ebenfalls die Latrine auf und verschloss den Riegel hinter mir.

‚Nicht zu denken, ist unmöglich. Nicht zu denken, ist unmöglich. Nicht zu denken …‘, sagte ich mir immer und immer wieder, um meine Erinnerungen an die vergangenen Stunden zu verdrängen. In der Latrine stank es nach Pisse und Kot in einem Maße, dass Veith und ich nicht dafür verantwortlich sein konnten. Wahrscheinlich waren alle Räuber nacheinander hier gewesen. Das wunderte mich, weil ich angenommen hatte, sie würden sich im Wald erleichtern. Säure stieg in meiner Speiseröhre hoch und bevor ich auf den Boden kotzen musste, beschloss ich, etwas gegen den Gestank zu tun. Meine ausgestreckten Hände wiesen auf die Grube.

„Weg damit“, flüsterte ich inbrünstig und einen Augenblick später flog ich von der Kraft einer heftigen Druckwelle gepackt durch die Luft, schleuderte durch die Latrinentür, die aus den Angeln gerissen wurde, und prallte in der Mitte des Wohnraums auf dem Boden auf.

Eber fiel vor Schreck der Brei aus dem offenstehenden Mund und ein anderer Mann stolperte rückwärts über die Bank und landete auf dem Hosenboden.

„Alle raus hier!“, brüllte Veith unverzüglich und außer Helge zögerte keiner. Bevor ich mich aufrappeln konnte, war der Raum leer.

„Hab‘ ja schon von gefährlichen Gasen in der Kacke gehört“, Helge sah sich die Bescherung im Nebenraum an und kratzte sich am Kopf, „aber so was …“

„Raus hier!“, brüllte Veith erneut und sein Gesicht war dunkelrot angelaufen und die Adern an seinem Hals standen wie Seilstränge hervor.

Wenig beeindruckt zuckte Helge mit den Schultern und schlenderte aus der Hütte.




Wir waren allein und es kam mir so vor, als habe ich dieses Schauspiel schon hundert Mal erlebt. Veith würde mir wieder einmal eine Standpauke halten. Vor mehr als einem Dutzend seiner Männer hatte ich die Latrine in die Luft fliegen lassen und das rieb er mir nun auch lautstark unter die Nase.

„… manche von denen sind gar nicht so doof! ... zusammenreimen … die Explosion in der Hütte … hast du etwa gedacht …?“

Ich konnte nur auf seine schlammverkrusteten Stiefel starren, während er vor mir auf- und ablief. Sie glänzten nicht. War das nicht immer Veiths erste Handlung, wenn er die Hütte betrat? Er zog seine Stiefel von den Füßen und wenn wir Zuschauer hatten, putzte er sie akribisch, während er seine Befehle in alle Richtungen bellte. War niemand da, fuhr er mit der Hand über das Leder und es glänzte wie frisch gegerbt und gefettet. Aber nun waren sie schmutzig, richtiggehend dreckig, als sei er durch die nassen Pfützen am Waldweg gelaufen und habe nicht die Zeit gehabt, sich zu reinigen.

„Das hast du doch nicht wirklich gedacht?“ Veith sah mir mitten ins Gesicht.

Verwirrt bohrte ich den Zeigefinger in mein rechtes Ohr. Alles hörte sich so dumpf an, ich konnte die Tirade kaum verstehen.

„Verdammt, hörst du mich nicht?“

Er zog mich an den Oberarmen auf die Füße. „Du hörst mich ja wirklich nicht“, verwundert legte er die Handflächen auf meine Ohrmuscheln und ich spürte, wie seine wärmende, heilende Energie in mich drang. Das Gefühl war so wohltuend, dass ich meine Wange an seinen Daumen schmiegte.

Veith hatte sich beruhigt. Mit geschlossenen Augen lauschte ich auf seine tiefe Stimme, die noch immer dumpf klang. Endlich konnte ich mich auf sie konzentrieren und ich dachte, wie schön und klangvoll sie war.

„Magda, du musst vorsichtig sein. Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass ich dir diese dumme Entführungsgeschichte abkaufe …“

Ich schlug die Augen auf und starrte auf seine Lippen. Was sagte er da?

„Du hast die Hütte zerstört bei dem Versuch, hinauszukommen und das eben warst unzweifelhaft du, Gott weiß, warum …“

„Es hat so gestunken. Ich wollte nur, dass der Gestank weg ist“, murmelte ich kleinlaut.

„Ach Magda“, stöhnte er und entzog mir seine schönen Hände. Die Kälte kehrte zurück und ich fühlte mich wieder schlecht und allein. Wilm liebte Annamaria und Theresia ebenso und niemand liebte mich. Agatha war eine Mörderin. Vitus spielte nur mit mir. Ich war ganz allein. Mein Kleid war nass und bedeckt mit braunen Flecken, über deren Herkunft ich nicht nachdenken wollte. Wütend riss ich es herunter, das unangenehme Knirschen des reißenden Stoffes nicht beachtend.

Veith starrte mich wortlos an. Wahrscheinlich dachte er, ich würde nun auch das letzte bisschen Verstand verlieren und vielleicht war dem auch so.

Mit einem Tritt beförderte ich das Kleid in die Zimmerecke und hielt Veith meine Hand vor die Nase:

„Sieh, das Mal ist fast weg.“

Geräuschvoll stieß er die Luft aus.

„Kümmer‘ dich darum!“

Ich warf mein Haar über die Schultern und schob provozierend das Kinn vor. Nach langen Sekunden der Stille griff Veith fluchend nach meiner Hand und zog mich zu seinem Bett.




Der Wilde Jäger

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